Süddeutsche Zeitung

Paläontologie:Die Explosion des Lebens

Vor etwa 540 Millionen Jahren entstanden die Vorfahren fast aller heutigen Tierarten. Nun wollen Forscher den Stammbaum des Lebens endlich vervollständigen.

Von Joshua Sokol, Fotos von John Lehmann

Das Trommeln des Presslufthammers wird immer lauter. Bis ein Schieferblock aus der Gesteinsformation herausspringt. "Wow", sagt der Paläontologe Cédric Aria. Er hat gerade eine Oberfläche freigelegt, die seit einer halben Milliarde Jahre kein Sonnenlicht mehr gesehen hat. Auf der Unterseite sieht man kohlefarbene Flecken. Sie sehen aus wie Hufeisenkrebse oder das Raumschiff Millennium Falcon aus "Star Wars".

"Das hier ist ein Raumschiff-Landeplatz", sagt der Expeditionsleiter Jean-Bernard Caron. Normalerweise kümmert er sich als Kurator für Paläontologie im Royal Ontario Museum in Toronto um wirbellose Tiere. Bei den "Raumschiffen" handelt es sich um eine Art Rückenpanzer, die eine Tierart nach der Häutung auf einem längst verschwundenen Meeresboden zurückließ.

Eine Tierart, die der Wissenschaft noch gänzlich unbekannt ist. Zum Vorschein gekommen ist sie erst in dieser Ausgrabungssaison, auf einem Bergfeld, in dem das Team von Caron in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von interessanten Tieren entdeckte. Sie alle stammen aus dem Kambrium: jener Periode der Erdgeschichte, die vor etwa 540 Millionen Jahren begann und in der fast alle modernen Tierstämme entstanden.

Rein äußerlich hatten die Meerestiere von damals mit ihren Nachkommen von heute wenig gemein. Schaut man sich die Fossilien aus jener Zeit an, hat man eher das Gefühl, als hätte sich die Evolution kreativ ausgetobt, bevor sie dem normalen Lauf der Dinge folgte. Aber Wissenschaftler versuchen seit mehr als einem Jahrhundert, sich einen Reim auf diese Wesen zu machen und zu verstehen, in welcher Beziehung sie zum heutigen Leben stehen. Genau genommen wollen sie wissen, was die Evolution anheizte. Behutsam legen Aria und Caron das obere Stück der Platte beiseite.

Die Ausgrabung im vergangenen Sommer war seine bisher letzte

Platz ist knapp im Steinbruch, er ist nicht größer als ein kleines Schlafzimmer und liegt auf einem Felsvorsprung in einer Höhe von 2500 Metern, weit oberhalb von Tokumm Creek im Kootenay-Nationalpark in Kanada. Über Jahrzehnte war es eine ähnlich unzugängliche Stelle 40 Kilometer nordwestlich dieses Tals, die den besten Einblick in das Kambrium bot. Der amerikanische Paläontologe Charles Doolittle Walcott fand dort im Jahr 1909 den Burgess-Schiefer, eine Fossillagerstätte, die nicht nur harte Schalen, sondern auch weiche Merkmale wie Beine, Augen und Eingeweide von kambrischen Krabbeltieren enthielt.

Der Paläontologe Caron hat aber gezeigt, dass sich die wertvollsten Fossilienlagerstätten viele Kilometer über Walcotts Ausgrabungsstätte hinaus erstrecken. Die Ausgrabung im vergangenen Sommer war seine bisher letzte. Gefunden hat er allerlei exotische Tiere, die bereits in hochkarätigen Studien beschrieben wurden: die aalähnliche Metaspriggina, ein Vorfahre der Wirbeltiere, den Tokummia mit seinen Greifzangen oder kegelförmige Fossilien mit dem Namen Hyolithiden, von denen sich eine Verbindung bis zu den Armfüßern von heute ziehen lässt.

Nicht nur in Kanada, auf der ganzen Welt gibt es gerade neue Einblicke in das Kambrium zu vermelden. Wissenschaftler können die kambrische Explosion der Artenvielfalt nun mit neuen Bildtechnologien, Gen- und Entwicklungsstudien untersuchen. "Es gab eine Menge neuer Entdeckungen", sagt der Paläontologe Doug Erwin vom National Museum of Natural History in Washington. Die Forscher sind ihrem Ziel näher als je zuvor: Sie wollen die fremden Kreaturen endlich an der richtigen Stelle im Baum des Lebens einordnen - und die biologische Explosion verstehen, die sie hervorbrachte.

