Cambridge, Bahnhofsnähe, ein Pub namens "Salisbury Arms". Aubrey de Grey fährt mit einem alten Rennrad vor. Auch an diesem warmen Tag trägt er eine selbst gestrickte Kappe, einen geflickten Pullover, Turnschuhe. Er bestellt erst einmal ein Bier. Soweit der Auftritt. Andererseits: Wenn dieser Mann zu Konferenzen ruft, kommen die wichtigsten Altersforscher nach Cambridge.
Süddeutsche Zeitung: Mister de Grey, Sie sind jetzt 43, die ersten Haare werden grau, die Falten tiefer. Wie viele Jahre haben Sie noch vor sich?
Aubrey de Grey: Schwer zu sagen. Wenn es dumm läuft, werde ich schon morgen von einem herabfallenden Klavier erschlagen.
SZ: Das wäre unerfreulich, schließlich wollen Sie ja den Tod abschaffen.
Aubrey de Grey: Schon, aber Unfälle wird es auch in Zukunft geben, dagegen lässt sich nichts machen. Außerdem, da muss ich Sie korrigieren, will ich nicht den Tod abschaffen, sondern das Altern.
SZ: Spitzfindig! Wo ist der Unterschied?
Aubrey de Grey: Altern ist lediglich eine von vielen möglichen Todesursachen. Auch wenn Sie nicht mehr alt werden, können Sie noch immer vor einen Lastwagen laufen.
SZ: Warum dann der ganze Aufwand?
Aubrey de Grey: Weil das Altern - trotz Klavier und Lastwagen - mit Abstand die häufigste Todesursache ist, zumindest in der entwickelten Welt. Gelingt es uns, diese Bedrohung auszuschalten, werden die Menschen im Schnitt 1000 Jahre alt. Mindestens.
SZ: Tausendjähriges Leben - viele lässt das schaudern. Was macht Sie so sicher, dass die Menschen so etwas überhaupt wollen?
Aubrey de Grey: Ich glaube gar nicht, dass die Menschen ewig leben wollen. Nur, siech und jämmerlich enden wollen sie erst recht nicht. Deshalb sehnen sie sich nach einem langen, gesunden Leben. Nach ewiger Jugend.
SZ: Für immer 20 oder 30, ist das auf Dauer nicht unheimlich langweilig?
Aubrey de Grey: Ein bisschen Frustration wird sicherlich aufkommen, zumal das eine oder andere Risiko in Zukunft gemieden werden sollte - auch wenn es Spaß macht.
Doch das ist letztlich eine Frage der Abwägung: Wie schlimm ist es, nicht mehr Ski zu fahren? Schlimm. Aber schlimm genug, um die ewige Gesundheit aufs Spiel zu setzen?
SZ: Wird ohne einen natürlichen Tod die Selbstmordrate in die Höhe schnellen?
Aubrey de Grey: Nein, sie wird sogar runtergehen. Die Menschen werden einsehen: Okay, meine Lebensumstände sind derzeit mies, aber die Chance ist groß, dass sich das im Laufe der Zeit wieder ändert. Und weil die Menschen dem Leben einen höheren Wert beimessen, wird auch die Zahl der Toten durch Morde und Kriege sinken.
SZ: Ist Altern eigentlich eine simple Krankheit, die kuriert werden kann?
Aubrey de Grey: Altern ist auf jeden Fall ungesund, es ist schlecht für die Menschen. Das Risiko eines Beinbruchs steigt, alte Menschen können sterben, das ganze unschöne Programm eben.
SZ: Schon, aber kann man Altern auch heilen?
Aubrey de Grey: Nicht im klassischen Sinn, aber das ist gar nicht so wichtig. Es gibt für mich zwei Arten von Erkrankungen: Manche lassen sich vollständig kurieren, zum Beispiel indem man ein Serum spritzt, das ein Virus aus dem Körper vertreibt. Bei anderen Krankheiten, zum Beispiel bei Malaria, können wir dagegen nur die Symptome unterdrücken, das aber relativ gut. Wir können die Krankheit kontrollieren und damit - praktisch gesprochen - auch "heilen".
SZ: Beim Altern könnte das ähnlich laufen?
Aubrey de Grey: Ja, Menschen können in Zukunft unendlich lange gesund bleiben - aber nur, wenn sie sich einer periodischen Behandlung unterziehen.
SZ: Wird das einfach?
