Japan nach der Fukushima-Katastrophe:Angst vor dem Domino-Effekt

An employee works in the central control room of the No.5 reactor at Chubu Electric Power Co.'s Hamaoka Nuclear Power Station in Omaezaki

Seit dem Fukushima-Unglück liegen die Atomreaktoren Japans still. Die Betreiber haben, wie hier Hamaoka, Milliarden in neue Sicherheitssysteme investiert.

(Foto: Toru Hanai/Reuters)

Japans Atomaufsicht brüstet sich damit, nach der Katastrophe von Fukushima strenge Sicherheitsvorschriften erlassen zu haben. Doch dann genehmigt sie den Betrieb von Reaktoren, die diese Regeln nicht einhalten.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Es sollte eine Beruhigung der besorgten Bürger sein. Japans neue Sicherheitsvorschriften für Kernkraftwerke "sind die strengsten der Welt", sagte Shunichi Tanaka, der Chef der japanischen Atomaufsicht (NRA), als er sie vorstellte. Seither hat er zwei Anlagen die Betriebsbewilligungen für jeweils zwei Reaktoren erteilt. Sie waren wie alle japanischen Meiler nach dem Unglück von Fukushima vom Netz gegangen, die Regierung möchte sie aber gern wieder anschalten. Derzeit prüft die NRA 15 weitere Reaktoren.

Doch noch bevor der erste Meiler wieder Strom produziert, warnen zwei renommierte Wissenschaftler. "Auch die neuen Vorschriften genügen internationalen Standards nicht", sagt Satoshi Sato, ein ehemaliger Reaktor-Ingenieur von General Electric; er war Mitglied der unabhängigen Parlamentskommission, die das Unglück von Fukushima untersuchte.

Noch weiter geht Katsuhiko Ishibashi von der Universität Kobe, einer der renommiertesten Seismologen Japans, der sich viel mit dem Effekt von Erdbeben auf Kernkraftwerke beschäftigt hat. Er nennt nicht nur die japanischen Vorschriften lax. Das Kernkraftwerk Sendai, ganz im Süden auf Kyushu gelegen, genüge nicht einmal diesen. Es soll aber im Juli wieder angefahren werden. "Die NRA hat ihre eigenen Regeln verletzt. Die Betriebsbewilligung ist illegal", sagt Ishibashi.

Die japanische Regierung will möglichst bald wieder Atomstrom

Besorgte Anwohner haben bereits gegen das Wiederanfahren der Reaktoren in der Anlage Sendai geklagt. In erster Instanz sind sie abgeblitzt, haben aber Berufung eingelegt. Wie gegen Sendai laufen zur Zeit gegen alle Meiler in Japan Gerichtsverfahren.

NRA-Chef Tanaka will nichts von diesen Warnungen wissen. Ishibashi habe eine eigene Meinung, lies er auf einer Pressekonferenz knapp wissen und tat sie damit als irrelevant ab. Die meisten Medien in Japan verschweigen die Bedenken der Experten. Ishibashi, früher selber Mitglied einer staatlichen Atom-Kommission, erklärt sich das mit dem enormen Druck durch die Regierung, der die NRA und ihr Chef unterstehen. Tokio wolle möglichst bald wieder Atomstrom. "Und Tanaka ist wirklich kein Seismologe."

Fukushima hat die Theorien bestätigt

Ishibashi hat den Druck der Atomlobby persönlich erlebt. Seit dem Beben in Niigata 2007 mahnt er die Behörden, seine Theorie eines "Genpatsu-Shinsai" ernst zu nehmen. Das japanische Kunstwort setzt sich zusammen aus "genpatsu", Atomkraft, und "shinsai", Erdbebenkatastrophe. Damit meint der Forscher den Domino-Effekt, den ein Erdbeben in einem AKW auslösen kann: Schäden am Reaktor, Ausfall der Notkühlung, Überhitzung der Brennelemente, Kernschmelze.

Fukushima hat Ishibashis Theorie Schritt für Schritt bestätigt. In einem Gutachten beschrieb er vorab auch die Wasserstoff-Explosionen, die die Dächer der Reaktorgebäude zerstörten. Während der akuten Katastrophe von Fukushima hatten der Betreiber Tepco und die Aufsichtsbehörde behauptet, niemand habe damit rechnen können. Tatsächlich entsteht geradezu zwangsläufig Wasserstoff im Reaktor, wenn steigende Temperaturen die Hüllen der Brennelemente beschädigen.

Je länger die Erde bebt, umso größer die Schäden

Welche Schäden ein Erdbeben verursacht, hängt Ishibashi zufolge von drei Faktoren ab. Erstens von der Beschleunigung und ihrer Richtung, mit der die Erde bebt. Zweitens von der Frequenz der seismischen Wellen und ihrer Amplitude, also der Auslenkung, um welche sich der Boden verschiebt. Und drittens von der Dauer: Je länger es schüttelt, umso größer die Schäden.

Die Wellen eines Bebens mit niedriger Frequenz, 1 bis 2,5 Hertz, haben dabei eine große Reichweite und verlieren unterwegs weniger Energie. Sie können auch in großen Entfernungen, 100 Kilometer oder mehr, schwere Zerstörungen anrichten. In Japan aber gibt es kein AKW, das mehr als 100 Kilometer von jedem möglichen Erdbeben-Zentrum entfernt liegt.

