Süddeutsche Zeitung

Kindsmord:Es war die Mutter

Es sind Taten, die unbegreiflich erscheinen: Mütter, die ihre eigenen Kinder töten. Doch Fälle wie das Verbrechen der Bianca T. in Freising geschehen seit Menschengedenken. Welches Motiv kann das Band zwischen Mutter und Kind zerreißen?

Von Petra Steinberger

Der Scharfrichter Johann Hoffmann wartet schon auf sie am Schafott, an jenem Januarmorgen 1772. Die Frankfurter Bürger sind zahlreich erschienen, eine Hinrichtung ist wie ein Volksfest. "Der Nachrichter führte die Maleficantin mit der Hand nach dem Stuhl, setzte sie darauf nieder, band sie in zweyen Ort am Stuhl fest, entblösete den Hals und kopf, und unter beständigem zurufen der Herren Geistlichen wurde ihr durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt", so steht es in den Prozessakten. Dies ist die Zeit der Aufklärung, aber das ist noch nicht vorgedrungen zum Umgang mit den unteren Schichten, aus denen Susanna Margaretha Brandt stammt - die Kindsmörderin, die an diesem Tag hingerichtet wird.

Sie ist Kind eines Soldaten, eines von acht, wird früh zur Waise. Als Dienstmagd arbeitet sie in der Frankfurter Herberge "Zum Einhorn" der Witwe Bauer, als sie dort kurz vor Weihnachten 1770 einen Goldschmiedgesellen kennenlernt. Er verführt sie, mit Wein, vielleicht mit mehr. "Es sei ihr so seltsam zumute geworden, sie habe sich nicht mehr erwehren können, der Teufel müsse seine Hand im Spiel gehabt haben", wird später in den Akten stehen. Ein paar Tage später zieht der Mann weiter, nach Russland, wird nie mehr gesehen. Und Susanna Brandt ist schwanger.

Sie versucht, ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Die Wirtin und Susannas beide Schwestern ahnen etwas; die zwei Ärzte, die sie aufsucht, bemerken nichts. Am 1. August 1771 bringt Susanna Brandt in der Waschküche der Witwe einen Buben zur Welt. Es ist eine Sturzgeburt, das Kind sei mit dem Kopf auf den Steinboden gefallen, wird sie später sagen, in Panik habe sie ihn am Hals gegriffen, das Kind habe nur kurz geröchelt. Sie habe es dann im Stall verborgen. In Angst flieht sie aus der Stadt, kehrt am nächsten Tag zurück und wird verhaftet. Fünf Tage später findet man den Leichnam des Kindes.

Susanna Margaretha Brandt wird zum Tod durch das Schwert verurteilt, ein Gnadengesuch wird abgelehnt. Am 14. Januar wird sie hingerichtet. Sie ist 24 Jahre alt.

Unter den Prozessbeobachtern ist ein junger Rechtsanwalt - sein ehemaliger Hauslehrer ist Gerichtsschreiber und ein Onkel gehört dem Gericht an. Der Anwalt lässt sich Abschriften der Akten anfertigen und verarbeitet Susanna Brandts Schicksal - literarisch. Als Gretchen im "Faust" macht Johann Wolfgang Goethe die junge Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt unsterblich.

Kindsmord, vor allem durch die eigene Mutter, ist ein kaum begreifbares Verbrechen. Das ist heute nicht anders, als es 1772 war. Vergangene Woche hat das Landgericht Landshut eine Mutter, Bianca T. aus Freising, zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie drei ihrer Kinder getötet hat. Der Prozess gegen die Frau, die laut Gericht psychisch gestört sein soll, machte bundesweit Schlagzeilen, verstörte die Leser; von der "Todesmutter" sprachen Boulevardblätter.

