Wenn Uwe Meier seine Geschäftspartner im Süden Kolumbiens besucht, meldet er sich vorab beim Militär oder beim Bürgermeister der Region an. Es ist gefährlich, der Provinz Caquetá einen Besuch abzustatten. Die Landschaft ist hügelig, grasbewachsene Berghänge wechseln sich ab mit dichten Nebelwäldern. Jahrelang versteckten sich dort Kämpfer der FARC-Guerilla, die Regierung in Bogotá war weit weg, ein Menschenleben wenig wert.
Uwe Meier, ein Mann mit kurzem Vollbart und runder Brille, könnte seine Zeit als Pensionär auch lesend auf der Couch verbringen. Dennoch gibt es für ihn gute Gründe, einmal im Jahr die weite Reise nach Kolumbien anzutreten. Er kauft von den Bauern vor Ort Kakaobohnen, direkt, ohne Zwischenhändler. Cacao de Paz, Friedenskakao nennt er sein Produkt, das er über das Internet verkauft.
"Der Kakao sorgt dafür, dass ehemalige FARC-Kämpfer einen legalen Lebensunterhalt bekommen", sagt Meier, ehemaliger Agrarwissenschaftler beim Julius-Kühn-Institut in Braunschweig. Zudem hat sich der Gründer weitere Ziele gesetzt: Der Kakao soll den Bauern faire Löhne sichern und die biologische Vielfalt in der Region fördern. Genau das fordern Menschenrechtler und Umweltaktivisten schon seit Jahrzehnten. Und es gibt kaum mehr einen großen Schokoladenproduzenten, der diese Ziele nicht in den Geschäftsrichtlinien verankert hätte.
Der Preisverfall hat die bittere Armut der Kakaobauern verschärft
Dennoch zieht Friedel Hütz-Adams vom Südwind Institut, das unter anderem Studien für entwicklungspolitische Organisationen erstellt, eine ernüchternde Bilanz: "Trotz aller Initiativen im Kakaoanbau ist es bisher nicht gelungen, die Lebensbedingungen der Bauern wesentlich zu verbessern." Im Gegenteil: Durch eine gute Ernte im Vorjahr ist der Kakaopreis zuletzt stark eingebrochen, um mehr als 30 Prozent auf zeitweise 1970 US-Dollar pro Tonne. Für Hütz-Adams ist klar: "Das hat die bittere Armut, in der viele Kleinbauern leben, verschärft und die Zahl der arbeitenden Kinder nochmal steigen lassen."
Allein in Ghana und der Elfenbeinküste arbeiten mehr als zwei Millionen Minderjährige, schätzt der Experte. Die schweren Kakaosäcke schinden ihre Rücken, Pestizide lassen ihre Gesichter aufquellen, Schlangenbisse oder Fleischwunden durch Macheten können tödlich sein. Doch wie sind solche Zustände möglich - obwohl sich zahlreiche Unternehmen und NGOs vor Ort engagieren? Warum bleiben all die Trainingsprogramme und Nachhaltigkeitssiegel immer noch wirkungslos?
Der Markt für Kakao ist ein perfektes Beispiel dafür, was alles schieflaufen kann, wenn westliche Großkonzerne mit nicht organisierten Kleinbauern zusammenarbeiten, wenn sich die eine Seite den Renditeforderungen ihrer Anleger verpflichtet fühlt und die andere ums Überleben kämpft. Das Mahlen und den Handel mit Kakao dominieren die beiden US-Konzerne Cargill und ADM sowie Barry Callebaut aus der Schweiz. Die wiederum liefern Kakao an Schokoladenhersteller wie Mondelez, Mars oder Nestlé. Gerade in Deutschland herrscht ein harter Preiswettbewerb auf dem Schokoladenmarkt, weil zusätzlich Einzelhändler wie Lidl, Aldi oder Rewe mit günstigen Eigenmarken in die Regale drängen. Die Folgen spüren vor allem die 5,5 Millionen Kleinbauern, die oft weit unterhalb der internationalen Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar am Tag leben.
