Atomkraft:Die simulierte Kernschmelze

Atomkraftwerk Neckarwestheim

Der Ort einer simulierten Katastrophe: Im Zentrum der Strahlenschutzübung stand das Kernkraftwerk Neckarwestheim südlich von Heilbronn.

(Foto: Patrick Seeger/dpa)

Wer schützt die Bevölkerung, falls ein Kernkraftwerk havariert? In einer Großübung haben Deutschlands Strahlenschützer den "massiven nuklearen Unfall" simuliert. Einblicke aus dem Lagezentrum.

Von Patrick Illinger, Neuherberg

Am vergangenen Dienstag bebte in der Nähe von Heilbronn die Erde. Die Erschütterungen waren nicht allzu stark, aber sie beschädigten das Kernkraftwerk Neckarwestheim. Die Notstromaggregate sprangen an, die Kühlkreisläufe liefen weiter. Zunächst gelangte nur wenig radioaktives Material in die Umwelt, kein Anlass für Katastrophen-Maßnahmen.

Doch in den Morgenstunden des nächsten Tages änderte sich die Lage dramatisch. Die Hülle des Reaktorkerns platzte, eine Kernschmelze setzte ein. 50 Minuten lang quollen radioaktive Isotope aus einem Kamin des Kraftwerks in die Luft. Der Betreiber EnBW meldete ein S06-Szenario, einen massiven nuklearen Unfall.

Glücklicherweise geschah nichts davon in der Realität. Das Erdbeben, der Kraftwerksunfall, die radioaktive Wolke, alles war Teil einer groß angelegten Simulation, einer bundesweiten Übung, mit der geprüft werden sollte, ob die Kommunikation, die Alarmierungsketten und die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung im Ernstfall funktionieren. Beteiligt waren zahlreiche Behörden, vom Bundesumweltministerium über Landesministerien bis zum Präsidium des betroffenen Regierungsbezirks und dem örtlichen Katastrophenschutz. Sogar eine Hubschrauberstaffel der Bundespolizei stand bereit, um mit Geigerzählern die Radioaktivität in der Luft zu messen. Im Zentrum der Übung stand das erst 2017 ins Leben gerufene Radiologische Lagezentrum des Bundesamts für Strahlenschutz BfS. Dieses soll in Zukunft alle relevanten Informationen eines Nuklearunfalls zusammenführen und an alle beteiligten Behörden weitergeben. So will es das Strahlenschutzgesetz.

Gemessen an der Verantwortung, sind die Räumlichkeiten des Lagezentrums überraschend karg. Ein Dutzend Menschen drängt sich am Morgen der simulierten Katastrophe im Büroraum eines Zweckbaus mit Metallfassade und gelben Türrahmen auf dem Gelände des Helmholtz-Forschungszentrums in München-Neuherberg. Bürostühle stehen kreuz und quer herum, auf den Tischen billige Bildschirme und blaue Plastikablagefächer. Zwei Europakarten kleben an der Wand, an der Decke ein Beamer und in der Ecke eine unterernährte Zimmerpalme. Mittendrin steht der Physiker Florian Gering, ein schlanker, gelassener Mann mit sorgfältig geschnittenem Haar, scharfkantiger Brille und angenehmer Stimme. So stellt man sich einen Fluglotsen vor.

Erschreckende 8000 Mikrosievert zeigt eine Messsonde an

Bei Gering und seinem Team laufen sämtliche Fakten ein, Strahlungswerte und Wetterdaten. Eine Meteorologin erstellt aktuelle Windprofile, zwei Physiker errechnen die vermutliche Ausbreitung der radioaktiven Wolke. Von "ODL" ist ständig die Rede, es ist die harte Währung unter Strahlenschützern: die Ortsdosisleistung, gemessen in Mikrosievert pro Stunde. Eine Maßeinheit, die man noch vn der Katastrophe in Fukushima kennt.

1800 eigene Messstationen betreibt das BfS in ganz Deutschland. Hinzu kommen Sonden der Kernkraftwerksbetreiber sowie mobile Geräte der Landesbehörden. Doch die Strahlungswerte sind nur das eine. Florian Gerings wichtigste Aufgabe ist es, zusammen mit zugeschalteten Kollegen in Berlin und Freiburg stündlich einen mehrseitigen Lagebericht zu erstellen und elektronisch an alle zuständigen Behörden zu versenden.

Um die Übung möglichst realistisch zu gestalten, liefern die Messsonden realistische Werte, und es werden die realen Wetterdaten verwendet. Auf deren Basis hat Gerings Team bereits empfohlen, das Gebiet in einem Radius von fünf Kilometern um das havarierte Kraftwerk zu evakuieren. In einigen Sektoren der 20-Kilometer-Zone wird geraten, in Innenräumen zu bleiben und Jodtabletten einzunehmen.

Vom Kraftwerksbetreiber kommen unterdessen erste Meldungen über die Zusammensetzung der radioaktive Wolke. Edelgase sind dabei, auch Schwebstoffe und das bei Kraftwerksunfällen allgegenwärtige Jod-131. Erschreckende 8000 Mikrosievert zeigt eine Messsonde an. "Puh, da will man jetzt nicht sein", raunt ein Mitarbeiter des Lagezentrums. Für die meisten hier ist das kein Spiel mehr.