Aubrey de Grey: Oh, überhaupt nicht. Andernfalls hätte es schon jemand getan.
SZ: Aber Sie haben die Lösung gefunden?
Aubrey de Grey: Zumindest habe ich sieben wichtige Nebenwirkungen des Lebendigseins ausgemacht - Abfallprodukte des Stoffwechsels, die sich im Laufe des Lebens im Körper anhäufen und die wir beseitigen können.
SZ: Zum Beispiel?
Aubrey de Grey: Im alternden Körper sammeln sich vermehrt unerwünschte Zellen an. Diese Ablagerungen können quälende Probleme hervorrufen, etwa in den Gelenken. Gelingt es uns jedoch, körpereigene Killerzellen geschickt zu aktivieren, können wir gezielt gegen solche Ablagerungen vorgehen. Ähnlich verhält es sich mit allen anderen Alterserscheinungen.
SZ: Wann müsste die Therapie beginnen?
Aubrey de Grey: Die Abfallprodukte haben einen großen Vorteil: Sie sammeln sich zwar nach und nach im Körper an, richten zunächst aber kaum Schäden an. Mit meinen 42 Jahren kann ich noch immer fast so schnell laufen wie im Alter von 20 - und auch genauso gut denken. Bislang ist nichts schief gegangen.
SZ: Aber irgendwann wird auch Aubrey de Grey siech und senil.
Aubrey de Grey: Erst wenn eine bestimmte Schwelle überschritten ist. Dann wird es zugegeben schlimmer und schlimmer. Umgekehrt müssen wir die Schäden aber auch nur bis zu dieser Schwelle beseitigen. Wenn uns das gelingt, wäre das so, als würden wir alle Alterserscheinungen auslöschen. Die Schäden blieben dann auf einem überschaubaren Niveau.
SZ: Wie oft müssen die Menschen künftig zur Verjüngungskur?
Aubrey de Grey: Das wird ein bisschen wie bei der Pflege eines Autos sein. Soll der Wagen - also der Körper - immer gut aussehen und perfekt in Schuss sein, bringt man ihn häufig in die Werkstatt. Reicht es, dass das Auto zuverlässig fährt, kommt man nur alle paar Jahre zum Service.
SZ: Wie lange muss der Körper in der Werkstatt bleiben?
Aubrey de Grey: Die ersten Therapien werden sehr aufwendig und sehr kompliziert sein. Wahrscheinlich müssen die Menschen für längere Zeit ins Krankenhaus und unschöne Dinge über sich ergehen lassen. Anfangs werden die Therapien experimentell, riskant und teuer sein. Aber gleichzeitig wird ein immenser öffentlicher Druck entstehen, die Methoden zu verbessern und weiter auszudehnen.
SZ: Und dann?
Aubrey de Grey: Nach zehn oder zwanzig Jahren wird alles viel einfacher. Man muss höchstens noch einen Tag ins Krankenhaus, vielleicht kann man sich auch zu Hause Spritzen setzen und Pillen nehmen.
SZ: Wer wird das alles bezahlen?
Aubrey de Grey: Die Krankenkassen - da bin ich mir ganz sicher.
SZ: Aber die haben doch schon heute kein Geld.
Aubrey de Grey: Sobald die Menschheit realisiert, dass sie etwas gegen das Altern unternehmen kann, wird sie darin ein grundlegendes Menschenrecht sehen. Nehmen Sie sauberes Wasser: In allen entwickelten Ländern ist Wasser frei zu haben, egal wie arm die Menschen sind. Genauso wird es mit der Verjüngung auch sein. Als fundamentales Menschenrecht muss sie vom Steuerzahler finanziert werden, auch wenn sie deutlich teurer sein wird als sauberes Wasser.
SZ: Werden Sie das noch erleben?
Aubrey de Grey: Ich tue mein Bestes, und die Chancen stehen gar nicht so schlecht. Die Aussicht, das Altern zu unterdrücken, ist nur noch 30 Jahre entfernt.
SZ: Sehr weit sind Sie aber noch nicht gekommen.
Aubrey de Grey: Zugegeben, bislang haben wir wenig erreicht, aber immerhin etwas. Von den sieben zu lösenden Problemen werden derzeit drei im Tierversuch angepackt. So untersuchen wir zum Beispiel, wie alternde Gehirnzellen, die sich normalerweise nicht regenerieren, mit Hilfe der Stammzelltherapie aufgefrischt werden können.
SZ: Und die restlichen vier Herausforderungen?
