Süddeutsche Zeitung

Jugendgewalt:Brutal - aber nicht mehr als früher

Angesichts der Bilder von gewalttätigen Jugendlichen hat die Öffentlichkeit den Eindruck gewonnen, es würde immer häufiger und brutaler zugeschlagen und -getreten. Was keiner glauben will:Tatsächlich ist die Zahl der Gewalttaten von 14- bis 21-Jährigen zurückgegangen.

Christian Pfeiffer

Mordlust - die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt", lautete am 2. Mai die Schlagzeile auf der Titelseite des Spiegels. Im Text blieben die Autoren dann jedoch den Nachweis für ihre These schuldig. Auch viele Talkshows verfuhren in den vergangenen Wochen nach diesem Muster: An die Stelle nüchterner Analyse von Fakten trat das Hinausposaunen der gefühlten Kriminalitätstemperatur.

Und wenn dann doch mal jemand auf die rückläufigen Zahlen der Jugendgewalt hinweist, kommt als Antwort schnell die Gegenthese: "Ja, aber die Brutalität gegenüber dem einzelnen Opfer hat doch zugenommen. Früher, wenn der Niedergeschlagene am Boden lag, hat der Täter aufgehört. Heute aber..." Und jeder sieht dann vor seinem Auge die Berliner U-Bahn-Szene vom Ostersamstag.

Würde es stimmen, dass es heute häufiger als früher zu solchen Gewaltexzessen kommt, müssten insbesondere die polizeilich registrierten Tötungsdelikte Jugendlicher und Heranwachsender zugenommen haben. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Die Zahl der 14- bis 21-Jährigen, die im Jahr 2010 als Tatverdächtige eines Mordes oder Totschlags erfasst worden sind, hat im Vergleich zu 2009 pro 100.000 der Altersgruppe um fast 14,1 Prozent abgenommen. Zur insgesamt registrierten Gewaltkriminalität dieser Altersgruppe zeigt sich im Vergleich der beiden Jahre ein Rückgang um 6,5 Prozent. Bezogen auf die Jahre seit 2007 sind es sogar minus 10,7 Prozent.

Noch nie seit der Wiedervereinigung war dieser Rückgang so stark. Damit setzt sich ein Trend fort, der seit mehr als zwölf Jahren zu beobachten ist. Schwere Körperverletzungen hatten nach der Polizeilichen Kriminalstatistik zwar noch bis 2007 weiter zugenommen.

Wie aber unsere seit 1998 wiederholt durchgeführten Repräsentativbefragungen von 14- bis 16-Jährigen zeigen, beruht dieser Anstieg auch auf einer erhöhten Bereitschaft der Opfer, ihre Peiniger anzuzeigen.

Es hat sich also vor allem die Sichtbarkeit der Jugendgewalt deutlich erhöht. Die Opfer- und Täterquoten der Jugendlichen sind dagegen nach diesen Dunkelfeldbefragungen seit 1998 stabil bis leicht rückläufig.

Nur ein Bereich der Jugendgewalt ist von dieser Dunkelfeldproblematik nicht betroffen: die schweren Gewaltdelikte an Schulen. Wenn die Opfer solcher Taten ärztliche Nothilfe in Anspruch nehmen mussten, landen diese Fälle wegen der Kostenabrechnung immer in der Statistik der kommunalen Unfallversicherer.

Deren Daten nähern sich also mehr der Wirklichkeit als die der Kriminalstatistik. Sie belegen zwei Trends: Die Zahl der jungen Gewaltopfer, die ambulant behandelt werden mussten, hat pro 1000 Schüler zwischen 1997 und 2009 um 40 Prozent abgenommen. Kamen die Opfer ins Krankenhaus, beträgt der Rückgang sogar 50 Prozent.

Trotz all dieser positiven Entwicklungen gehen in einer Umfrage aus dem Jahr 2010 neun von zehn erwachsenen Deutschen davon aus, dass die Jugendgewalt zugenommen hat.

