Kirchengeschichte:In der Hölle des Frommen

Fumone in Italien

Die Burg Fumone in Italien - an einem weniger düsteren Tag.

(Foto: oh)

Vor einem Jahr hat Benedikt XVI. abgedankt. Erst ein Papst hatte das vor ihm getan: Coelestin V. im Jahre 1294. Doch er erlitt ein schlimmes Schicksal. Ein Besuch auf der Burg Fumone, in der er als Gefangener einen elenden Tod starb.

Von Stefan Ulrich

Es sei "nicht leicht, anderswo einen so traurigen Verbannungsort zu finden", schrieb der Historiker und Deutschrömer Ferdinand Gregorovius im 19. Jahrhundert über das Burgdorf Fumone. Einem "finsteren Räubernest" gleich erhebe sich das Kastell drohend über der Straße. Wer sich heute an einem Wintertag den Festungsmauern des Städtchens nähert und zwischen Türmen und Palazzi hinauf zur Burg steigt, kann noch immer die unheimliche Stimmung spüren, die Gregorovius an diesem ehemaligen Kerkerort der Päpste empfand.

Drinnen, im tausend Jahre alten Kastell, steht ein Brunnen, in den die Burgherren junge Frauen zu werfen pflegten, die sich - dem angeblichen jus primae noctis zum Trotz - nicht mehr als jungfräulich erwiesen. In einem Glas-Sarg liegt, wie eine Puppe gekleidet, die Leiche eines kleinen Marchese, der im Alter von fünf Jahren von seinen sieben eifersüchtigen Schwestern mit Arsen vergiftet worden sein soll. Und irgendwo in diesen kalten Wänden ist der Legende nach Gregor VIII. eingemauert, ein Gegenpapst, der hier im Mittelalter in Kerkerhaft starb.

Bedeutend ist Fumone jedoch vor allem als Gefängnis eines anderen Pontifex, Coelestin V., einer der unwahrscheinlichsten Gestalten der Papstgeschichte. Der "Engelspapst", wie er von Zeitgenossen genannt wurde, hatte im Dezember 1294 eine ungeheuerliche Tat begangen, welche die Kirche erschütterte: Er dankte ab. Bald darauf wurde der fromme Greis von seinem machtbewussten Nachfolger Bonifaz VIII. in Fumone eingekerkert. Der winzige, düstere Winkel zwischen einem Turm und einer Mauer, in der Coelestin in Kälte und Dunkelheit darbte, ist noch heute zu sehen. An diesem beklemmenden Ort harrte der weit über 80 Jahre alte Ex-Papst viele Monate lang im Gebet aus, bis er schließlich am 19. Mai 1296 starb.

Sehnsucht nach Ruhe im Gebet

Coelestin war bis in jüngste Zeit der einzige Pontifex der Kirchengeschichte, der aus freiem Willen das Papstamt niederlegte, das ihm doch, katholischer Lehre zufolge, zum Stellvertreter Christi auf Erden machte. Vor einem Jahr dann, am 11. Februar 2013, tat es ihm Benedikt XVI. nach. Der große Verzicht verbindet die beiden Kirchenführer über die Jahrhunderte hinweg in besonderer Weise. Beide litten an der Last ihres Amtes im hohen Alter und fühlten sich offensichtlich damit überfordert, die Kirche mit starker Hand in schwierigen Zeiten zu lenken. Beide sehnten sich nach Ruhe im Gebet. Beide beriefen daher ihre Kardinäle ein und legten mit ähnlichen Worten ihr Amt nieder.

"Aus der Schwäche meines Körpers und der Unfähigkeit zum Lehramt, überhaupt wegen der Schwäche meiner gesamten Person, verzichte ich ausdrücklich auf den Thron, die Würde, das Amt und die Ehre des Papstes", gab Coelestin bekannt. "Ich bin zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben", verkündete Benedikt.

So ähnlich ihre Abdankung war, so unterschiedlich verlief das weitere Schicksal der beiden Kirchenfürsten. Auf Coelestin warteten Flucht und Kerkerhaft, während Benedikt als verehrter "papa emeritus" in ein beschauliches Kloster inmitten der Vatikanischen Gärten zog.

Denkt Benedikt bei seinen Spaziergängen dort manchmal an das Schicksal des Engelspapstes? Wurde er von Coelestin gar zu seinem eigenen Verzicht animiert? Sicher ist, dass Papst Benedikt, als er noch im Amt war, seinem Vorgänger eine Aufmerksamkeit schenkte, die aus heutiger Sicht wie ein Vorzeichen wirkt.

Was hatte diese Geste zu bedeuten?

Im April 2009 bebte in Mittelitalien die Erde. Besonders getroffen wurden die Abruzzen, deren Hauptstadt L' Aquila in Schutt versank. Auch die romanische Basilika Santa Maria di Collemaggio, in der Coelestin V., der Schutzpatron der Stadt, begraben lag, stürzte teilweise ein. Wundersamerweise fanden die Rettungskräfte den gläsernen Schrein mit dem Leichnam des Papstes unversehrt in den Trümmern. Kurz nach dem Erdbeben, am 28. April 2009, besuchte Benedikt L' Aquila. In der schwer beschädigten Basilika nahm er sein Pallium, eine weiße Wollstola, die er zum Amtsantritt erhalten hatte, und legte sie auf den Schrein Coelestins.

