Süddeutsche Zeitung

Jenseits der Schulmedizin:Alternative: Skepsis

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Viele Menschen sind unzufrieden mit ihren Erfahrungen in der Arztpraxis und wenden sich alternativen Heilmethoden zu. Aber was hinter diesen Verfahren wirklich steckt, erfährt man häufig nicht. Ein Erfahrungsbericht.

Markus C. Schulte von Drach

Was tut man als Vater, wenn der neugeborene Nachwuchs plötzlich beginnt, sich immer wieder zu überstrecken? Man geht zum Kinderarzt. Und was tun besorgte Eltern, wenn man dort lediglich die Auskunft erhält: "Vermutlich völlig harmlos. Weiter beobachten"?

Man hört auf den Rat von Bekannten und Verwandten, die den Besuch einer "unglaublich erfolgreichen Craniosakral-Therapeutin" empfehlen.

Selbst wenn man von Haus aus skeptisch ist gegenüber alternativen Heilmethoden - die Verantwortung lastet schwer auf den Schultern eines Vaters. Wer möchte seinem Kind schon eine möglicherweise hilfreiche Behandlung vorenthalten?

Wenige Tage später gab ich meinen Sohn in die Hände einer Heilpraktikerin, die eine Weile sanft an ihm herumdrückte.

Ein richtig ausgebildeter Therapeut, so erfuhr ich, ertastet auf diese Weise den Rhythmus der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit.

Ein Rhythmus der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit?

Von einem solchen Phänomen hatte ich als Biologe noch nie gehört. Aber die Wissenschaft macht schließlich ständig neue Entdeckungen.

"Blockierungen im Körper"

Rhythmus-Störungen, erklärte mir die Frau weiter, deute auf "Blockierungen im Körper", die zu den verschiedensten Symptomen führen könnten. Zum Glück ließen sie sich jedoch häufig durch vorsichtigen Druck an den richtigen Körperstellen lösen.

Wie ich später in Erfahrung brachte, soll die Behandlung bei den verschiedensten Leiden helfen - von stressbedingten Verspannungen bis hin zu Parkinson und Multipler Sklerose.

Während es mir gelungen war, vor und während der Behandlung meine Skepsis zu verdrängen, konnte ich danach nicht widerstehen, die Behauptungen der Therapeutin zu überprüfen.

Eine kurze Recherche ergab: Ein "Craniosakral-Rhythmus" ist wissenschaftlich nicht belegt.

Na gut. Es "gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio", wie Shakespeare seinen Hamlet weise sagen lässt. Und Recht hat Hamlet!

Die falsche Frage

Schließlich hat der Kosmos schon eine ganze Reihe unglaubliche Überraschungen für uns parat gehalten. Und immer wieder müssen wir uns eingestehen, wie wenig unsere Sinne uns über die Realität eigentlich mitteilen. (Oder begreifen Sie vielleicht die Sache mit dem Licht, das mal Welle, mal Teilchen und irgendwie beides zugleich ist, wie die Physiker seit hundert Jahren wissen?)

Wenn in der Natur solche sprichwörtlich übersinnlichen Phänomene existieren - warum sollte es dann nicht auch einen "Craniosakral-Rhythmus" geben, den nur speziell ausgebildete Therapeuten wahrnehmen können?

Klar, warum nicht? Nur: Das ist die falsche Frage.

Shakespears skeptischer Horatio würde hier vielmehr fragen: Wenn diese Therapeuten einen der Wissenschaft bislang unbekannten Rhythmus ertasten können, wieviele Rhythmen stellen dann zwei Therapeuten gleichzeitig an einem Patienten fest?

Die Antwort lautet: Bei entsprechenden Versuchen erspüren zwei Therapeuten an der selben Person zur selben Zeit ... zwei Rhythmen.

Der "Craniosakral-Rhythmus" stammt demnach nicht vom Patienten. Er ist lediglich ein Gefühl der Therapeuten. "Die Zuverlässigkeit der Diagnose", so schlossen bereits vor einigen Jahren amerikanische Fachleute, geht demnach "gegen Null".

Es scheint, als hätte ich meinen Sohn lediglich eine kleine Babymassage verschafft - mehr nicht.

Wieso aber haben dann so viele Menschen das Gefühl, ihnen oder ihrem Kind ginge es nach der Behandlung besser?

Wer nicht weiterhin an den "Craniosakral-Rhythmus" glauben mag, findet dafür wohl nur eine Erklärung: Schon das Gefühl, dass man mit dem Besuch eines Heilpraktikers die Hilflosigkeit nach dem Besuch beim Kinderarzt überwunden hat, tut gut.