Aubrey de Grey: Die sind leider noch viel weiter entfernt, bis zu zehn Jahren bei Mäusen. Und selbst dann ist es noch ein langer Weg bis zum Menschen - das könnte noch einmal 15 Jahre dauern. Vielleicht sogar deutlich länger, wenn wir Pech haben.
SZ: Was ist das Problem?
Aubrey de Grey: Geld, mehr nicht. Wenn ich einen unbegrenzten Betrag hätte, könnte ich umgehend die besten Wissenschaftler in der Welt für die Arbeit an diesen Problemen gewinnen.
SZ: Wer soll Ihnen das Geld geben? Die Pharmaindustrie?
Aubrey de Grey: Nein, die kann man abschreiben, die denkt viel zu kurzfristig. Auch Regierungen helfen nicht weiter, weil Investitionen in die Altersforschung noch keine Wählerstimmen bringen. Deshalb müssen wir uns an reiche Einzelpersonen und Stiftungen wenden.
SZ: Mister de Grey, eine Gewissensfrage: Ist Altern wirklich inakzeptabel?
Aubrey de Grey: Für mich schon, für die Gesellschaft scheinbar nicht. Wir verteidigen das Altern, so gut es geht, aber das ist lediglich eine Art Bewältigungsstrategie.
SZ: Eine was...?
Aubrey de Grey: Bewältigungsstrategie. Natürlich wissen wir Menschen, dass Altern schrecklich ist. Aber wir wissen auch, dass wir nichts dagegen tun können. Würden wir nun ständig an das schreckliche Ende denken, könnten wir unser Leben nie mehr genießen. Der einzige Ausweg: Wir müssen das Altern irgendwie gut finden.
SZ: Okay, und was ist so schlimm daran?
Aubrey de Grey: Diese Bewältigungsstrategie verhindert den Fortschritt, es gibt keinen Enthusiasmus, keine Bereitschaft, Geld zur Erforschung des Alterns auszugeben. Deshalb sind Tierversuche auch so wichtig. Sobald das Leben der ersten Maus verlängert wurde, wird eine große Debatte losbrechen.
SZ: Darüber, ob das Altern wirklich so gut ist wie immer behauptet?
Aubrey de Grey: Genau. Diese Diskussion wird exakt zehn Minuten dauern. Und dann geht der "Krieg gegen das Altern" los.
SZ: Das klingt jetzt sehr martialisch.
Aubrey de Grey: Ich finde die Formulierung mehr als angemessen. Die kollektive Erkenntnis, dass das Altern gestoppt werden kann, wird unsere Herangehensweise komplett verändern. Die Menschen werden bereit sein, große Anstrengungen auf sich zu nehmen, um das Sterben so schnell wie möglich zu beenden. Der Krieg beginnt, wenn die ersten Mäuse da sind - und er endet, wenn wir die Therapien für den Menschen haben.
SZ: Spielen Sie damit nicht Gott?
Aubrey de Grey: Nein, mit Sicherheit nicht. Religiöse Menschen werfen mir oft vor, ich würde Gott seiner Macht berauben. Das ist Quatsch. Wenn Gott will, kann er jemand mit 80 altersbedingt sterben lassen oder mit 800 durch einen Unfall - erinnern Sie sich an das Klavier! Wir spielen nicht Gott, im Gegenteil. Wir gehorchen Gott durch unsere Arbeit.
SZ: Wie das?
Aubrey de Grey: Altern bedeutet Leiden, und ein Gott wird alles tun, um das Leiden zu minimieren. Daher ist der Kampf gegen das Altern etwas, das Gott uns auftragen sollte.
SZ: Wenn die Menschen ewig leben, dürfen sie keine Kinder mehr bekommen. Andernfalls wird es eng auf der Erde.
Aubrey de Grey: Das Problem der Überbevölkerung wird verdammt schwer zu lösen sein. Es gibt Altersforscher, die machen es sich einfach und sagen: Wandern wir doch ins Weltall aus. Blödsinn! Oder sie verweisen auf die Vergangenheit: Bislang haben die Menschen auf einen Anstieg der Lebenserwartung immer richtig reagiert - indem sie weniger Kinder bekamen.
SZ: Warum nicht auch in Zukunft?
Aubrey de Grey: Weil es einen großen psychologischen Unterschied gibt zwischen einigen Kindern und keinen Kindern. Die große Herausforderung wird sein, die wenigen Unfalltoten durch Kinder zu ersetzen, gleichzeitig aber die Bevölkerungszahl konstant zu halten.