Wer damals dabei war, der fragte sich, was diese Geste zu bedeuten hatte. Offensichtlich kannte der Papst aus Deutschland die Geschichte seines mittelalterlichen Vorgängers genau. Und augenscheinlich fühlte sich der hoch intellektuelle Benedikt dem schlicht-frommen Coelestin sehr verbunden.

Pietro Angelerio kam um das Jahr 1210 herum als eines von zwölf Kindern einer armen Bauernfamilie am Rande der Abruzzen zur Welt. Er wuchs ohne Schulbildung auf und trat bereits als Junge in ein Benediktinerkloster ein. Bald fühlte er sich vom Eremitentum angezogen. Er lebte als Asket in den Felshöhlen eines Kalkmassivs namens Monte Morrone über der Abruzzenstadt Sulmona und nannte sich fortan Pietro di Morrone.

Rekord in der Kirchengeschichte

Obgleich er sich immer weiter in die Berge zurückzog, verbreitete sich sein Ruf als heiliger Mann, dem Wunder nachgesagt wurden. Franz von Assisi war noch nicht lange tot, und seine Lehre eines einfachen, gottgefälligen, von Christus inspirierten Lebens als Büßer fernab von Papstprunk und Kardinalspalästen wirkte mächtig fort. Die dünn besiedelten, waldreichen Abruzzen mit ihren vielen Höhlen zogen allerlei fromme Männer an. So bildete sich eine Gruppe von Gleichgesinnten um Pietro di Morrone. Dieser gründete unter dem Dach der Benediktiner eine eigene Gemeinschaft, die viele Jahrhunderte lang als Cölestiner-Orden weiterleben sollte.

Im Winter 1273/1274 lief Pietro zu Fuß bis nach Lyon in Frankreich, um seinen Orden bei einem Konzil bestätigen zu lassen. Auf dem Rückweg übernachtete er auf dem Hügel Collemaggio vor der Stadt Aquila. Im Traum soll ihm Maria geboten haben, die Kirche Santa Maria di Collemaggio zu bauen.

An der Kurie in Rom wirkten zu jener Zeit weniger fromme Männer. Mächtige Adelsfamilien zankten sich um den Petrusstuhl. Kreuzzüge ins Heilige Land bewegten die Kirche. Nach dem Tod Papst Nikolaus IV. konnten sich die damals nur zwölf Kardinäle des Konklave partout nicht auf einen Nachfolger einigen. Die Familien der Colonna und der Orsini blockierten sich gegenseitig. Das Konklave floh vor der Pest von Rom nach Perugia, doch auch dort konnte es sich nicht entscheiden. Mehr als zwei Jahre lang war der Heilige Stuhl nun vakant - Rekord in der Kirchengeschichte.

Das Volk murrte, der neapolitanische König Karl II. von Anjou drängte, und der inzwischen hochbetagte Pietro prophezeite vom Berg Morrone herab schweres Unheil, wenn nicht bald ein neuer Papst gewählt würde. Dies hätte Pietro wohl besser bleiben lassen. Denn so brachte er die Kardinäle auf eine Idee. Stand der Eremit aus den Abruzzen nicht im Ruf der Heiligkeit? Und würde sich der einfache, in weltlichen Dingen unerfahrene Mann als Papst nicht prima lenken und manipulieren lassen? Kurzum: Am 5. Juli 1294 wählte das Konklave Pietro di Morrone einstimmig zum neuen Papst.

Eine Abordnung, der sich König Karl II. von Anjou und dessen Sohn anschlossen, wurde auf den Berg Morrone geschickt. Als der Einsiedler, gekleidet in eine Kutte aus Pferdehaar und umgeben von einem eisernen Gürtel, der sein Fleisch malträtierte, von seiner Wahl erfuhr, soll er die Flucht in die Wildnis versucht haben. Anderen Quellen zufolge kniete er vor den Emissären nieder und rief: "Ich schaffe es nicht, mich selbst zu retten. Wie soll ich da die ganze Welt retten."

"Ich bin höchst einfältigen Geistes und kenne die Welt nicht"

Schon darin zeigt sich eine Parallele zum Schicksal Joseph Ratzingers, der seine Wahl zum Papst mit einem Fallbeil verglich und im Konklave zu Gott gebetet hatte: "Bitte tu' mir das nicht an."

Die wundersame Berufung Pietro di Morrones inspirierte später die Dichter. So lässt Ignazio Silone in seinem Theater-stück "Abenteuer eines armen Christen" den Eremiten klagen: "Ich bin doch nur irgendein armer Christ, wie kann ich mich erdreisten, der Statthalter unseres Herrn unter den Menschen zu werden?" In Reinhold Schneiders Drama "Der große Verzicht" stöhnt der fromme Einsiedler: "Ich verstehe kein Latein außer den Gebeten der heiligen Messe. Ich bin höchst einfältigen Geistes und kenne die Welt nicht."