Jeder neue Fund bringt die schlichte Freude, ein Wesen wie aus einer anderen Welt auszugraben. Während einer Pause zeigt Caron sein diesjähriges Kronjuwel, eine Woche zuvor gefunden. Es ist ein intakter, handgroßer Panzer mit einem Mittelrücken - wie eine preußische Pickelhaube. Es ist eine weitere bisher unbekannte Spezies, die mit dem Raumschiff verbunden zu sein scheint. Caron nennt sie "das Mutterschiff". Der Paläontologe ist jedes Mal nervös, wenn er den Fund in den Händen hält. Burgess-Schiefer-Fossilien sind so wertvoll, dass die kanadische Nationalparkbehörde nicht nur die genauen Ausgrabungsorte geheim hält, sondern sie auch mit Kameras überwacht. Jeder Fossilien-Wilderer wird verfolgt.

Das Royal Ontario Museum hat eine Burgess-Schiefer-Fossilie einmal für eine halbe Million kanadische Dollar versichert, als sie als Leihgabe an ein anderes Museum geschickt wurde - und das war ein Tier, das durch mehrere Fossilien bekannt war, erzählt Caron. Dies hier ist einzigartig. Caron sagt: "Das ist das außergewöhnlichste Fossil, das ich je gefunden habe." Der Wissenschaftler hatte lange vermutet, dass es eine andere Stelle in den Rocky Mountains gibt, die mit Walcotts Ausgrabungsstätte mithalten könnte. Der Durchbruch gelang ihm schließlich vor sechs Jahren, in der Nähe einer Gegend namens Marble Canyon. Ein Waldbrand hatte dort zuvor die Bäume abgefackelt.

Als Carons Erkundungsteam dann eine Lawinenrinne voller zerbrochener Steinkacheln überquerte, waren die Forscher plötzlich umgeben von Abdrücken weicher Körper, viele davon mit ungewohnten Formen. "Es war klar, dass zuvor noch nie jemand mit diesem Ziel über diesen Steinhaufen gelaufen war", sagt Bob Gaines, ein Geochemiker vom Pomona College im kalifornischen Claremont, der seit Beginn an Carons Expeditionen beteiligt ist. Zwei Jahre später kehrte das Team für Ausgrabungen an den Ort zurück. Eine Entscheidung, die sich lohnte. Mindestens jedes fünfte Tier, das man im Marble Canyon fand, gehörte zu einer völlig neuen Art.

Inzwischen sind die Forscher zu weiteren Lagerstätten weitergezogen. Wie die kambrischen Arten mit den heutigen Tieren in Verbindung stehen, ist seit der Entdeckung der ersten Fossilien umstritten. Walcott ordnete seine Kuriositäten in die bekannten Gruppen ein. Er stellte fest, dass einige Burgess-Schiefer-Fossilien wie die Armfüßer nach dem Kambrium weiterexistierten, manche sogar bis zur Gegenwart. So kam Walcott etwa zum Schluss, dass fast alle Kreaturen, die den heutigen Arthropoden ähneln, Krebstiere waren.

Später stellten Paläontologen andere Theorien auf. Der Harvard-Forscher Stephen Jay Gould hat das kambrische Zeitalter in seinem 1989 erschienen Buch "Wonderful Life. The Burgess Shale and the Nature of History" vielleicht am besten erfasst. Er beschreibt darin die seltsamen Wunder, die Walcott aus seinem Steinbruch von der Größe eines ganzen Häuserblocks zutage förderte. Nach Goulds Meinung sind Sonderlinge wie die Hallucigenia, ein wurmähnliches Tier mit Stacheln, mit späteren Tieren nicht verwandt. Für ihn sind es lediglich vergessene Experimente der Evolution, die der Zufall später beiseiteschob. Zeitgenössischen Paläontologen geht das zu weit. Sie verweisen auf die Gliederfüßer - vielleicht die erfolgreichsten Tiere der Erde.

Im letzten Ast ihres Stammbaums befinden sich noch heute lebende Gliederfüßer - Spinnen, Insekten und Krebstiere. Einige Tiere, die im Burgess-Schiefer gefunden wurden, gehörten wahrscheinlich zu Ästen des Stammbaums, die sich lange vorher abzweigten. Mit dem Unterschied, dass sie ausgestorben sind und keine Nachkommen mehr haben. Man kann sich die Tiere also wie den kinderlosen Großonkel vorstellen, der vom Familienfoto grinst.

