Die Ereignisse im AKW Fukushima-1 überschlagen sich: Eines der Abklingbecken für verbrauchte Brennstäbe ist nach Angaben der Atomaufsicht des Landes möglicherweise am "Kochen". In Reaktor 4 war in der Nacht ein Brand in einem Lager für verbrauchte Brennstäbe ausgebrochen, das Feuer ist inzwischen gelöscht, allerdings gelangte dadurch nach Angaben der IAEA Radioaktivität direkt in die Atmosphäre. Zuvor kam es zu einer vierten Explosion, die innere Reaktor-Schutzhülle soll beschädigt sein.
Bilder aus Japan:Pure Verzweiflung
Aus Furcht vor der Atomkatastrophe bleiben die Menschen in Tokio in ihren Häusern. Die Metropole ist dunkel und verwaist. Die Krisenregion gleicht einer Trümmerwüste - und die Hoffung auf Überlebende schwindet.
Selbst Japans äußerst zurückhaltende Atombehörden schlagen jetzt Alarm: Die Strahlung steigt dramatisch, auch Tokio misst erhöhte Werte. Der Wind könnte eine radioaktive Wolke in Richtung der größten Metropolregion der Erde treiben. Aktuell versucht die Wetterbehörde der Vereinten Nationen zu beruhigen, die Radioaktivität werde von Japan weggeweht und es gebe weder für Japan noch benachbarte Länder "Auswirkungen". Prognosen sagen, dass die Luftströmung großräumig wieder in Richtung Westen dreht. Doch in Tokio macht sich Panik breit. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur radioaktiven Wolke.
In Japans Hauptstadt Tokio sind nach Angaben der Stadtverwaltung bereits Spuren von Cäsium-137 und Jod-131 nachgewiesen worden, meldet die japanische Nachrichtenagentur Kyodo. Die Stoffe sind vermutlich freigesetzt worden, als die Ingenieure in Fukushima-1 in den vergangenen Tagen wiederholt Dampf aus den Reaktordruckbehältern abgelassen haben. Cäsium-137 und Jod-131 gehören zu den Spaltprodukten von Uran-235 in den Brennelementen.
Japan in der Krise: Fototicker:Verwüstung ohne Ende
Die Lage in Fukushima wird immer dramatischer, Rettungsmannschaften finden immer mehr Tote in den Trümmern. Das Ausmaß der Zerstörung in Japan ist unfassbar.
Diese Spaltprodukte treten normalerweise nicht aus den Brennstäben aus. Fällt die Kühlung aus und wird die Hülle der Brennstäbe dadurch zerstört, gelangen die Isotope in den Wasserdampf, der in Fukuschima-1 zur Entlastung der Reaktorkerne abgelassen wurde. Ein weiterer radioaktives Element, mit dem man rechnen muss, ist Plutonium - insbesondere da die Brennelemente im Reaktor 3 sogenannte Mischoxid-Brennelemente sind: Diese enthalten neben Uran auch Plutonium und dessen Isotope Plutonium-239 und Plutonium-241. Darüber hinaus können bei einem Reaktorunglück das radioaktive Isotop Strontium-90 und radioaktive Gase wie Xenon und Argon freigesetzt werden.
Das hängt von der Konzentration und der Art der strahlenden Teilchen ab, die sie enthält. Die Cäsium-, Jod-, Plutonium- und Strontiumisotope sind selbst radioaktiv. Beim Zerfall von Cäsium-, Jod und Strontiumisotopen entsteht Beta-Strahlung (meist Elektronen) oder Gamma-Strahlung. Beta-Strahlung dringt von außen nicht tief in den Körper ein, kann aber zu Verbrennungen und Hautkrebs führen. Wird ein Beta-Strahler in den Körper aufgenommen, kann er dort Gewebe zerstören und Krebs auslösen.
Der Beta-Strahler Jod-131 hat eine Halbwertszeit von etwa acht Tagen (die Hälfte der Isotope ist in dieser Zeit zerfallen), strahlt deshalb anfänglich stark, ist aber nach einem Jahr verschwunden. Es reichert sich allerdings in der Schilddrüse an und kann dort zu Krebs führen.
