Süddeutsche Zeitung

Geologie:50 Tage Erdbeben

  • Unter dem Marmarameer spielte sich ein Naturschauspiel ab, das erst jetzt dank neuer Messverfahren entdeckt wurde.
  • Tief im Untergrund kam es zu einem Erdbeben in Zeitlupe.
  • Was sich normalerweise in wenigen Sekunden abspielt, zog sich in diesem Fall über fast zwei Monate hin.

Von Hanno Charisius

Dort wo Europa auf Asien stößt - geologisch betrachtet -, kam es vor gut drei Jahren zu einem Naturschauspiel, von dem zunächst niemand Notiz nahm: Im Untergrund bebte es heftig, aber so langsam, dass die Verformung erst jetzt von einem internationelen Forschertem registriert wurde. Was sich normalerweise in Sekunden abspielt, dauerte im Sommer des Jahres 2016 mehr als fünfzig Tage lang.

Solche langsamen Beben spielen sich in großer Tiefe ab, dort wo das Gestein nicht mehr spröde ist und bricht, wenn es unter zu großer Spannung steht, sondern eher zäh wie Honig fließt. "Solche langsamen Beben sind erst seit 15 Jahren bekannt", sagt der Geologe Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum GFZ, der an der Studie beteiligt war. Er vergleicht diese Deformationen mit Atembewegungen der Erdkruste, die sich an der Oberfläche in schwachen Erdbeben äußern kann. So war es auch in diesem Fall.

Um dem ultralangsamen Kriechprozess im Untergrund auf die Spur zu kommen, mussten die Forscher eine neue Methode zur Datenauswertung entwickeln. Zusammen mit Kollegen vom Türkischen Katastrophenschutz AFAD und dem UNAVCO-Institut in Boulder, Colorado, berichten GFZ-Geologen in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Earth and Planetary Science Letters über ihre Entdeckung. Das Team überwacht die sogenannte Nordanatolischen Verwerfung im Nordwesten der Türkei bereits seit Jahren. Dort stoßen die Eurasische und die Anatolische Platte aufeinander und es kommt regelmäßig zu zerstörerischen Erdstößen. Vor zwanzig Jahren etwa starben fast 20 000 Menschen bei einem Erdbeben bei Izmit. Geologen rechnen bereits seit Langem mit einem weiteren verheerenden Erdstoß im Großraum Istanbul.

Deshalb haben die Wissenschaftler in dieser Region ein Netz von Sensoren installiert, die sie durch Bohrlöcher versenkt haben, um selbst die feinsten Erdbewegungen aufzeichnen zu können, "bis in den Bereich eines Atomdurchmessers", sagt Bohnhoff. Das internationale Geologenteam identifizierte das Kriechsignal in der Erdkruste aber erst, nachdem die Daten verschiedener Bohrloch-Messstationen neu ausgewertet wurden. Demnach entfaltete sich das Erdbeben wie in Ultrazeitlupe über fast zwei Monate hinweg.

Den Forschern gibt das neue Einblicke in die spannungsreichen Reibereien der Kontinentalplatten und ermögliche es, "das regionale seismische Risiko besser zu verstehen und zu quantifizieren insbesondere für die 15-Millionen-Metropole Istanbul im Hinblick auf das bevorstehende Starkbeben", sagt Bohnhoff.

Der Geologe glaubt, dass jederzeit ein Starkbeben die Millionenmetropole am Bosporus erschüttern könnte. Deshalb arbeiten er und seine Kollegen daran, die Vorhersage von Erdbeben zu verbessern. Ort und Stärke eines drohenden Bebens können die Wissenschaftler bereits recht gut eingrenzen, nur der Zeitpunkt lässt sich kaum abschätzen.

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sz.de/hach/cat
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