Welches Band könnte stärker sein als das der Mutterliebe? Und welches Motiv kann dieses Band zerreißen? Und doch geschieht es, seit Jahrtausenden: wegen des gesellschaftlichen Drucks, weil nur ein Mädchen geboren wurde; aus Verzweiflung, aus Not, aus Rache, aus Angst vor der Schande, aus Hunger oder Wahnsinn, ausgelöst durch postnatale Depression und aus falsch verstandener Liebe ("Wie kann ich meine Kinder zurücklassen in dieser schlechten Welt?"). Und vielleicht gerade weil der Kindsmord, neben dem Inzest, den größten Tabubruch darstellt, wird er in den Künsten, als Mahnung an die Gesellschaft, immer wieder aufgegriffen.

Friedrich Schiller, ebenfalls bewegt vom Fall der Brandt, wird später das Gedicht "Die Kindsmörderin" schreiben. Darin tötet die Mutter ihr Kind, weil es sie zu sehr an den treulosen Geliebten erinnert:

"Und das Kindlein - in der Mutter Schoße

Lag es da in süßer goldner Ruh,

In dem Reiz der jungen Morgenrose

Lachte mir der holde Kleine zu,

Tödlichlieblich sprang aus allen Zügen

Des geliebten Schelmen Konterfei;

Den beklommnen Mutterbusen wiegen

Liebe und - Verräterei."

Das paradoxe Motiv für ihre Tat: die Liebe, die verlorene Liebe. Die Ballade endet mit dem Satz: "Bleicher Henker, zittre nicht!"

Und gut 130 Jahre nach dem Prozess gegen die Brandt sitzt ein schon etwas angegrauter Literat als Geschworener in einem anderen Prozess über eine Kindsmörderin. Er und die meisten anderen Geschworenen sind so erschüttert von der Geschichte der jungen Landarbeiterin Hedwig Otto, dass sie ihren Freispruch erwirken. Es ist das Ende seiner Laufbahn als Geschworener, doch Gerhart Hauptmann wird ein Drama darüber schreiben, am selben Tag noch beginnt er damit unter dem Eindruck des Prozesses: "Rose Bernd". Das Motiv: Für Hauptmann was es die Gesellschaft, die uneheliche Kinder verdammt und die Mutter geradezu in den Abgrund geführt hat.

Und da ist noch jene Mutter, die, von ihrem Ehemann für eine Andere verlassen, ihre Kinder ermordet - und die Nebenbuhlerin dazu. Sie verschont jedoch ihren Mann, um ihn, kinderlos und allein, sein Leben nur noch ertragen zu sehen: Es ist die Medea der antiken Sage, Frau des Jason vom Goldenen Vlies, der sie, als sie ihre Dienste getan, verstößt für eine junge Königstochter. Medea rächt sich im Wahn, indem sie seine (und ihre) zwei Söhne umbringt. Das Motiv: Rache.

In Euripides' "Medeia" entscheidet sie sich zwischen der Liebe zu ihren Kindern und ihrem Zorn als Verstoßene zuletzt gegen ihre Söhne:

"Geht, geht, ihr Kinder! Ich vermag nicht länger noch/euch anzuschauen. Ich erliege meinem Leid./Wohl weiß ich, welchen Frevel ich begehen will,/doch über mein Bedenken siegt die Leidenschaft,/der Menschen allerschlimmste Unheilstifterin."

Mythos, Drama, Gedicht - und Realität: Die mordende Mutter entsetzt die Gesellschaft seit Urzeiten - weil sie sich dem sogenannten natürlichen Empfinden widersetzt. Aber die Ursachen und Hintergründe, oft die seelische Not der Täterinnen, spielten erst in der Neuzeit eine Rolle. Bis dahin wurde die Mörderin des eigenen Kindes als Inbegriff des Bösen hingestellt.

In der antiken Welt bis ins Mittelalter wird allein dem Vater das Recht über Leben und Tod des Kindes zugestanden. Die Spartaner setzen behinderte Neugeborene aus, die Römer tun es ihnen gleich. Infantizid, der Kindermord, und vor allem der Neonatizid, die Tötung eines Babys, sind offenbar recht häufig, immer wieder tauchen sie auf in der Mythologie. Perseus wird mitsamt seiner Mutter Danaë vom Großvater auf dem Meer ausgesetzt - weil dieser aufgrund einer Prophezeiung um sein Leben fürchtet. Und doch, Ironie des Mythos: Ohne die ausgesetzten Zwillinge Romulus und Remus hätte es, zumindest in der Überlieferung, nie ein Römisches Reich gegeben.