In dieser Sichtweise sind viele von Goulds "seltsamen Wundern" eigentlich Stammgruppenorganismen, die mit Vorfahren der gegenwärtigen Tiere verwandt sind, auch wenn sie selber nicht dazugehören. Eine Interpretation, die neue Fossilienfunde aus den kanadischen Rockys bestätigen. Der Paläontologe Caron argumentiert beispielsweise schon länger, dass Exemplare der Hallucigenia Merkmale aufweisen, die der Stammgruppe der Stummelfüßer ganz ähnlich sind. Und von diesen weiß man, dass sie noch immer durch Tropenwälder kriechen und Schleim spucken.

Möglicherweise lässt sich so die Evolutionsgeschichte neu schreiben

Eine ähnliche Analyse erwartet die "Raumschiffe". Carons Team glaubt, dass es sich bei ihnen um eine neue Art oder Gruppe der Radiodonta handelt, Vorläufer der Gliederfüßer. Wenn man deren Entwicklungsbaum ausfüllt, bekommt man einen genauen Überblick, wie sich der Körper der Gliederfüßer Schritt für Schritt entwickelt hat. Im Endeffekt geht es in der kambrischen Paläontologie genau darum: Körperteile von bekannten oder neuen Fossilien müssen gefunden und den Tiergruppen zu geordnet werden. Möglicherweise lässt sich so die Evolutionsgeschichte neu schreiben.

In den vergangenen Jahren haben Paläontologen das Problem mit einer Reihe neuer Techniken angepackt. Dazu gehören Rasterelektronenmikroskope, mit denen die chemische Zusammensetzung einer Probe erkannt und abgebildet werden kann. Genauso wie Computertomografie-Scans, die Fossilien durchdringen können, ohne das Material abzureiben. So gelang es den Forschern auch, erstaunliche Merkmale unter die Lupe zu nehmen: zum Bespiel versteinerte kambrische Gehirne.

Der Paläontologe Xiaoya Ma veröffentlichte gleich mehrere Studien, die Nervengewebe in außergewöhnlich gut erhaltenen chinesischen Fossilien beschreiben. Anhand ihres Nervensystems lassen sich Tiere mitunter über die üblichen anatomischen Merkmale hinaus den Evolutionsgruppen zuordnen. Im shrimpsähnlichen Fossil Chengjiangocaris aus dem Südwesten Chinas zum Beispiel fand sich eine Struktur, die wie eine Perlenkette vom Kopf zum Schwanz verlief.

Forscher glauben, dass sich dahinter ein Nervenstrang verbirgt, der sich wiederum aus Neuronen zusammensetzt, aus denen winzige Nervenfasern sprießen. Die Gliederfüßer von heute haben solche Fasern nicht mehr. Anders als Stummelfüßer und Priapswürmer, was auf eine Verwandtschaft hindeuten könnte. Aus der Sicht von Kritikern überinterpretieren die Paläontologen aber einige Fossilien. Sie sehen Nervengewebe, wo eigentlich keines ist, heißt es dann oft. Bei vielen dieser Strukturen könne es sich nämlich genauso gut um einen Biofilm handeln, der entsteht, wenn Mikroben nach dem Tod Muskeln und Eingeweide zerlegen. Die Gegenseite überzeugen solche Einwände nicht: "Wenn man sich die am besten erhaltenen Nervensysteme ansieht, gibt es keinen Zweifel, dass die Merkmale echt sind", sagt Graham Budd, ein Paläontologe an der schwedischen Uppsala-Universität und einer der Wortführer des neuen Stammbaumkonzepts.

Ob sich Stammbäume wirklich mithilfe der Anatomie revidieren lassen, ist in der ganzen Disziplin trotzdem noch immer umstritten. Für manche hängt es zum Beispiel von der exakten Form der Krallen ab, ob die Hallucigenia mit den Stummelfüßern verwandt ist. Andere sagen, dass die Krallen bei der Bestimmung des Verwandtschaftsgrads überhaupt keine Rolle spielen. Die Paläontologen suchen deshalb nach neueren, immer besseren Belegen. Jean-Bernard Caron sagt: "Wenn es eine Debatte gibt, muss man nach neuen Fossilien suchen und der Gegenseite die Merkmale zeigen.