Florian Gering bleibt ruhig, auch wenn er im Minutentakt Telefonate absolviert. Das Umweltministerium in Stuttgart fragt er höflich, ob es in Ordnung sei, wenn er nun das Regierungspräsidium anrufe. Dort kommt es zu einer irrwitzigen Szene, als Gering den zuständigen Stab nicht erreicht und einem ahnungslosen Beamten erklären muss, wer er ist. Kurzzeitig klingt es wie der Versuch, beim Bürgerbüro eine Passverlängerung zu beantragen. Immerhin versichert Gerings Gesprächspartner, das Anliegen weiterzugeben. Und nach einigen Minuten ruft der Zuständige zurück. Solche Stolpersteine lassen ahnen, wie es früher gewesen sein muss, als es keine zentrale Koordination gab und ein halbes Dutzend Behörden parallel agierte - inklusive aller Empfindlichkeiten.

Im Ernstfall würde die Bevölkerung wohl die Flucht ergreifen

Gering bleibt im Fluglotsenmodus. Erst als der nächste Lagebericht sich verzögert, treibt er eine Mitarbeiterin zur Eile an. Immerhin tritt aus dem Meiler nun kein radioaktives Material mehr aus. Von jetzt an gilt es, die strahlende Wolke zu verfolgen. Ständig laufen neue Messdaten ein, die mit der simulierten Ausbreitung verglichen werden. Zwischendurch meldet das Umweltministerium abweichende Werte. Dann werden Angaben des Kraftwerksbetreibers gesucht. "Auf Seite drei im Lagebericht", ruft jemand durch den Raum.

Tückisch ist an diesem Tag, dass die bodennahen Winde anders wehen als die Luft in einigen Hundert Meter Höhe. Gering lässt eine 48-Stunden-Prognose erstellen. Demnach wird sich die radioaktive Wolke weiter nach Nordwesten ausbreiten und später in östlicher Richtung abknicken. Damit ist auch klar: An das Nachbarland Frankreich kann Entwarnung signalisiert werden.

Um 8.38 Uhr ist die radioaktive Wolke plötzlich verschwunden

Man kann nur ahnen, was in der Realität los wäre. TV, Radio und Twitter hätten vermutlich bereits ganz Deutschland in Aufregung versetzt. Würden die Menschen im Ernstfall nicht die Flucht ergreifen? "Auf jeden Fall", sagt Gering, er nennt das "Selbstevakuierung". Aber für das konkrete Geschehen vor Ort ist sein Lagezentrum nicht zuständig. Gering kann nur maximale Transparenz liefern, sämtliche Strahlungswerte auch im Internet verfügbar machen. Die Empfehlungen des Lagezentrums beschränken sich auf drei Maßnahmen: Evakuieren, in Innenräumen bleiben und Jodtabletten einnehmen. Konkrete Entscheidungen muss der örtliche Katastrophenschutz treffen - und die Bewohner selbst.

Um 8.38 Uhr passiert das Unvorhersehbare: Die radioaktive Wolke ist verschwunden. Keine der Messsonden zeigt noch relevante Dosisleistungen. Im Lagezentrum herrscht Einigkeit: Vermutlich schlängelt sich die Wolke zwischen den Messstationen nach Nordwesten. "Im schlimmsten Fall wabert sie noch stundenlang herum und fällt erst heute Nacht herunter", orakelt Gering.

Aufgrund der vermuteten Ausbreitung wird auch im Westen des Landkreises Heilbronn dazu geraten, in Innenräumen zu bleiben. Um 9.00 Uhr ist die Wolke immer noch unsichtbar. Eine wichtige Messstation im fraglichen Bereich ist kurzzeitig unerreichbar. Doch eine Minute später meldet die Sonde in Gemmingen 160 Mikrosievert pro Stunde. Die Wolke ist zurück, und sie schwebt in die prognostizierte Richtung. Die nächste Station dürfte Eppingen sein, vermutet Gering.

Obwohl sein Team eng beieinander sitzt, sind auch dort Kommunikationshürden zu überwinden. Der für die Simulation zuständige Kollege muss einen Dateinamen quer durch den Raum buchstabieren. Aus einem herumliegenden Handy trötet ein nervtötender Klingelton, während Gering gefühlt zum 98. Mal mit einer Behörde in Stuttgart telefoniert. Das Landesumweltministerium Baden-Württemberg klagt zwischendurch, eine Bilddatei lasse sich nicht öffnen. Der Kraftwerksbetreiber meldet einen Datenstau. "Wir arbeiten mit dem, was wir sehen", gibt Florian Gering als Devise an sein Team aus.

Mehrere offizielle Beobachter verfolgen an diesem Tag das Geschehen im Lagezentrum. Sie werden in der kommenden Zeit Vorschläge erarbeiten, wie die Kommunikation und der Informationsfluss verbessert werden kann. Zeitweise schreiben sie eifrig auf ihre Notizzettel und notieren die zahllosen Telefonate mit Strichlisten.

Am späteren Vormittag wird die Wolke immer dünner. Von jetzt an geht es nicht mehr um Katastrophenschutz, sondern um "vorbeugende Maßnahmen". Doch auch diese können weitreichend sein. So wird man Tausende Tonnen Kuhmilch aus weiten Teilen Baden-Württembergs und von Rheinland-Pfalz wegwerfen müssen. Nur in der Simulation natürlich.

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