Süddeutsche Zeitung

Klang-Ökologie:Großer Lauschangriff im Wald

Fiepen, Plätschern, Summen, Krächzen: Der Klang der Natur ist eine Schatzgrube für "Bio-Akustiker". Die Forscher verwanzen die Natur - um sie besser zu verstehen.

Von Hubertus Breuer

Wie stumme Wächter stehen die Metallstangen mit Richtmikrofonen nahe dem Ufer des Kummerower Sees in Mecklenburg-Vorpommern. Sie lauschen dem Wind, der durch das Schilf raschelt, dem trommelnden Regen, einem gelegentlich vorüberziehenden Flugzeug und zur Brutzeit dem auf- und abschwellenden Konzert von Schwirlen, Bart- und Beutelmeisen, Rohrsängern, Flussseeschwalben. Nachts schweigen die Tiere dann, erwartet man, doch das tun sie nicht: Durch die Landschaft klingen die Rufe der Rohrdommeln wie dumpfe Herzschläge, Wasserrallen tickern und quieken, Frösche quaken.

Echt romantisch. Aber der Bioakustiker Karl-Heinz Frommolt, der das Tierstimmenarchiv im Berliner Museum für Naturkunde betreut, hat keine Zeit Hunderte Stunden von Naturklängen abzuhören, die er mit seiner Arbeitsgruppe seit fünf Jahren auf den Renaturierungsflächen des Moores gesammelt hat. Vielmehr lässt er die Audiodateien von Algorithmen durchkämmen, um akustische Spitzen anzusteuern, die einen Vogelruf verraten. So kann er gezielt etwa die Zahl der nachtaktiven Rohrdommeln ermitteln, ihre räumliche Verteilung abschätzen und dokumentieren, wie neue Arten das einst landwirtschaftlich genutzte, jetzt naturgeschützte Gebiet für sich erobern: "Erstaunlich schnell", wie er sagt. "Wir konnten sogar Nachweise für seltene Arten wie Sumpfohreule oder Zwergsumpfhuhn erbringen."

Forscher versuchen, die Vielfalt der Tierwelt erhorchen

Die Geräuschkulisse der Natur ist eine unschätzbare Informationsquelle für Ökologen. Doch erst in den letzten Jahren, seitdem Aufnahmegeräte günstiger und Computerprogramme zur Datenanalyse ausgefeilter geworden sind, wagen Wissenschaftler weltweit den großen Lauschangriff auf die Umwelt. Soundscape Ecology nennt sich das aufblühende Forschungsgebiet auf Englisch, "Ökologie der Klanglandschaft". Die Forscher nehmen nicht nur einzelne Tierstimmen auf, sondern dokumentieren komplette Klangtableaus: vom Fiepen, Krächzen und Summen der Fauna über plätschernde Bäche bis hin zum Autobahnrauschen. Das erlaubt ihnen nicht nur, versteckte Arten zu entdecken, sie lernen außerdem, wie groß die Vielfalt der hörbaren Tiere ist, wie sich ihre Stimmen dem Wetter oder dem nahezu überall lärmenden Menschen anpassen - und vor allem, wie sich der Klang der Ökosysteme über längere Zeiträume hin verändert.

Die Bedeutung der gesamten Geräuschwelt für die Wissenschaft entdeckte der frühere Musiker Bernie Krause aus Kalifornien, dessen Buch "Das große Orchester der Tiere" vergangenen Herbst auf Deutsch erschienen ist (Kunstmann, 272 Seiten; SZ vom 8.10. 2013). Sein Erweckungserlebnis hatte er im Naturschutzgebiet Masai Mara in Kenia Anfang der 1980er Jahre. Als er dort seine Mikrofone installierte und Kopfhörer aufsetzte, hörte er "keine Kakofonie, sondern ein durchstrukturiertes Zusammenspiel aller stimmfähigen Organismen (. . .) Jede einzelne Stimme schien mit ihrer akustischen Bandbreite ihren Platz zu haben."

Das überzeugte Krause von der heute allgemein akzeptierten Idee, dass akustische Räume natürliche Ressourcen sind, um die eine Vielzahl von Tieren konkurriert - mit der Folge, dass sie bestimmte Schallfrequenzen besetzen oder nur zu festen Tageszeiten rufen. Ein gesundes, über lange Zeit gewachsenes Ökosystem zeichnet sich in Krauses Augen deshalb dadurch aus, dass die Tierstimmen sich das hörbare Spektrum untereinander aufteilen, so dass es kaum zu Frequenz- oder Zeitüberlappungen kommt.

Mit spezieller Analyse-Software können Ökologen auch den Artenreichtum eines Naturfleckens einschätzen. Dabei kann das Ergebnis freilich ernüchternd sein: Zeigt sich im Spektrogramm ein großes Frequenzloch, weist das bisweilen auf eine verschwundene Art hin, wohingegen starke Überschneidungen mitunter auf invasive Arten deuten.