Erschütterungen wirken sich besonders verheerend auf Strukturen aus, die von den Schwingungen in Resonanz versetzt werden. Die Bewegungen können sich dann aufschaukeln. Darum verlangt Amerikas Nuklearkommission seit der Katastrophe von Fukushima, Kernkraftwerke über das ganze Frequenzspektrum möglicher Erdbebenwellen zu prüfen. Zumal in AKWs auch Kräne herunterfallen, Lagerbecken für Brennstäbe leckschlagen oder Transformatoren Feuer fangen und so Atom-Unfälle auslösen können.

Die Atomkraft-Anlagen waren unterdimensioniert

Japans NRA kennt diese Regel jedoch nicht. Die Betreiberfirma Kyushu Electric hat ihre Anlage Sendai für das Betriebsgesuch nur auf drei selbst gewählten Frequenzen getestet. Erdbeben, die nicht von einer bekannten Erdspalte ausgehen, sondern mitten auf einer Kontinentalplatte geschehen, hat sie ignoriert. Dabei ist ein solches in 100 Kilometer Entfernung für das Jahr 1909 nachgewiesen worden. Es hatte eine Stärke von 7.7. Reaktoringenieur Satoshi Sato warnt: "Vor allem das Risiko von Beben tiefer Frequenzen wird deutlich unterschätzt."

Es kann schließlich vorkommen, dass die von tiefen Frequenzen provozierten maximalen Beschleunigungen die Werte überschreiten, für welche die jeweiligen AKWs ausgelegt waren. Das ist sowohl beim Niigata-Beben 2007, beim Auslöser des Fukushima-Unglücks am 11. März 2011 wie auch bei Erdstößen im US-Bundesstaat Virginia im gleichen Jahr passiert. Die Anlagen waren unterdimensioniert.

Kleine Schäden können Domino-Effekt auslösen

Obwohl das Beben in Niigata von der Magnitude her schwächer war als bei der Planung des AKW angenommen, übertrafen die Kräfte des Bebens die maximal erwarteten Werte um das Zweieinhalbfache. Ein Transformator brannte, radioaktives Gas und Flüssigkeit wurden freigesetzt.

Das Beben vom August 2011 in Virginia hatte eine für Reaktorsicherheit eigentlich unbedeutende Magnitude von 5.8, verursachte aber ein Leck in der Kühlung im AKW North Anna. "Und das Erdbeben vom 11. März 2011 hat ja nicht nur Fukushima-I beschädigt", sagt Sato, "sondern auch Fukushima-II, wo mit Mühe Schlimmeres verhindert werden konnte. Im AKW Onagawa brach ein Brand aus, in Tokai-II fiel die Seewasser-Kühlung aus." Auch solche Schäden hätten einen Domino-Effekt auslösen können.

Alle vier Jahre Störfälle nach Erdbeben

Zudem rechne Sendai-Betreiber Kyushu Electric nur mit einer Erschütterungsdauer von 30 Sekunden, beklagt Sato. Das findet der Experte "viel zu kurz" und verweist auf die seismografische Aufzeichnung des Bebens, das Fukushima zerstörte. Es dauerte fast fünf Minuten.

Ishibashi ergänzt, die NRA habe zugelassen, dass Kyushu Electric sich für das Bewilligungsgesuch nur auf vergangene Beben stützte. Dabei sähen die eigenen Richtlinien vor, eine Anlage müsse auch Beben standhalten, die Seismologen aufgrund der allgemeinen Plattentektonik für möglich halten, selbst wenn man sie bisher nicht beobachtet hat.

Überdies warne die japanische Regierung offiziell vor dem zu erwartenden Mega-Beben im Nankai-Graben vor der Pazifikküste der Hauptinsel Honshu. Es könnte die Stärke 9 erreichen und niedrigfrequente Wellen auslösen. Auch dieses Beben hat Kyushu Electric ignoriert. Und für ein Erdbeben der Stärke 9.1 im Ryuku-Graben, der von Kyushu bis Taiwan im Süden reicht, wurde nur die Kommandozentrale von Sendai getestet. Nicht jedoch die Reaktoranlage selbst.

"Wir nehmen das nicht ernst genug"

Ishibashi hält auch die Kraftwerke an der See von Japan für gefährdet, zumal dieses Meer seismologisch weniger erforscht ist. Das habe es den dortigen AKW-Betreibern erlaubt, für ihre Genehmigungsgesuche nur Durchschnitts-Beben anzunehmen. Dabei gebe es Belege für seltene, sehr schwere Erdstöße an dieser Küste.

"Wir nehmen das nicht ernst genug", seufzt Ishibashi. Das AKW Takahama, dem die NRA die Bewilligung auch schon erteilt hat, sei überdies nur für Tsunamis ausgelegt, die nach seinen Erkenntnissen niedriger als die maximal möglichen sind.

"Warnungen der Götter"

Das ist allerdings nicht der Grund, warum Takahama vorläufig nicht ans Netz kann. Ein Gericht hat der Klage von Anwohnern stattgegeben und den NRA-Bescheid ausgesetzt. Die Daten, mit denen die Betreiberin Kepco die Erdbebensicherheit belegt habe, seien zweifelhaft, so das Urteil. Nur von Durchschnittsbeben auszugehen, wie es Kepco getan habe, sei angesichts der Schwere eines möglichen Atomunfalls inakzeptabel, selbst wenn das Risiko eines Mega-Bebens numerisch klein sei.

Angesichts der Gefahren greift der Seismologe Ishibashi zu religiösen Vergleichen. Er halte die Beben von 2003 und 2007, die AKW-Störfälle verursachten, und dann Fukushima "für ständig ernster werdende Warnungen der Götter". Aus Sicht des Seismologen, sagt er, sind alle Atomkraftwerke in Japan gefährdet. Der nächste "Genpatsu-Shinsai" könnte noch schlimmer werden als Fukushima.

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