Süddeutsche Zeitung

Kampf gegen Infektionskrankheiten:Streit um die letzten Pockenviren

Die Welt ist - fast - frei von Pocken. Zwei Labore auf der Welt arbeiten noch immer mit den gefährlichen Erregern. Nun drängt die WHO erneut darauf, auch die letzten Variola-Stämme zu vernichten.

Katrin Blawat

Seit mehr als drei Jahrzehnten gelten die Pocken offiziell als weltweit ausgerottet. Dennoch gibt es - ebenso offiziell - noch immer an zwei Orten lebendige Stämme der Erreger.

In Hochsicherheitslaboren der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta sowie in einem russischen Forschungszentrum nahe Nowosibirsk experimentieren Wissenschaftler mit dem Variola-Virus. Die Frage ist: wie lange noch? Am Donnerstag werden die 193 Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erneut versuchen, sich auf ein Datum zu einigen, bis wann die USA und Russland ihre letzten Variola-Stämme vernichten müssen.

Es ist der fünfte Versuch, in dieser Frage eine Lösung zu finden - und zwar gemäß den Gepflogenheiten der WHO möglichst einvernehmlich. Die USA haben ihre Position bereits bekräftigt: "Die Bestände würden für mindestens fünf weitere Jahre erhalten bleiben", sagte die amerikanische Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius am Dienstag auf einer Konferenz in Genf. Andere Mitgliedsstaaten der WHO - vor allem wohl Entwicklungsländer - dürften von dieser Äußerung enttäuscht sein.

Dabei hatte man sich zumindest auf dem Papier schon in den 1980er Jahren geeinigt. Alle noch existierenden Pockenerreger sollten bis zum Jahr 1993 zerstört werden. Doch besaß die WHO nicht die rechtlichen Mittel, ihren Beschluss durchzusetzen - daran hat sich bis heute nichts geändert.

So haben die beiden Labore in den USA und Russland immer wieder mit den gleichen Argumenten erreichen können, dass sie weiter an den Variola-Viren forschen dürfen: Neue Impfstoffe und Medikamente seien zu entwickeln, um im Falle eines terroristischen Angriffs mit Pockenviren gewappnet zu sein.

Würden die Viren jetzt zerstört, bliebe die Welt verwundbar zurück, schrieb die US-Gesundheitsministerin vor einigen Wochen in der New York Times. "Solange die Forschung nicht abgeschlossen ist, können wir uns dieses Risiko nicht leisten", sagt Sebelius.

Unterstützung erhielt sie vom Fachmagazin Nature, das kürzlich forderte: "Die Pocken sollten gerettet werden." Auch der Marburger Virologe Stephan Becker sagt: "Ich halte die Vernichtungsstrategie nicht für sinnvoll. Die Expertise, wie man mit diesen Viren umgehen muss, sollte erhalten bleiben." Der amerikanischen Argumentation kann Becker dennoch nicht ganz folgen: "Ich habe den Eindruck, dass der Bioterrorismus für alle möglichen Angelegenheiten als Argument herhalten muss." Gerüchte, dass etwa Iran oder der Irak Pockenviren vorrätig hielten, haben sich nie bestätigt.

Unter anderem darauf weisen jene Mitgliedsstaaten der WHO hin, die seit Jahren die Vernichtung der letzten Pockenerreger fordern. Ihr prominentester Fürsprecher ist der Epidemiologe Donald Henderson, der in den 1970er Jahren die Anti-Pocken-Kampagne der WHO leitete. "Es wäre eine exzellente Idee, die Viren zu zerstören. Derzeit sind die Gründe, sie am Leben zu halten, obskur", sagte Henderson kürzlich der BBC. "Wir brauchen das Virus nicht, um Medikamente oder Impfstoffe zu entwickeln."

Derzeit sind zwei verschiedene Pockenimpfstoffe zugelassen. Sie wirken auch dann noch, wenn man sich bereits angesteckt hat, eignen sich aber zum Beispiel nicht für HIV-Infizierte. Zwei weitere Impfstoffe eines neuen Typs werden gerade entwickelt. Ebenso gibt es Medikamente gegen die Pockenerreger. Angesichts dieser Erfolge argumentiert der Biosicherheitsexperte Jonathan Tucker von der TU Darmstadt, dass viele der von der WHO ausgerufenen Ziele in der Pockenforschung bereits erreicht seien. Es bestehe also kaum noch ein Grund, die Virenstämme zu erhalten.

In der WHO gehen die Ansichten darüber auseinander. "Es gibt Meinungsunterschiede, wie viele verschiedene Therapien wir brauchen", sagt Gerd Sutter. Der Münchner Virologe war Mitglied einer unabhängigen Expertengruppe, die kürzlich im Auftrag der WHO die wissenschaftlichen Argumente für und gegen den Erhalt der Virenstämme analysiert hat.

Die unabhängigen Fachleute sprachen sich eher gegen den Erhalt der Viren aus - und damit auch gegen die Einschätzung eines Ausschusses der WHO selbst, der kurz zuvor für die weitere Forschung an den Viren plädiert hatte. Die Analysen beider Komitees bilden die wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidung am Donnerstag.

Einig sind sich die Vertreter aller Mitgliedstaaten wohl nur in einem Punkt: dass weiter über die Pockenerreger geforscht werden muss. "Die Frage ist nur, ob wir dazu das Virus selbst brauchen", sagt Sutter. Die Forschung kann in diesem Fall zwar nicht auf Tierversuche ausweichen.

Doch als Alternative bieten sich sogenannte Modellviren an. Außer den für Menschen gefährlichen Pocken gibt es viele Varianten des Erregers, die zum Beispiel Kühe oder Affen befallen. Diese genetisch nah verwandten Viren können in vielen Fällen helfen, den menschlichen Erreger besser zu verstehen. Zum Zweiten können Forscher diesen mittlerweile auch synthetisch zusammenbasteln, da sie das Erbgut von etwa 50 Stämmen des Variola-Virus kennen.

Möglicherweise aber spielen wissenschaftliche Überlegungen nur eine Nebenrolle, falls sich die WHO zu einem Entschluss durchringen sollte. "Eine Prognose ist schwierig", sagt Sutter. "Mit Sicherheit aber wird es auch eine politische Entscheidung werden."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1098741
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.05.2011/mcs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.