Interview mit dem Physiker Götz Neuneck:"Sprengköpfe auf Europa"

Der geplante Raketenschild der USA soll den Westen von 2013 an vor atomaren Langstreckenwaffen aus Iran schützen: mit Radar- und Abfanggeschossbasen. Ein umstrittenes Versprechen.

Philip Wolff

SZ: Lässt sich eine Atomrakete überhaupt gefahrlos abfangen?

Interview mit dem Physiker Götz Neuneck: Das Archivbild aus dem Jahr 2000 zeigt einen Text der Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) und der US-Armee mit der Patriot Advanced Capability-3 (PAC-3) Rakete in New Mexiko.

Das Archivbild aus dem Jahr 2000 zeigt einen Text der Ballistic Missile Defense Organization (BMDO) und der US-Armee mit der Patriot Advanced Capability-3 (PAC-3) Rakete in New Mexiko.

(Foto: Foto: dpa)

Neuneck: Es kommt darauf an, ob man die Sprengköpfe inner- oder außerhalb der Atmosphäre trifft. Eine Langstreckenrakete legt ja den größten Teil ihres Weges im Weltall zurück. Gelingt es trotz parallel fliegender Attrappen, den Sprengkopf zu identifizieren und im All zu zerstören, würde in großen Mengen Schrott entstehen, der im Orbit kreist, oder beim Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht. Dadurch würde unten auf der Erde wahrscheinlich kaum Schaden angerichtet. Aber man hat beim chinesischen Anti-Satellitentest am 11. Januar dieses Jahres gesehen, was das im Weltraum bedeutet: Die Masse des abgeschossenen Wettersatelliten entsprach etwa dem Gewicht eines Sprengkopfes - und es war eines der schlimmsten Weltraumschrott produzierenden Ereignisse in der Geschichte der Raumfahrt. Das Risiko für die Internationale Raumstation ISS, mit Fragmenten von mehr als einem Zentimeter Größe zu kollidieren, ist um 76 Prozent gestiegen.

SZ: Und welche Risiken birgt ein Abschuss innerhalb der Atmosphäre?

Neuneck: Wird der Atomsprengkopf durch den Aufprall einer Abfangrakete in der Atmosphäre zerstört, wird Plutonium oder angereichertes Uran verstreut. Es kommt höchstwahrscheinlich zu keiner Kettenreaktion, aber das Material wird durch den Wind oder die Explosionswolke verteilt. Entscheidend ist, in welcher Höhe das passiert. Wenn ein Kilogramm Plutonium in ein paar Kilometern Höhe ausgestreut wird, kann das am Boden stark erhöhte Strahlung zur Folge haben, und das Zeug muss schnell abgetragen werden. Der Effekt ist vergleichbar mit dem einer radiologischen Bombe.

SZ: Warum kommt es bei so einem Abschuss zu keiner Kettenreaktion?

Neuneck: Das hängt mit der Konstruktion des Sprengkopfs zusammen. Wir wissen nicht, wie ein iranisches Modell aussehen würde, alles ist Spekulation. Aber wir nehmen an, dass es gewisse Sicherheitsstandards erfüllt, damit es nicht bei einem Transportunfall im eigenen Land in die Luft fliegen kann. Dann ist es so gebaut, dass es bei einem Aufprall nicht explodiert, sondern der Sprengkopf dabei in viele Teile zerlegt wird.

SZ: Unterstellt man den Fall einer Atomrakete aus Iran, die Richtung USA unterwegs ist: Wo wäre bei erfolgreicher Abwehr in der Atmosphäre mit dem Streu-Effekt zu rechnen, über den USA?

Neuneck: Nein, kurz vor dem Ziel hat der Sprengkopf einer Langstreckenrakete eine Geschwindigkeit von sechs bis acht Kilometern pro Sekunde, er durchfliegt die Atmosphäre in sehr kurzer Zeit. Bei dieser Geschwindigkeit ist es sehr unwahrscheinlich, dass er durch einen Abwehrflugkörper zerstört wird. Gut sichtbar ist die Rakete aber in der Startphase.

SZ: Der angenommene Fall würde also eher Iran oder seine Nachbarn treffen.

Neuneck: Ja, denn die Rakete ist in der Phase nach dem Start noch vergleichsweise langsam und leicht abzufangen. Das soll zum Beispiel ein amerikanischer Airborne-Laser an Bord einer Boeing-Transportmaschine leisten. Sollte dieses System funktionieren, droht eine weitere Gefahr: Wird beim Abfangschuss nur die Rakete zerstört, kann der Sprengkopf auch alleine weiterfliegen und dort, wo er niedergeht, durch eine Nuklearexplosion viele Menschen in den Tod reißen. Eine Studie der American Physical Society hat gezeigt, dass so ein Sprengkopf aus Iran mit dem Ziel USA dann auch in Europa herunterkommen und dort unkontrolliert explodieren kann.

"Sprengköpfe auf Europa"

SZ: Das heißt, der Ort der Explosion ist auf unbekanntes Terrain verschoben?

Neuneck: Genau. Es hängt natürlich noch davon ab, wie Rakete und Sprengkopf konstruiert sind, ob er zum Beispiel verbunden ist mit einem Höhenzünder. Dieser könnte in einer bestimmten Höhe über einer Stadt auch beim Absturz den Nuklearsprengkopf auslösen.

SZ: Ist ein Frühwarnsystem nahe Iran, das eine schnelle Reaktion gleich nach dem Rakatenstart ermöglicht, so gesehen überhaupt sinnvoll? Sind nicht die geplante Abfangbasis in Polen und das Radar in Tschechien, das Daten zur Zielerfasung im Weltall liefern soll, viel sicherer für die Bevölkerungen?

Neuneck: Nun, dieses Radar ist problematisch für das russische Militär. Es sieht weit in russisches Territorium hinein und kann, bezogen etwa auf ein Zweitschlags-Szenario zwischen Russland und den USA, auch startende russische Raketen sehr früh sehen und von Attrappen unterscheiden. Damit ist die harsch ablehnende russische Reaktion zu verstehen. Man fühlt sich provoziert.

SZ: Macht so ein Schild die Erde dann überhaupt sicherer?

Neuneck: Nein, und Schild ist auch ein irreführender Begriff, denn es prallt nicht alles daran ab. Wenn man zehn Abfanggeschosse hat, und es kommen 20 Raketen, gehen zehn durch. Also liegt es in der Logik dieser Pläne, dass ein Gegner, der die USA angreifen will - was ich angesichts ihres horrenden atomaren Abschreckungspotentials für absurd halte -, einfach mehr Sprengköpfe herstellt. Das System lädt zum Wettrüsten ein. Und da es die Nachbarstaaten des Iran nicht schützt, die Türkei, Teile Bulgariens und Rumäniens, müsste die Lücke durch ein zusätzliches Nato-Abwehrsystem geschlossen werden. Ich würde es Raketenwettlauf nennen, was da ausgelöst wird.

SZ: Beziehungsweise ausgelöst würde, falls das System überhaupt gebaut wird.

Neuneck: Wenn ich mir die Statements der amerikanischen, polnischen und tschechischen Regierung anschaue, habe ich keine Zweifel, dass das Ganze ohne klärende Gespräche mit Russland unilateral durchgezogen wird. Einige Systeme in Vandenberg in Kalifornien und in Fort Greely, Alaska, sind bereits stationiert, wenn auch Tests die einwandfreie Funktionsfähigkeit noch nicht gezeigt haben.

Eine detaillierte Darstellung der Raketenabwehrpläne der USA bringt das Magazin SZ Wissen.

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