Justiz in den USA:Tausende Fehlurteile, Tausende Tragödien

Mindestens 2000 Menschen wurden in den USA laut einer neuen Studie seit 1989 aus den Gefängnissen entlassen. Weil sie zu Unrecht wegen Mordes, Sexualverbrechen oder Raub verurteilt wurden. Mehr als hundert Personen saßen im Todestrakt. Unschuldig. Die Dunkelziffer zu Unrecht Verurteilter dürfte noch deutlich höher sein.

Markus C. Schulte von Drach

Justiz ist fehlbar. So fehlbar wie Menschen, die als Polizisten, Anwälte oder Richter arbeiten, und wie Zeugen, die vor Gericht aussagen. Eindringlich belegt hat dies gerade wieder ein Bericht des National Registry of Exonerations, einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Fehlurteile in den USA zu dokumentieren.

Justiz in den USA: Zelle im Todestrakt im Staatsgefängnis San Quentin in Kalifornien: Falschaussagen, falsche Identifizierungen und Amtsverfehlungen haben in den USA zu Tausenden Fehlurteilen geführt. Allein seit 1989 mussten mehr als 2000 zu Unrecht Verurteilte freigelassen werden - darunter 101 Todeskandidaten

Zelle im Todestrakt im Staatsgefängnis San Quentin in Kalifornien: Falschaussagen, falsche Identifizierungen und Amtsverfehlungen haben in den USA zu Tausenden Fehlurteilen geführt. Allein seit 1989 mussten mehr als 2000 zu Unrecht Verurteilte freigelassen werden - darunter 101 Todeskandidaten

(Foto: AFP)

Allein für die Zeit zwischen 1989 und 2012 zählen die University of Michigan Law School in Ann Arbor und das Center on Wrongful Conviction der Northwestern University in Chicago 891 Fälle, in denen Verurteilte - häufig erst nach Jahrzehnten - entlassen wurden, weil sie für Verbrechen verurteilt worden waren, die sie nicht begangen hatten.

Und 101 der Opfer von Fehlurteilen warteten in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung.

Zuletzt kam etwa Gussie Vann frei, der 1994 in Tennessee für Mord zum Tode verurteilt worden war. Aufgrund von "falschen oder irreführenden forensischen Beweisen und unzureichender Verteidigung", wie das National Registry feststellt. 17 Jahre hatte der heute 42-Jährige auf seine Hinrichtung gewartet. Unschuldig.

Auch der Fall von Thomas Kennedy, jüngstes Beispiel für einen unschuldig Verurteilten, belegt eindringlich, wie sich eine Jury in die Irre führen lassen kann. Die elfjährige Tochter Cassandra hatte ihren von der Mutter geschiedenen Vater 2001 bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben. Das Urteil: 15 Jahre Gefängnis.

Im Januar 2012 ging Cassandra, inzwischen 22 Jahre alt, noch einmal zur Polizei, und gestand, dass sie gelogen hatte. Sie hatte ihren Vater loswerden wollen, weil er trank und Marijuana rauchte. Im März wurde Kennedy aus der Haft entlassen.

Das sind nur zwei Fälle von Hunderten Entlastungen seit 1989, die die Autoren des Berichts für die National Registry berücksichtigten. Und "hinter jedem Fall steckt eine Geschichte und fast alle sind Tragödien".

Dabei ist die Zahl der zu Unrecht Inhaftierten ihrem Bericht zufolge noch weit größer, als die Liste mit den Einzelfällen belegt. Zu diesen fast 900 Fällen kommen mindestens 1170 weitere Personen, die im Rahmen von 13 "Massenentlassungen" freikamen. Verhaftet worden waren sie überwiegend wegen Drogendelikten. So hatten etwa in Benton Harbor, Michigan zwei Polizeibeamte zwischen 2006 und 2008 mindestens 69 Personen festgenommen, denen sie unter anderem Drogen untergeschoben und gegen die sie falsch ausgesagt hatten. Die beiden Polizisten wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, ihre Opfer im März 2012 freigelassen.

In Camden, New Jersey waren es sogar 193 zu Unrecht Verurteilte, die dieses Jahr aus der Haft entlassen wurden, nachdem der neue Polizeichef sein eigenes Department hatte überprüfen lassen. Und in Philadelphia kamen in den neunziger Jahren 338 Gefängnisinsassen frei, nachdem fünf Mitglieder der Drogenpolizei unter anderem der Manipulation von Beweisen überführt worden waren.

Insgesamt wurden seit 1989 in den USA demnach mehr als 2000 Personen zu Unrecht zu Haftstrafen oder zum Tode verurteilt. Und das sind nur jene, von denen man heute weiß, dass sie unschuldig waren. "Es gibt aber viele Entlassungen, von denen wir nichts wissen", schreiben Samuel Gross und Michael Shaffer von der University of Michigan in Ann Arbor in ihrem Bericht, und weisen darauf hin, dass es dazu keine amtlichen Erhebungen gibt.