Tatsächlich beugte sich Pietro di Morrone der Wahl des Konklave, in der er gewiss den Willen des Heiligen Geistes zu erkennen glaubte. Zum Zeichen der Demut ritt er auf einem Esel in L' Aquila ein und ließ sich in seiner Kirche Santa Maria di Collemaggio zum Papst krönen. Die Menge jubelte dem Greis auf dem Esel zu. Viele glaubten, dies sei der prophezeite Engelspapst und mit ihm breche nun ein Zeitalter des Heiligen Geistes an.

"Wenn du nicht abdankst, kommst du in die Hölle"

Stattdessen begann der Leidensweg Coelestins. Aus seiner Höhle gerissen, fiel er unter zwei Wölfe: Karl II. von Anjou und Kardinal Benedetto Caetani. Der König brachte den neuen Papst dazu, nicht in Rom, sondern unter seiner Kontrolle in Neapel zu residieren. Dort erwies sich Coelestin, wie er selbst vorausgesagt hatte, als unfähig, die Kurie zu führen sowie die politischen, finanziellen und militärischen Entscheidungen zu fällen, die damals von einem Papst verlangt wurden. Chaos und Korruption nahmen überhand. Der Pontifex soll sogar in seiner Gutmütigkeit manche Ämter mehrfach vergeben haben. Rasch begann er, nach Auswegen zu suchen. Der Überlieferung nach half sein wichtigster Berater, Kardinal Caetani, nach. Er flüsterte dem schlafenden Papst Nacht für Nacht ins Ohr: "Pietro di Morrone, wenn du nicht abdankst, kommst du in die Hölle."

Es war nicht schwer, Coelestin zum Verzicht zu bewegen. Kardinal Caetani selbst verfasste die Abdankungsurkunde. Am 13. Dezember 1294 legte Coelestin vor den Kardinälen in Neapel sein Amt nieder. Er zog die prächtigen Papstgewänder aus und schlüpfte wieder in seine raue Mönchskutte. Fortan wollte er wieder in seinen Bergen leben. Doch das Schicksal, oder besser sein Nachfolger, bestimmte es anders.

Nach einem diesmal kurzen Konklave wurde Kardinal Caetani zum Papst gewählt. Als Bonifaz VIII. trat er sein Amt an. Da er fürchtete, Gegner in der Kurie oder der französische König könnten den Alt-Papst Coelestin gegen ihn in Stellung bringen, wollte er diesen unter Kontrolle halten. Doch Coelestin alias Pietro di Morrone wollte sich nicht länger binden lassen. Der Papstbürde ledig, flüchtete er über die Abruzzen nach Apulien, um nach Griechenland überzusetzen. Sein Schiff kenterte, und der alte Mann wurde von den Häschern Bonifaz' VIII. gefasst und schließlich im Kastell von Fumone eingekerkert.

Leichnam gestohlen

Bonifaz hätte seinen Vorgänger wohl gern in Vergessenheit geraten lassen. Doch das Schicksal des Engelspapstes beschäftigte die Menschen. Nach einer Lesart soll Dante über den Verzicht auf das Papstamt empört gewesen sein und Coelestin in seiner "Göttlichen Komödie" einen Platz an den Pforten der Hölle zugewiesen haben. Petrarca wiederum pries Coelestins Schritt als Zeichen der Demut. Wie auch immer: Bereits 1313 wurde Pietro di Morrone heiliggesprochen. Vier Jahre später wurde sein Leichnam in die Basilika Santa Maria di Collemaggio in L' Aquila überführt.

Doch damit fand Coelestin noch immer keine Ruhe. Jahrhunderte später, im Jahr 1988, wurde sein Leichnam gestohlen und bald darauf auf einem Friedhof wiedergefunden. 2009 folgten das Erdbeben und der Besuch Benedikts in L' Aquila. Ein Jahr später reiste Papst Benedikt in eine andere Abruzzenstadt, nach Sulmona, um den 800. Geburtstag Coelestins zu feiern. Dessen Leichnam wurde deswegen dorthin gebracht. Diesmal pries Benedikt seinen Vorgänger als einen Mann, "der Gott und die Antworten auf die großen Fragen suchte". Coelestin sei zeitlos in seinem Ringen um die ewig aktuellen Fragen: "Wer bin ich, woher komme ich, warum lebe ich, für wen lebe ich?"

Vom Rücktritt als Papst sprach Bene-dikt damals noch nicht. Doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis er Coelestins Beispiel folgte. Benedikt lebt nun, wie er es sich wünschte, zurückgezogen im Vatikan. Coelestin ruht wieder in der Basilika Santa Maria di Collemaggio in den Abruzzen. Seine alte Gesichtsmaske aus Wachs wurde durch eine lebensnähere Maske aus Silber ersetzt. Auch im Kastell von Fumone bleibt der Engelspapst unvergessen. Ein Zahn und ein Stück seines Herzens sind hier.

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