Sonst ist alles nur Spekulation." Für die Fossilien nimmt das Forscherteam viele Strapazen auf sich: Sie schlafen sechs Wochen lang in Zelten oberhalb der Baumgrenze. Sie schützen sich mit einem elektrischen Zaun gegen Grizzlybären. Es gibt extrem kalte und extrem warme Tage, auf Schnee im Frühjahr können Waldbrände im Sommer folgen. Und sie nehmen die stinkende Auflage hin, am Ende alle Hinterlassenschaften - wirklich alle - wieder aus dem Park herauszubringen.

An einem kühlen Augustmorgen wandern die Wissenschaftler ein letztes Mal die steilen, steinigen Hänge zum Steinbruch hinauf. Es ist die letzte Chance, neue Fossilien zu entdecken. Zumindest für diese Ausgrabungssaison. Am nächsten Tag wird ein Helikopter den Forschertrupp abholen. Caron warnt die Kollegen: Jetzt bloß keine Verletzungen riskieren. Die Ausgrabungen haben sich am immer selben Gesteinsband abgearbeitet.

Dadurch lässt sich nur ein Teil der geologischen Zeit erfassen. Trotzdem entdeckten die Forsches jedes Mal eine Reihe neuer Arten. Aus einem einfachen Grund: Die Bedingungen auf dem Meeresboden waren nun einmal sehr unterschiedlich, was wiederum verschiedene Tiere begünstigte. Für jeden, der schon einmal mit dem Schnorchel durch die Unterwasserwelt getaucht ist, sei das keine große Überraschung, sagen die Forscher. An anderen Standorten lassen sich weitere Entwicklungsstufen des Kambriums begutachten.

Fast überall konservieren die Fossilien auch matschige Details, die in Fossilien aus einer späteren Zeit nicht mehr vorkommen. Wissenschaftler haben auch dafür eine Erklärung: Vermutlich herrschten in den kambrischen Meeren einzigartige chemische Bedingungen. Ein niedriger Sulfatgehalt konnte den Zerfall der toten Tiere durch schwefelliebende Bakterien zumindest verlangsamen. Gleichzeitig wurden die Weichteile der toten Tiere durch Karbonatschichten umhüllt und versiegelt.

Der Paläontologe Hou Xianguang entdeckte bereits vor mehr als dreißig Jahren einen in einem kambrischen Sedimentgestein glitzernden Gliederfüßer, dessen Beine scheinbar noch lebten. Der Fund war Teil einer noch viel größeren Entdeckung: Der Wissenschaftler war auf den Maotianshan-Schiefer gestoßen, eine Ansammlung fast makellos erhaltener Fossilien, die sich über eine ganze Region im Südwesten Chinas erstrecken. Sie sind etwas älter als die Fossillagerstätten der Burgess-Schiefer und auf andere Weise erhalten.

Am Ausgrabungsstandort von Caron haben geologische Prozesse die Fossilien fast flach gequetscht, in China haben sie noch eine gewisse Tiefe. Die chinesischen Forscher verwenden CT-Scans, um 3-D-Bilder der Proben zu erstellen, ohne sie zu zerstören. Aber der Fund ist so groß, dass inzwischen drei Forscherteams mit Ausgrabungen beschäftigt sind.

"Es gibt einen Erdrutsch an neuem Material", sagt die Paläontologin Ortega-Hernández. Und China ist keine Ausnahme. In der Emu Bay in Australien entdeckten Paläontologen 2011 Fossilien aus der Gruppe der Radiodonta, die deren komplexe, facettenreiche Augen zeigten. Kurz davor berichtete der Paläontologe Peter Van Roy über die Fezouata-Formation im Südosten von Marokko. Jeder dieser Standorte bietet unterschiedliche Einblicke. Die marokkanischen Funde lassen sich zum Beispiel auf die Zeit unmittelbar nach dem Kambrium datieren. Die Besonderheiten der vorherigen Epoche mischen sich hier mit der Fauna der nachfolgenden Periode. Solche Mischformen könnten deshalb auch Hinweise darauf geben, warum bestimmte Gruppen ausstarben und andere überlebten. Trotz der vielen neuen Funde bleibt die kambrische Explosion weiterhin ein großes Rätsel. Wie konnten sich die Gliederfüßer so rasant verbreiten?