Auf dem Planeten Erde gibt es einen "Schokogürtel", der sich einmal um den Äquator zieht. Angebaut werden die Früchte, die mal grün, mal gelb, mal rötlich-braun werden, etwa in Ecuador, Kolumbien und Indonesien. Die wichtigsten Anbauländer aber sind Ghana und die Elfenbeinküste, die rund zwei Drittel der globalen Kakaoernte liefern. Genau dort gibt es die größte Armut. Beispiel Elfenbeinküste: Hohe Tafelberge, umgeben von Regenwald, feine Sandstrände mit Palmen - Bilder aus dem westafrikanischen Land gleichen einem Urlaubsparadies. Doch der jüngste Bürgerkrieg ist nur zehn Jahre her, das nationale Bruttoinlandsprodukt liegt bei 36 Milliarden US-Dollar. Deutschland erwirtschaftet auf fast der gleichen Landfläche hundert Mal so viel. Der Kakao aus Westafrika hat oft mindere Qualität, weil die Böden ausgelaugt sind. Die Bauern bekommen wenig Geld für ihre Ernte - und schicken daher Kinder auf die Felder. Ein Teufelskreis.
Der Klimawandel könnte den Kakao-Anbau in vielen Regionen unmöglich machen
"Am allerschlimmsten ist das für die eigenen Eltern", sagt Südwind-Experte Hütz-Adams. "Aber die Menschen dort haben schlicht keine Wahl." Kakaobäume müssen meist per Hand bearbeitet werden und erwachsene Arbeiter könnten die Bauern nicht bezahlen. Die Regierungen vor Ort bemühen sich, die Situation zu verbessern. So zählt zum Beispiel das staatliche Ghana Cocoa Board eine Reihe von Maßnahmen auf, die zuletzt umgesetzt wurden: Die Behörde hat Schulen gebaut und mit Computern ausgestattet, Bildungsstipendien für Farmer vergeben, Krankenhäuser gebaut und solarbetriebene Lampen aufgestellt, damit Schüler abends noch lernen können.
Zu den menschenrechtlichen Problemen im Kakaoanbau kommen ökologische. Viele Pflanzungen sind überaltert, damit an den krankheitsanfälligen Bäumen überhaupt noch Früchte baumeln, helfen die Bauern mit Chemie nach. Dazu kommt: "Kakaobauern, die neu ins Geschäft einsteigen, roden dafür Urwälder, selbst wenn diese unter Naturschutz stehen", sagt Johannes Schorling von der entwicklungspolitischen Organisation Inkota. In keinem anderen Land der Welt schrumpfe der Regenwald so schnell wie in der Elfenbeinküste. Der Klimawandel verschärft die Situation: Forscher vom International Center for Tropical Agriculture (CIAT) in Kolumbien prognostizieren, dass es bis 2050 in weiten Teilen von Ghana und der Elfenbeinküste zu trocken für den Kakaoanbau sein wird. "Noch gibt es von Seiten der Regierung keinerlei Programm, um die Landwirtschaft an diese Entwicklung anzupassen", warnt Schorling.
Diese Probleme machen längst nicht mehr nur Menschenrechtlern und Öko-Aktivisten Sorgen, sondern auch den globalen Großkonzernen - weil Bilder von arbeitenden Kindern bei Konsumenten ganz schlecht ankommen. Die Hersteller befürchten außerdem, dass ihnen in naher Zukunft schlicht der Rohstoff ausgehen könnte. In Deutschland etwa setzt sich daher seit 2012 das Forum Nachhaltiger Kakao dafür ein, dass mehr Kakao aus zertifiziertem Anbau gewonnen wird. Dabei sitzen sowohl Industrie und Einzelhandel als auch NGOs und Siegelorganisationen wie Fairtrade mit am Tisch. Erst kürzlich verkündete das Forum seine Erfolge: Der Anteil zertifizierten Kakaos bei Süßwaren in Deutschland ist demnach seit 2011 von drei Prozent auf 39 Prozent in 2015 gestiegen, bei Mitgliedern des Forums sogar auf 49 Prozent. Global stammt rund ein Drittel des Kakaos von zertifizierten Flächen.
Drei große Siegelorganisationen konkurrieren dabei um die Gunst der Unternehmen: Fairtrade, UTZ und Rainforest Alliance. Fairtrade arbeitet ausschließlich mit Genossenschaften zusammen und stärkt damit die Verhandlungsmacht der Bauern. Zudem zahlt die Organisation eine fixe Sozialprämie von 200 US-Dollar pro Tonne und einen garantierten Mindestpreis, der derzeit 2000 US-Dollar pro Tonne nicht unterschreiten darf. Rainforest Alliance setzt sich vor allem für ökologische Standards wie den Schutz vor Erosion und saubere Gewässer ein. UTZ organisiert Schulungsprogramme für Kleinbauern. Mindestpreise gibt es bei beiden Organisationen nicht, Prämien müssen individuell verhandelt werden. Wobei UTZ und Rainforest Alliance kürzlich bekanntgegeben haben, dass sie sich im Laufe des Jahres zusammenschließen wollen.