Die Tötung von Neugeborenen ist auch in Rom nicht selten. Der Vater entscheidet über die neugeborenen Kinder (und über die seines Eigentums, also auch über die Kinder seiner Sklavinnen). Ist ein Kind missgebildet oder ein Mädchen, so wird es nicht selten gleich nach der Geburt getötet oder ausgesetzt. Abtreibung oder Kindsmord durch die Mutter werden dagegen streng bestraft - denn damit könnte ja eine Frau den Mann um seine Kinder, sein Eigentum, betrügen.

In den meisten patriarchalischen Gesellschaften wird schon immer vor allem Femizid, also die Tötung weiblicher Kinder, praktiziert. Vor allem in Asien gibt es das heute noch - per Ultraschall werden in China oder Indien Hunderttausende weibliche Föten identifiziert und gleich abgetrieben, weil die Eltern beziehungsweise die Väter lieber einen Jungen wünschen.

Zur Mitte des 18. Jahrhunderts steigt die Zahl der erfassten Kindsmorde, weil die Frauen zunehmend Angst haben vor der Schande, dem Pranger, der öffentlichen Ächtung als Folge unehelicher Schwangerschaften. Daher beginnt die Rechtsprechung, sich mit der Kindstötung noch einmal neu zu befassen. In den Jahrhunderten davor ist diese als Ausdruck der Teufelei bestraft worden mit Pfählung, Lebendigbegraben, Zerreißen. Es wurde nicht gewertet, warum etwas geschah, sondern nur die Tat an sich.

Nun beginnt man, die reale Situation der Mütter zu bedenken: ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Notlage. Das Strafrecht wird angepasst und der Mutter ihre - oft - postnatale Schwäche zumindest teilweise beim Urteil zugutegehalten. Die perfect American Mom, die ihre drei Kinder in einem See ertränkt, und dann versucht, sich umzubringen; die Frau aus dem Osten Deutschlands, die neun ihrer gerade geborenen Kinder erstickt und in Blumenerde versteckt, derweil sie ihren vier überlebenden Kindern eine liebevolle Mutter ist; verweste Säuglingsleichen in der Kühltruhe, im Gartenteich, unter der Garageneinfahrt . . .

Bis 1998 werden Kindsmörderinnen juristisch anders behandelt als andere Mörder. Man geht davon aus, dass solche Mütter unter einem unglaublichen Druck handeln, einem Trauma, vor allem in der Angst vor gesellschaftlicher Ächtung; dass sie manchmal, in der postnatalen Depression, nicht mehr wirklich unterscheiden könnten zwischen ihren Ängsten und der Realität. Was heißt: Kindstötung, vor allem die innerhalb weniger Stunden nach der Geburt, wird bis dahin meist nicht als Mord behandelt - höchstens als Totschlag.

1998 ändert sich die Rechtsprechung in Deutschland. Denn, so unterstellt das Strafgesetzbuch nun, inzwischen seien uneheliche Beziehungen doch einigermaßen normal, Kinder aus solchen Verbindungen doch längst gesellschaftlich respektiert. Panik vor Ächtung durch die Umgebung als Motiv, das eigene Kind umzubringen, sei weit weniger schlüssig als früher. Die Tötung eines Säuglings könne also sehr wohl aus "niederen Beweggründen" geschehen, aus Heimtücke - aus Gründen eben, die das Merkmal des Mordes erfüllten.

Elf Jahre nach Susanna Brandts Schafottgang wird in Weimar eine andere Magd diesen Tod erleiden: die gleichaltrige Johanna Catharina Höhn, die ihr Neugeborenes umgebracht hat. Die Zeiten haben sich geändert, selbst Herzog Carl August will die Todesstrafe für Kindsmörderinnen abschaffen. Goethe, als Berater, stimmt aus bis heute umstrittenen Motiven dennoch für sie: Am 28. November 1783 wird Johanna Höhn gemäß der peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. hingerichtet.

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Quelle:
SZ vom 30.11.2013/jst/lala
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