Genetiker wollen dem Rätsel um den Ursprung des Lebens mit einem neuen Werkzeug auf die Schliche kommen: den molekularen Uhren. Sie hoffen, dass sich dadurch die Abzweigungen im Lebensbaum leichter zurückverfolgen lassen. Angefangen von den genetischen Unterschieden zwischen heute noch lebenden Tieren, die durch zufällige Mutationen entstanden sind, spulen die molekularen Uhren die Zeit zurück. Bis zu dem Punkt, an dem die Äste auseinanderlaufen. Neue Studien, welche die Methode anwenden, deuten darauf hin, dass moderne Tierarten 100 Millionen Jahre vor dem Kambrium ihre eigenen Stämme begründeten. Offenbar weitestgehend unbemerkt - zumindest ohne dass sie im Fossilienbestand groß vorkommen.

"Wir können nun den Beginn des Tierlebens im Ediacarium beobachten"

Einige Paläontologen blicken noch weiter in die Vergangenheit zurück: Sie haben kryptische Hinweise auf das Leben vor der kambrischen Explosion gefunden. Die Zeit wird allgemein als die Ediacarium bezeichnet und liegt 600 Millionen Jahre zurück. In Australien und Namibia fand man auf Sedimentgesteinen Spuren von Meeresorganismen aus dieser Zeit, die noch seltsamer als jene des Kambriums sind. Ihre Abdrücke zeigen, dass sie teils auf bizarre Weise wuchsen, über eindeutige Münder, Eingeweide oder übliche Gliedmaßen verfügten sie nicht. Die allermeisten dieser seltsamen Kreaturen fielen wohl dem ersten Massensterben der Welt zum Opfer.

Trotzdem vermuten viele Wissenschaftler, dass zumindest einige von ihnen auf die Vorstufen des Stammbaums der heutigen Tiere gehören. Zum Beispiel die Kimberella, eine Tiergattung, die aussieht wie eine gewöhnliche Schnecke und auf dem Meeresboden herumkroch. Im September gaben Forscher außerdem bekannt, dass ein Fossil aus dieser Zeit Lipidmoleküle enthielt, die denen lebender Tiere ähneln. "Wir können nun den Beginn des Tierlebens im Ediacarium beobachten", sagt die Paläobiologin Mary Droser von der University of California. "Das macht mehr Spaß und ist noch aufregender als die kambrische Explosion."

Aber während die Wesen aus dem Ediacarium jene aus dem Kambrium im Rang der ersten Tiere ablösen, geht die Explosion der kambrischen Forschung weiter. Wie viele andere sucht Caron weiter nach neuen Beziehungen zwischen Ediacarium, Kambrium und heutigen Gruppen. Andere Forscher wollen herausfinden, was die Explosion der Entwicklung der Tierarten genau auslöste. Erklärungen gibt es viele: Der Sauerstoff in der Atmosphäre könnte stark zugenommen haben. So stark, dass die Tiere plötzlich größer, stärker und aktiver wurden. Genauso gut könnte sich der Gehalt von giftigen Kalzium im Ozean erhöht haben, sodass die Organismen mit der Zeit von sich aus ein hartes Skelett aufbauten.

Oder aber die Biologie selbst hat sich weiterentwickelt. Erfindungen wie das Jagen oder das Buddeln im Meeresboden, wie man es zum ersten Mal am Anfang des Kambriums sah, könnten aus dem friedlichen Nebeneinander der Organismen plötzlich einen Wettstreit gemacht machen. Die kambrische Explosion wäre dann der Zeitpunkt, an dem Tiere nach Millionen Jahren ruhigen Fortschritts Körperteile aufbauten und mit dem Improvisieren anfingen. Zurück zum Nationalpark in Kanada: Nach der Mittagspause meißeln die Paläontologen noch ein paar Platten.

Manche entnehmen noch ein paar Gesteinsproben, um die Chemie der jeweiligen Umgebung zu rekonstruieren. Dann ist Schluss. Der Expeditionsleiter Jean-Bernard Caron sagt: "Es ist vorbei. Leute, kein Graben mehr." Am nächsten Tag wird der Hubschrauber kommen und die Wissenschaftler zu einem Parkplatz am nächstgelegenen Highway bringen. Die ausgegrabenen Fossilien kommen mit. Der Rest muss auf die nächste Saison warten.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: gsch. Weitere Informationen: www.aaas.org

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Quelle:
SZ vom 23.02.2019/fehu
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