Die Zertifizierung lohnt sich meist für die Kleinbauern nicht
An allen Siegelorganisationen gibt es allerdings Kritik. Agrarwissenschaftler Uwe Meier etwa hat früher selbst Standards für Siegel wie Rainforest Alliance mitentwickelt. Mit seinen Geschäftspartnern in Kolumbien hat er auf derartige Zertifizierungen verzichtet. Bei vielen Siegeln seien ihm die Standards zu lax, sagt er, und Fairtrade sei zu teuer: "Abgesehen davon, dass sich vermutlich kein Zertifizierer in diese Region trauen würde, würde sich das für die Bauern, die meist nur zwei bis fünf Hektar Land haben, nicht lohnen - selbst wenn sie sich alle gemeinsam zertifizieren lassen würden."
Die Kosten der Zertifizierung hängen beim Transfair-Siegel von Fairtrade Deutschland unter anderem davon ab, wie aufwändig eine Überprüfung ist. Anstoß erregt Fairtrade auch mit dem sogenannten Mengenausgleich - ein Prinzip ähnlich wie bei Ökostrom. Dabei wird fairer und nicht fairer Kakao in der Verarbeitung gemischt, so dass der Konsument letztendlich nicht sicher sein kann, was sein Schokoriegel am Ende enthält. Fairtrade garantiert lediglich, dass eine äquivalente Menge fairer Kakao eingekauft wurde.
Johannes Schorling von Inkota findet den Mengenausgleich trotzdem in Ordnung. "Letztendlich können so auch jene Bauern am fairen Handel teilnehmen, die zu wenig Kakao liefern, als dass sich das für eine eigene Fabrikationscharge lohnt." Zudem hätten Siegelorganisationen viel dazu beigetragen, dass heute überhaupt so stark über die Anbaubedingungen im Kakao diskutiert werde. Trotzdem glaubt der Kakaoexperte, dass die Zertifizierung nicht ausreicht: "Neuere Studien zeigen, dass die Label nicht zu wesentlich höheren Einkommen bei den Bauern führen." Ein Grund dafür sei wohl auch, dass selbst der von Fairtrade gezahlte Mindestpreis in den vergangenen Jahren meist deutlich unter dem ohnehin schon niedrigen Weltmarktpreis lag. Das wichtigste Versprechen der Zertifizierer also bröckelt.
Einige Unternehmen wie Mondelez haben sich deshalb wieder von der Zertifizierung verabschiedet und setzen auf eigene Programme: Mondelez mit Cocoa Life, Nestlé mit seinem Cocoa Plan und die industrienahe Weltkakaostiftung mit Cocoa Action. Nestlé etwa schreibt auf seiner Internetseite: "Wesentliches Ziel ist es, die langfristige Versorgung mit dem wichtigen Rohstoff sicherzustellen und gleichzeitig die Lebensbedingungen der Lieferanten und Partner in den Anbauländern zu verbessern. Die Prävention von Kinderarbeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Programms." Ähnlich wie andere Initiativen verspricht das Unternehmen den Bau von Schulen und eine transparentere Lieferkette. Dazu kommen Trainingsprogramme, in denen Bauern etwa beigebracht wird, welche Schattenpflanzen nötig sind. Auch werden gratis Jungpflanzen verteilt, um die überalterten Plantagen zu verjüngen.
Was löblich klingt, hat Schwächen. "Viele Trainingsprogramme sind nur darauf ausgelegt, dass Kleinbauern produktiver arbeiten", kritisiert Hütz-Adams. Oft seien Bauern aber finanziell gar nicht in der Lage, die Tipps umzusetzen: "Alte durch junge Bäume zu ersetzen, lohnt sich frühestens nach vier bis fünf Jahren. Solche Zeiträume können Kleinbauern gar nicht überbrücken." Und selbst wenn sie es schaffen: Je mehr Kakao auf dem Markt ist, desto billiger wird er. Ob eine höhere Produktivität unterm Strich also zu mehr Einkommen führt, ist fraglich.