Es macht Patienten und auch Eltern sicherer - und das spüren vermutlich auch ihre Kinder. Schon so dürfte das Wechselspiel zwischen Heilpraktiker, Kind und Eltern positive Folgen haben.

Nur muss man sich in diesem Fall der Ehrlichkeit halber eingestehen: Es handelt sich offenbar um einen mit teurem Geld erkauften Placeboeffekt. Ähnlich wirksam sind Scheinmedikamente, wenn uns der Arzt nur glaubhaft versichert, es handele sich um das beste verfügbare Medikament.

Und angesichts der Erkenntnisse der Bewusstseinsforscher und Psychologen ist eines inzwischen klar. Unser subjektiver Eindruck täuscht uns regelmäßig und massiv - sowohl über unsere eigenen Leiden als auch über die Befindlichkeit unserer Kinder.

Trotzdem werden viele Heilmethoden wie die "Craniosakral-Therapie" in der Gesellschaft inzwischen als gleichberechtigte Alternative zur Schulmedizin wahrgenommen.

Doch es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen beiden "Schulen", die man bei der Auswahl einer Therapie berücksichtigen sollte.

Problematische Schulmedizin

Schulmediziner behandeln ihre Patienten in der Regel mit Produkten der Pharmaindustrie. Arzneimittelhersteller aber sind keine Wohlfahrtsunternehmen. Das Mittel, das ein Arzt verschreibt, ist deshalb vielleicht tatsächlich das beste, das zur Verfügung steht. Vielleicht ist es aber auch den Herstellern einfach nur gelungen, diesen Eindruck zu erwecken.

Auch werden Medikamente in Tierversuchen getestet, deren Ergebnisse sich nicht unbedingt auf Menschen übertragen lassen. Und auch die abschließenden Tests an menschlichen Probanden gewährleisten nicht, dass die Medikamente wirklich sicher sind.

Immer wieder kommt es in den klinischen Studien zu Fehlern, immer wieder versuchen Unternehmen, Wissenschaftler, die ihre Produkte prüfen, zu beeinflussen oder zu manipulieren. Und bei manchen Mitteln sind gefährliche oder tödliche Nebenwirkungen erst nach der Zulassung erkannt worden.

Aber immerhin: Die Wirksamkeit der Behandlungsmittel und -methoden wird überhaupt getestet. Eine Placebo-Wirkung allein reicht nicht aus. Und es gibt zu jedem Medikament einen Beipackzettel mit einer Liste möglicher Nebenwirkungen.

Bei vielen alternativen Heilmethoden ist das anders. Es mangelt häufig an objektiven Belegen ihrer Wirksamkeit. Und von Risiken, die von den Behandlungen ausgehen können, erfährt man selten etwas - selbst wenn sie bekannt sind. Es ist schließlich nicht ungefährlich, einem Säugling während einer Craniosakral-Therapie an den noch nicht verwachsenen Schädelknochen herumzudrücken.

Warum aber zeigen so viele Menschen - nicht nur besorgte Eltern - trotzdem ein so starkes Bedürfnis nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten?

Vor einiger Zeit haben Wissenschaftler der Universität Bern dazu erklärt, die Ärzte müssten sich endlich eingestehen, "dass die moderne Medizin die Bedürfnisse der Patienten nach einer individuellen Gesundheitsfürsorge nicht genügend berücksichtigt". Individuelle Gesundheitsfürsorge - das bedeutet vor allem, Patienten als Menschen mit Gefühlen und Nöten ernst zu nehmen und ihnen ausreichend Zeit zu widmen.

Und das, was ich bei "meinem Hausarzt" vermisse, bietet mir dafür zum Beispiel "mein Homöopath".

Doch wer nach Alternativen sucht, sollte wissen, womit er es zu tun bekommt. Darüber, welche Methoden und welche Ideologien wirklich hinter einigen der prominentesten alternativen Heilverfahren stecken, wird sueddeutsche.de in einer Serie deshalb hier informieren. (Teil 1: Anthroposophische Heilkunde)

Bei meinem Sohn übrigens ist sogar der Placebo-Effekt der Craniosakral-Therapie ausgeblieben. Vielleicht war ich ja trotz aller Vorsätze zu skeptisch und mein Sohn hat das gespürt.

Oder unsere Kinderärztin lag mit ihrer Vermutung doch richtig. Unser Sohn hat jedenfalls - eine ganze Weile nach der Craniosakral-Behandlung - eine völlig normale Haltung entwickelt.

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