Der Beta-Strahler Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von mehr als 30 Jahren. Es kann sich wie Kalzium in Knochen und wie Jod in der Schilddrüse ablagern, gilt als krebserregend und kann vor allem Muskel- und Nervenzellen sowie die Nieren schädigen. Gerade dieses Isotop bereitet den Fachleuten Sorge. Es ist noch lange nach einer Katastrophe im Boden enthalten, wo es von Pflanzen und Tieren aufgenommen wird. Noch heute müssen etwa Wildschweine in Deutschland auf Verstrahlung überprüft werden - Jäger, die kontaminierte Tiere nicht dem Verbrauch zuführen können, bekommen eine Entschädigung. Die Tiere nehmen vor allem über bestimmte Pilze Cäsium-137 aus Tschernobyl auf.
Ähnlich wie Cäsium-137 kann sich Strontium-90 im Knochengewebe einlagern, Tumore sowie Schäden am Knochenmark und vermutlich Leukämie verursachen. Der Beta-Strahler hat eine Halbwertszeit von mehr als 28 Jahren.
Die Plutonium-Nuklide aus den Brennelementen sind extrem giftige Schwermetalle. Dazu kommt eine gefährliche Strahlenwirkung, die sich besonders auf Knochen und Leber auswirkt. Plutonium-239 hat eine Halbwertzeit von mehr als 24.000 Jahren, Plutonium-241 von 14 Jahren. Plutonium-239 ist ein Alphastrahler. Alphastrahlung dringt nicht sehr tief in Materie ein - schon ein Blatt Papier hält sie auf. Gefährlich wird es allerdings, wenn die relativ massiven, viel Energie enthaltenden Alpha-Teilchen eingeatmet oder mit der Nahrung oder über Wunden aufgenommen werden und direkt auf innere Organe wirken können. Plutonium-241 ist ein Betastrahler und als solcher relativ harmlos - bis es sich in Americium-241 umgewandelt hat. Das ist ein Alpha-Strahler mit einer Halbwertszeit von mehr als 430 Jahren.
Bei den Zerfallsprozessen der radioaktiven Isotope entsteht neben der Alpha- oder Beta- auch Gamma-Strahlung. Dabei handelt es sich um energiereiche, elektromagnetische Wellen mit höherer Reichweite wie Alpha- oder Beta-Strahlung, die zur sogenannten Strahlenkrankheit führt: Die Strahlung zerstört Körpergewebe und kann das Erbgut schädigen, so dass es sowohl zu akuten Strahlenschäden als auch zu Spätfolgen kommen kann, da der Körper nicht in der Lage ist, lebenswichtige Zellen neu bilden.
Zum Zeitpunkt der dritten Explosion herrschte nach Angaben von Meteorologen Wind aus Norden. Dies würde bedeuten, dass radioaktive Teilchen auch nach Süden in Richtung Tokio gelangen könnten. Die Metropole liegt etwa 250 Kilometer von Fukushima-1 entfernt. In der Präfektur Ibaraki - südlich von Fukushima - wurde nach Informationen der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo bereits eine deutlich erhöhte Strahlung gemessen, geringere Mengen bereits auch in Tokio.
Sollte es zu einem großen Austritt von Radioaktivität kommen, bestünde bei den gegenwärtigen Windverhältnissen die Gefahr, dass sie innerhalb von zehn Stunden die Tokio erreicht. Die Wettervorhersagen hatten für Dienstagabend Wind und Schnee aus nordöstlicher Richtung angekündigt, die eine mögliche radioaktive Wolke aus Fukushima-1 zur Hauptstadt tragen könnte.
Aktuelle Prognosen zeigen nun, dass die großräumige Strömung wieder auf West dreht. Zur Zeit weht der Wind in Tokio schwach aus Osten. Die Wetterbehörde der Vereinten Nationen teilte am Dienstag in Genf deshalb mit, die Radioaktivität werde von Japan weggeweht und es gebe weder für Japan noch benachbarte Länder "Auswirkungen".
In drei Präfekturen um das AKW Fukushima-1 haben die Vorbereitungen für die Evakuierung begonnen: Die Regierung der Präfektur Yamagata stelle eine Liste mit Schutzräumen für die Flüchtenden zusammen, berichtet die Nachrichtenagentur Kyodo. Allein in dieser Präfektur leben mehr als eine Million.