Christiane Hellar arbeitet für die Hamburger Stiftung für Wirtschaftsethik und hat kürzlich untersucht, warum es im Kakaoanbau trotz der jahrelangen Bemühungen immer noch Probleme gibt. Ihr Fazit: "Solange die Unternehmen nicht bereit sind, höhere Preise auf dem Weltmarkt zu bezahlen, bringen auch die Nachhaltigkeitsinitiativen nur wenig." Für die Konzerne ist der Preis das Resultat von Angebot und Nachfrage auf dem Weltmarkt. Trotzdem gibt es in der Branche inzwischen erste Versuche, auszurechnen, welchen Lohn ein Kakaobauer eigentlich zum Leben braucht. Auf Basis dieser Musterrechnung sollen die Unternehmen dann entweder flexible Prämien oder aber einen globalen Mindestpreis zahlen - auf jeden Fall das, was den Menschen auf der anderen Seite des Äquators ein würdiges Leben gewährleistet.
Laut Hellar sind freilich nicht nur die Unternehmen in der Pflicht, etwas zu ändern, sondern auch die Produktionsländer selbst: "Damit die höheren Weltmarktpreise dann auch wirklich bei den Bauern ankommen, müssen sich die Strukturen vor Ort ändern." Der Kakaomarkt in Ghana und der Elfenbeinküste ist schon jetzt kein freier Markt. Große Teile des Kakaos werden von staatlich lizenzierten Zwischenhändlern zu fixen Preisen ein- und auf dem Weltmarkt weiterverkauft. Eigentlich eine gute Idee, sagt Hellar. "Bisher ist aber nicht transparent, wie viel diese Händler dann als Gebühren an den Staat abtreten müssen und ob sie höhere Weltmarktpreise auch an die Kakaobauern weitergeben." Ein weiteres Problem ist Korruption: Erst im Frühjahr etwa wurde deswegen der Chef des ghanaischen Cocoa Boards, das unter anderem die Kakaopreise festlegt, abgesetzt.
"Wir kennen alle unsere Zulieferer persönlich"
Für Gründer Uwe Meier zeigt das: Um sicherzustellen, dass Bauern mehr erwirtschaften, muss man am besten direkt mit ihnen ins Geschäft kommen - ein Grund, warum er sich immer wieder in die gefährlichen Landstriche Kolumbiens wagt. Besonders am Herzen liegt ihm dabei die biologische Vielfalt: Anstatt nur Kakao anzubauen, pflanzen die Bauern auch Maniok, Kochbananen und Avocados. Diese können sie entweder ebenfalls verkaufen oder selbst essen, falls es mit der Kakaoernte mal nicht so gut läuft. Statt auf Bio- und Fairtrade-Zertifizierungen setzt Meier auf Vertrauen. "Wir legen unsere Kalkulation offen und kennen alle unsere Zulieferer persönlich."
Seine Bauern zu kennen, ist für ein Start-up deutlich einfacher als für internationale Großunternehmen, die von mehreren Millionen Bauern beliefert werden. Zumal rund 80 Prozent der westafrikanischen Kakaofarmer nicht einmal in Kooperativen organisiert sind - und daher auch mit den aktuellen Nachhaltigkeitsprogrammen nicht erreicht werden. Doch es gibt auch größere Unternehmen, die zeigen, was machbar ist. Als Vorreiter in der Branche gilt etwa Tony's Chocolonely aus den Niederlanden. Die junge Firma kauft ausschließlich in Westafrika ein und garantiert den Bauern dabei eine mindestens fünfjährige Zusammenarbeit.
Je nach Lebens- und Arbeitskosten zahlt Tony's Chocolonely flexible Prämien zusätzlich zum Weltmarktpreis. Für Verbraucher kosten 180 Gramm Schokolade daher knapp über drei Euro. Ähnlich engagiert sich der Schweizer Schokoladenhersteller Halba, der hinter der Edelmarke Swiss Confisa steht. Auch Halba verpflichtet sich zu mehrjährigen Kooperationen mit seinen Bauern in Honduras, Peru und Ecuador und fördert die Biodiversität auf den Feldern.
Langjährige Lieferbeziehungen mit den Bauern, ein direkterer Austausch und höhere Preise - das sind für Friedel Hütz-Adams vom Südwind Institut die drei Stellschrauben, um im Kakaoanbau wirklich etwas zu verändern. "Wir merken schon, dass es auch bei den ganz Großen in der Branche langsam eine größere Bereitschaft gibt, in diese Richtung zu denken", sagt er. "Aber es liegt noch ein sehr langer Weg vor uns." Wie schnell es vorangeht, bestimmen auch die Verbraucher: Je mehr Menschen zertifizierten oder direkt gehandelten Kakao kaufen, selbst wenn dieser ein paar Cent mehr kostet, desto mehr stehen Konzerne unter Druck. Für Gründer Uwe Meier zumindest ist klar: Solange in Westafrika noch Kinder arbeiten, wird ihn nichts auf der Couch halten.