Wegen Mord und Vergewaltigung verurteilt

Bekannt würden vor allem aufsehenerregende Fälle wie Morde und Vergewaltigungen. Auch regionale Gruppen wie das Northern California Innocence Project decken immer wieder Fehlurteile auf. Von vielen Entlassungen hätten sie aber nur von Anwälten erfahren, die sie persönlich kennen, schreiben die Juristen. Und bei einigen hätten die Behörden sogar versucht, zu vermeiden, dass die Öffentlichkeit auf die Justizfehler aufmerksam wurde. "Wir haben keinen Zweifel daran, dass wir von der überwiegenden Mehrheit der weniger auffälligen Entlastungen nichts wissen", stellen die beiden Autoren fest.

Trotzdem haben die Experten sich bemüht, herauszufinden, ob die bekannten Fehlurteile Gemeinsamkeiten aufweisen. Auffällig war, dass fast jeder zweite Betroffene ein angeblicher Mörder war, 35 Prozent waren wegen Sexualstraftaten wie Vergewaltigung verurteilt worden. 50 Prozent der zu Unrecht Inhaftierten waren Schwarze, 38 Prozent Weiße, elf Prozent Latinos.

DNS-Untersuchungen führten in 37 Prozent der Fälle zur Aufhebung der Urteile - wobei es sich zunehmend um ältere Fälle handelte. Das spricht dafür, dass die DNS-Analysen inzwischen häufiger Fehlurteile verhindern.

In jedem zweiten Fall hatten für die Fehlurteile falsche Anschuldigungen, auch unter Eid, eine Rolle gespielt und 43 Prozent der Justizopfer waren von Augenzeugen falsch identifiziert worden. Bei 42 Prozent konnten Amtsvergehen aufgedeckt werden. Ein Viertel der Beschuldigten kam unter anderem aufgrund von falschen oder irreführenden forensischen Beweisen ins Gefängnis, und bei 16 Prozent kam es sogar zu falschen Geständnissen - vor allem von Jugendlichen und geistig zurückgebliebenen Angeklagten. Einige Verurteilte waren fälschlich von Mitangeklagten beschuldigt worden.

Auffällig war auch, dass angebliche Sexualstraftäter besonders häufig falsch identifiziert worden waren. Vor allem weiße Frauen hatten offenbar Schwierigkeiten, mögliche schwarze Täter zu identifizieren. Und wenn die Anklage Kindesmissbrauch war, waren Unschuldige in 74 Prozent der Fälle für eine Tat verurteilt worden, die überhaupt nicht geschehen war.

"Das ist erst der Anfang"

"Das ist erst der Anfang", kommentierte Samuel Gross seinen Bericht in der Huffington Post. "Eine meiner großen Hoffnungen ist, dass wir nun noch mehr über zu Unrecht Verurteilte lernen."

Das Wichtigste, was man über falsche Urteile wüsste, sei, dass sie regelmäßig gefällt werden, schließen Gross und Shaffer ihren Bericht. Doch "die meisten Fehlurteile kommen nicht ans Tageslicht." Das bedeutet, viele zu Unrecht Verurteilte werden noch lange und manche für immer im Gefängnis bleiben - oder hingerichtet.

Das wichtigste Ziel der Justiz müsse Genauigkeit sein: die Schuldigen zu identifizieren und zu verteilen, und die Unschuldigen freizusprechen. Der effektivste Weg sei, vor dem Urteil sorgfältig, ehrlich und vorurteilsfrei zu arbeiten. "Die zweitwichtigste Aufgabe ist, auch nach dem Schuldspruch offen zu sein für die Möglichkeit, dass es zu Fehlern gekommen ist", fordern die Juristen.

Ob die US-Justiz und die Politik auf den Bericht des National Registry of Exonerations reagieren wird, ist unklar. Die Erfahrungen von David Protess von der Northwestern University sprechen dagegen. Protess hat gemeinsam mit seinen Studenten eine Reihe von Fehlurteilen aufgedeckt - fünf Todestrakt-Insassen wurden daraufhin freigelassen.

Auf Druck der Staatsanwaltschaft wurde ihm 2011 sein Kurs an der Journalistenschule entzogen. Ihm wurde fehlerhaftes Verhalten vorgeworfen. "Drei Jahrzehnte lang habe ich Justizirrtümer aufgedeckt und nun befinde ich mich im Visier von anderen, die mich zu Unrecht beschuldigen", sagte er der New York Times. Inzwischen ist Protess im Ruhestand, leitet jedoch weiterhin das Chicago Innocence Project. Und immerhin: In Illinois wurde die Todesstrafe aufgrund von Protess' Arbeit 2011 abgeschafft.

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