SZ: Und wie soll das erreicht werden?
Aubrey de Grey: Ich weiß es nicht. Die Gesellschaft als Ganzes muss dieses Problem lösen, nicht wir Forscher.
SZ: Machen Sie es sich da nicht zu leicht?
Aubrey de Grey: Nein, die Wissenschaft hat vielmehr zur Pflicht, den Menschen so schnell wie möglich eine derartige Entscheidung zu ermöglichen: Entweder sind den Menschen viele Kinder wichtig, dann müssen sie das Sterben in Kauf nehmen. Oder aber Kinder werden nicht mehr als die große Erfüllung angesehen, weil es einfach mehr Spaß macht, 1000 Jahre zu leben. Wir Forscher haben kein Recht, den Menschen diese Wahlmöglichkeit vorzuenthalten.
SZ: Sie haben noch nie an einem Labortisch gearbeitet. Wie können Sie so sicher sein, dass Ihre sieben Punkte auch umgesetzt werden können?
Aubrey de Grey: Weil ich mit Forschern aus den Labors rede - und das quer durch alle relevanten Fachgebiete. Ich kenne nicht nur deren Arbeit, ich kenne auch die Menschen selbst. Auf meinen Konferenzen bringe ich die weltweit führenden Forscher der einzelnen Disziplinen zusammen, Menschen, die sich sonst nie treffen würden.
SZ: Ihre Kritiker sind dennoch skeptisch. Als gelernter Informatiker, so der Vorwurf, hätten Sie von all dem eh keine Ahnung.
Aubrey de Grey: Das ist infam und beschämend. In der Wissenschaft sollte die Idee zählen - nicht, wer die Idee hat. Und vor fünf, sechs Jahren, als ich noch harmlose Dinge gemacht habe, hat das auch niemand zu mir gesagt.
SZ: Was hat sich seitdem geändert?
Aubrey de Grey: Ich will einen Teil des knappen Forschungsbudgets für meine Arbeiten. Ich rede vom ewigen Leben, was bislang unter Gerontologen tabu war. Ich schlage Dinge vor, die meine Kollegen nicht wirklich verstehen. Doch statt das einzuräumen, müssen sie die Illusion des Allwissenden aufrechterhalten - und sie gehen zu persönlichen Angriffen über.
SZ: Sie reden vom "tausendjährigen Leben", tragen Zopf und Methusalem-Bart, tauchen im Strickpulli auf Konferenzen auf. Macht es Spaß, zu provozieren?
Aubrey de Grey: Es deprimiert mich nicht. Aber eigentlich hätte ich lieber ein ruhiges Leben und eine Arbeit im Hintergrund. Ich mache das alles nur, weil es sein muss. Wissenschaft wird seit jeher von Menschen vorangebracht, die ketzerisch auftreten.
SZ: Wer die Welt verändern möchte, braucht ein gesundes Selbstbewusstsein.
Aubrey de Grey: Wenn ich Geld von Bill Gates für mein Forschungsprojekt will, kann ich ihm nicht schreiben: Lieber Mr. Gates, bitte geben Sie mir doch eine Milliarde Dollar. Wenn ich ihm aber durch mein Auftreten ins Auge falle, dann könnte es sein, dass er eines Tages auf mich zukommt.
SZ: Ist zu viel Aufmerksamkeit für einen seriösen Forscher nicht auch hinderlich?
Aubrey de Grey: Nein, im Gegenteil. Vor einigen Jahren konnten mich meine Kritiker noch ignorieren. Das geht nicht mehr. Zwar sind viele Kollegen sauer über mein Auftreten und meine Präsenz - insgeheim wollen sie aber mehr über meine Arbeit erfahren. Schließlich werden sie nicht jünger.
Aubrey de Grey, 43, ist einer der bedeutendsten, zugleich aber auch umstrittensten Altersforscher. Der gebürtige Londoner arbeitet am Institut für Genetik der Universität Cambridge, wo er für die Pflege seiner Datenbank zuständig ist - sein Wissen rund um die Gerontologie hat sich der gelernte Informatiker im Selbststudium angeeignet. Weltweit Aufmerksamkeit erregte de Grey vor zwei Jahren, als er sieben wissenschaftliche Ansätze vorstellte, mit denen das Altern des Menschen gestoppt werden soll.