Die Erklärung hierfür liegt auf der Hand: Die emotionale Wucht der Fernsehbilder von brutalen Gewalttaten junger Menschen beeinflusst die Einschätzungen der Zuschauer stark. Dank der U-Bahn-Überwachungskameras sind die Gewaltexzesse sichtbar geworden wie nie zuvor.

Die Bilder gehen uns unter die Haut, bleiben lange in Erinnerung, lassen Ängste entstehen und Wünsche nach harter Bestrafung. Je mehr die Menschen im Fernsehen Szenen realer oder auch fiktiver Gewalt sehen, umso stärker verschätzen sie sich im Hinblick auf die reale Entwicklung der Gewalt, und sie plädieren dann auch eher für einen härteren Kurs der Gerichte.

Warum aber sinkt die Jugendgewalt? Dazu einige knappe Antworten, die wir empirisch belegen können. Erstens: Die innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder nimmt seit mindestens zwölf Jahren schrittweise ab und damit auch die Neuproduktion von jungen Gewalttätern.

Zweitens: Die Bildungsintegration und in Teilen auch die soziale Integration von jungen Migranten hat sich in vielen Regionen langsam, aber stetig verbessert. Dazu haben auch Vereine, Bürgerinitiativen und Bürgerstiftungen entscheidend beigetragen.

Drittens: Dank unserer guten Polizei ist das Risiko des Erwischtwerdens für junge Gewalttäter deutlich angewachsen. Hinzu kommt die Zunahme der Anzeigebereitschaft der jungen Gewaltopfer. Beides dämpft den Tatendrang potentieller Räuber und Schläger.

Viertens: Alkohol- und Drogenkonsum junger Menschen gehen deutlich zurück. Dies zeigt auch der jüngste Drogenbericht der Bundesregierung.

Fünftens: Die Schulen sehen es verstärkt als ihre Aufgabe an, der Gewalt durch Prävention entgegenzuwirken. Inzwischen gibt es Konfliktlotsen und eine engagierte Pausenaufsicht, eine verbesserte Zusammenarbeit mit der Polizei und eine gründliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema.

Brauchen wir angesichts dieser erfolgreichen Präventionsstrategien die von der Bundesregierung geplante Verschärfung des Jugendstrafrechts? Was soll damit erreicht werden, dass die Strafaussetzung zur Bewährung in Zukunft mit dem Jugendarrest gekoppelt verhängt werden kann?

Gegen mehr Jugendarrest spricht schon die hohe Rückfallquote: Zwei von drei Jugendlichen, die mit Jugendarrest bestraft wurden, werden wieder rückfällig. Die Quote ist auch deshalb so hoch, weil nach der Entlassung aus der Haft gilt, was schon der Volksmund weiß: "Und ist der Ruf erst ruiniert, so lebt sich's gänzlich ungeniert."

Zudem lernt man hinter Gittern meist die falschen Freunde kennen. Die von den Befürwortern des Warnschussarrestes vorgetragene These, man müsste dem Angeklagten die schmerzhafte Erfahrung des Freiheitsentzuges vermitteln, damit er die Bewährungsstrafe nicht für einen Freispruch hält, geht an der Wirklichkeit vorbei.

Gesessen haben die allermeisten zu diesem Zeitpunkt ihrer Karriere mindestens einmal - entweder in der U-Haft oder im Jugendarrest. Außerdem ist ihnen der Ernst der Lage in der Regel ohnehin bewusst, denn der Jugendrichter sagt es ihnen in der Hauptverhandlung: Jeder erneute Fehltritt kann die Eintrittskarte für das Gefängnis bedeuten.

Nein - hier geht es der Koalition ebenso wie mit der geplanten Anhebung der Höchststrafe auf 15 Jahre nur um die Befriedigung der aus den oben dargestellten Gründen angestiegenen Strafbedürfnisse der Bevölkerung.

Das ist populär und soll Stimmen bringen. Aber dazu sollten die straffälligen Jugendlichen nicht benutzt werden.

Christian Pfeiffer (67) ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Von 2000 bis 2003 war er für die SPD Justizminister des Landes Niedersachsen.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2011/mcs
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