Aufgrund dieser Spektrogramme haben Klanglandschaftsökologen in den vergangenen Jahren Algorithmen entwickelt, die es ihnen erlauben, die tausende Stunden langen Aufnahmen einzudampfen - und zwar auf eine Ziffer, den sogenannten Index. Dieser verrät ihnen, wie groß die Artenvielfalt in einem Gebiet ist. Damit folgen sie der Angewohnheit der Ökologie, ihr Studienobjekt möglichst weit zu quantifizieren - andere Indizes betrachten beispielsweise die Anzahl der natürlichen Prozesse in einem Ökosystem oder die genetische Vielfalt.

Es gibt verschiedene Wege, wie man den Klangteppich der Natur auf eine Kennzahl bringen kann. Jérôme Sueur zum Beispiel, Ökologe am Nationalen Naturgeschichtemuseum in Paris, nutzt bereits seit 2007 den "akustischen Entropieindex" zur Erfassung der Artenvielfalt. Diese Methode geht von Krauses Annahme aus, dass Artengemeinschaften in ungestörten Ökosystemen nicht nur vielfältig, sondern auch strukturiert sind. Sein Kollege wiederum, der Biomathematiker Almo Farina von der italienischen Universität Urbino, hat hingegen einen "akustischen Komplexitätsindex" entwickelt, der besonders gut zwischen Tierstimmen und vom Menschen verursachten Geräuschen unterscheiden soll. Es gibt eine Handvoll weiterer akustischer Indizes, die verschiedene Aspekte von Ökosystemen erfassen oder auf bestimmte Habitate - etwa einen tropischen Dschungel oder temperierte Wälder - zugeschnitten sind.

Doch die Wissenschaftler wissen, dass die Klanglandschafts-Indizes für sich genommen bei weitem noch nicht perfekt sind. "Ich halte ihre Aussagekraft allein für sehr beschränkt", sagt etwa Frommolt. "Wenn eine solche Zahl nahelegt, dass in einem Naturschutzgebiet Arten verschwunden sind, verrät uns das nicht, welche Spezies das sind." Das erkennt der Ökologe Bryan Pijanowski von der Purdue University im US-Bundesstaat Indiana durchaus an: "Wir stehen an den Anfängen dieser Forschung. Im Augenblick lernen wir immerhin, welche Analysen für diverse ökologische Fragestellungen am geeignetsten sind."

300 Wiesen werden verwanzt

Am fruchtbarsten ist die Soundscape-Analyse bislang in jenen Fällen, wo Wissenschaftler bereits viel über das Ökosystem wissen. So hilft es Frommolt, die Klangwelt des Kummerower See mit seinem Tierstimmenarchiv abzugleichen und zu wissen, in welchem Maße die angrenzenden Wiesen bereits wieder vermoort sind. Auch Pijanowski profitierte bei einer Studie im nördlichen Costa Rica von seiner guten Kenntnis der Vegetationsstruktur des dortigen Dschungels. So konnte er feststellen, dass die Artendichte in jenen Arealen am reichsten war, wo es im Blätterdach der hohen Baumkronen Lücken gab, die das Tageslicht auf dicht stehende Pflanzen in Bodennähe fallen ließen. So gibt die Flora Forschern Hinweise auf die wahrscheinliche Klanglandschaft - und umgekehrt. "Auch die Geländeform, die Gewässer oder vom Menschen verursachter Lärm wirken sich messbar auf den Tierchor aus", so Pijanowski.

Um das Tierorchester in ein stimmiges Bild eines Ökosystems einzufügen, ist es deshalb wichtig, möglichst viel über einen Ort zu wissen. Das nutzen jetzt die Ökologen Michael Scherer-Lorenzen und Sandra Müller vom Lehrstuhl für Geobotanik an der Universität Freiburg in Europas größtem Soundscape-Projekt. Zu Beginn des Sommers werden sie auf 300 Wiesen- und Waldflächen in ganz Deutschland Mikrofone installieren, die ein Jahr lang alle zehn Minuten eine Minute des Klangteppichs aufnehmen - rund 260 000 Stunden insgesamt.

Die Zahl der Horchposten ist aber nicht willkürlich gewählt - sie baut auf existierenden Biodiversitäts-Exploratorien in Deutschland auf. Das sind von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Langzeitstudienflächen, von denen man weiß, welche Arten dort vorkommen, wie der Mensch diese Gebiete nutzt oder welchen mikroklimatischen Bedingungen sie ausgesetzt sind. "Es ist bekannt, dass die Intensität der Landnutzung, also etwa Düngung oder Wiesenmahd, die Zusammensetzung der Artengemeinschaft beeinflusst", sagt Müller. "Wenn sich dieses Beziehungsgeflecht zwischen Vegetationsstruktur, Landnutzung und Tierartenvielfalt auch in der Soundscape spiegelt, können wir diese Methode in Zukunft nutzen, um den Zustand eines Ökosystems zu beurteilen."

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Quelle:
SZ vom 22.05.2014/chrb
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