Die von dem Erdbeben und dem nachfolgenden Tsunami besonders schwer getroffene Millionenstadt Sendai liegt nur 70 Kilometer nördlich des Unglücksreaktors. Noch dramatischer wird die Lage, wenn die Wolke tatsächlich den Großraum Tokio erreicht. Hier leben 35 Millionen Menschen.
Der einzig sichere Schutz vor radioaktiver Strahlung ist, nicht mit ihr in Kontakt zu kommen. Das Gebiet in einem Umkreis von 20 Kilometern um Fukushima-1 ist bereits evakuiert worden. Die Regierung bitte nun alle Menschen, die zwischen 20 und 30 Kilometer von der Anlage entfernt wohnen, in ihren Häusern zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten. Damit können radioaktive Strahlen durchaus wirksam reduziert werden. Auch das Rote Kreuz empfielt den Verbleib im Haus als beste Schutzmaßnahme vor radioaktiver Strahlung. Manche radioaktive Strahlen durchdringen nicht einmal Kleidung und können leicht abgewaschen werden.
Auch Schutzkleidung kann helfen, wie etwa wasserdichte Regenkleidung. Die hält zwar nicht alle Strahlen ab - das könnte nur ein spezielles Material mit Blei -, aber sie verhindert, dass sich verseuchte Partikel auf der Haut absetzen.
Gefährlicher ist die Strahlung, wenn sie eingeatmet oder über die Nahrung aufgenommen wird. Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten sollte deshalb Atemmasken oder andere Filtermasken tragen und keine Lebensmittel essen, die Strahlung ausgesetzt gewesen sein könnten.
Die japanische Regierung hat auch Jodtabletten verteilt. Wer seinem Körper im Ernstfall unbedenkliches Jod zuführt, der verhindert, dass sich in der dann mit dem Element bereits gesättigten Schilddrüse radioaktive Jodionen ansammeln können. Gegen andere Strahlung wie Cäsium oder Strontium helfen aber keine Tabletten.
Viele Folgen radioaktiver Strahlung sind bekannt. Sie kann kurzfristig zu Verbrennungen, Gewebeschäden und zum Tod führen. Längerfristig besteht insbesondere das Risiko, an Krebs zu erkranken und an den Folgen vorzeitig zu sterben. Darüber hinaus kann es zu Fehlbildungen beim Nachwuchs von Strahlenopfern kommen.
Doch gerade bei einer mittleren oder schwachen Strahlenbelastung können Mediziner die Folgen nur statistisch ermitteln, zum Beispiel indem die Häufigkeit von Krebs in einem Ort vor und nach der Katastrophe verglichen wird, oder zwischen betroffenen und nicht betroffenen Gebieten.
Die Erfahrung zeigt allerdings, dass entsprechende Studien in der Regel zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und etwa von Behörden und Atomkraftgegnern verschieden interpretiert werden.
So starben nach dem Super-GAU in Tschernobyl nach offiziellen Zahlen innerhalb von einigen Wochen insgesamt 30 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Explosion. Längerfristig kam es zu einer Häufung von Krebserkrankungen in der betroffenen Region, viele Kinder kamen mit Missbildungen zur Welt. Während jedoch die Internationale Atomenergiebehörde IAEO die Zahl der Opfer, die an langfristigen Folgen starben, mit 56 beziffert, gehen atomkritische Wissenschaftler von 50.000 Opfern aus.
Auch die Folgen der Kernschmelze von Three Mile Island in den USA 1979 sind umstritten. Während manche Mediziner von einer erhöhten Säuglingssterblichkeit und Krebshäufigkeit in der Region ausgehen, widersprechen andere Wissenschaftler und die Gesundheitsbehörden dieser Annahme.
Schon die Zahl der Strahlenopfer der Atombombenabwürfe auf Japan 1945 ist umstritten. So zählte die japanische Regierung der Zeitung Japan Times zufolge im März 2007 noch 251.834 Menschen als sogenannte Hibakusha, Überlebende der Atombombenabwürfe auf Hiroshima oder Nagasaki. Doch nur 2242 der noch lebenden Opfer - weniger als ein Prozent - leiden offiziell unter gesundheitlichen Folgen der Strahlung.
Quantitativen Angaben darüber, mit welchen Folgen die Bevölkerung zum Beispiel in Tokio rechnen muss, sind also kaum möglich - selbst wenn die Belastung mit radioaktiver Strahlung bekannt ist.