In einem neuen Sonderbericht bescheinigt der Weltklimarat IPCC den Staaten kaum Fortschritte beim Kampf gegen den Klimawandel. Das Ziel, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen, scheint fern. Oliver Geden forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik und am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, vor allem zur Klimapolitik. Er wird Leitautor im nächsten Sachstandsbericht des IPCC sein.
SZ.de: Der wissenschaftliche Konsens ist ziemlich eindeutig: Um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müssen die Emissionen rasch sinken, stärkere Einschnitte sind nötig. Zugleich wurden auf EU-Ebene kürzlich härtere Klimaziele abgelehnt. Entfernen sich Wissenschaft und Politik eigentlich immer weiter voneinander?
Oliver Geden: Das kann man so sehen. Die Politik verhält sich da doppeldeutig, weil sie auf globaler Ebene immer ambitionierte Ziele verabschiedet, aber diesen globalen Zielen bei der nationalen Umsetzung nicht folgt. Diese Lücke wird immer größer.
Wie könnte man diese Lücke schließen? Und wie groß ist sie überhaupt?
Man hat in Paris vor drei Jahren beschlossen, deutlich unter zwei Grad und möglichst auch unter 1,5 Grad bleiben zu wollen. Zugleich haben die Staaten freiwillige Selbstverpflichtungen abgegeben, die zu einem Temperaturanstieg von über drei Grad führen würden. Jetzt bleibt abzuwarten, ob die Regierungen von dieser Woche an mit neuen nationalen Zielen und Maßnahmen reagieren. Und das bedeutet: Wenn man das 1,5 Grad-Ziel ernst nimmt, müssen wir zur Mitte des Jahrhunderts bei netto null Emissionen stehen. In den Industrieländern dürften überhaupt keine neuen fossilen Infrastrukturen mehr gebaut werden. Und man bräuchte nicht nur den Kohleausstieg, sondern auch den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor bei PKWs und anderen CO₂-intensiven Anwendungen. Technisch wird es aber nicht möglich sein, alle Emissionen auf null zu fahren. Manches muss man mit sogenannten negativen Emissionen ausgleichen.
Was versteht man darunter?
Schon emittiertes Kohlendioxid (CO₂) aus der Atmosphäre zu entnehmen. Man denkt dabei oft zuerst an Maßnahmen wie Aufforstung. Man kann sich auch ein Dutzend technischer Möglichkeiten vorstellen: Etwa CO₂ durch Biomasse binden, diese Pflanzen in Kraftwerken verbrennen und das CO₂ anschließend unter die Erde bringen. Man kann auch Moore renaturieren oder CO₂ direkt aus der Umgebungsluft ziehen und unter der Erde speichern. Da gibt es viele Möglichkeiten.
Warum kommen sie nicht zur Anwendung?
Fast alle diese Technologien stecken noch in den Kinderschuhen, es bräuchte erst einmal mehr Forschung. Gleichzeitig geht der Weltklimarat davon aus, dass wir sie in enormem Umfang nutzen müssen, um zwei Grad oder 1,5 Grad zu erreichen. Auch da gibt es eine riesige Lücke zwischen dem, was die Politik weiß und wie sie handelt. Diese Technologien werden nicht gebraucht, um Klimaschutz zu ersetzen, sondern sie kommen noch oben drauf. Wir müssen die Emissionen auf null oder auf fast null senken. Und dann brauchen wir auch noch Technologien, um CO₂ aus der Atmosphäre zu ziehen, um deutlich unter die Null-Linie zu kommen.
Stichwort Biomasse: In Deutschland hat der Ausbau der Bioenergie zu großen Monokulturen geführt. In Entwicklungsländern werden für Biosprit Regenwälder abgeholzt. Handelt man sich mit solchen Technologien nicht das nächste große Umweltproblem ein?
Das wäre durchaus möglich. In Deutschland hat Bioenergie einen sehr schlechten Ruf. Gleichzeitig ist es die größte Quelle von erneuerbarer Energie in Deutschland, mit mehr als 50 Prozent. Darüber reden wir aber nicht, weil es uns nicht gefällt. Wenn man das weiter ausbauen wollte, hätte man mit massivem Widerstand zu rechnen. Carbon Capture and Storage (CCS, das Speichern von CO₂ unter der Erde, statt es in die Atmosphäre zu entlassen, Anm. d. Red.) will hierzulande auch niemand haben. Deshalb ist es gut, ein großes Portfolio zu erforschen. Jedes Land kann sich dann für andere Technologiepfade entscheiden. Aber es kann nicht sein, dass am Schluss die Medizin schlimmer ist als die Krankheit. Man muss genau schauen: Wie effektiv sind diese Technologien und welche unerwünschten Nebenwirkungen haben sie? Würde man die für 1,5 Grad notwendige Entnahme von CO₂ nur mit Aufforstung und Biomasse-CCS realisieren, bräuchte man unglaublich große Landflächen, was zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion gehen könnte.
Könnte der Fokus auf negative Emissionen nicht dazu verleiten, beim Klimaschutz nachlässig zu werden? Nach dem Motto: Wir können das später eh wieder aus der Atmosphäre holen.
Wenn wir eine Technologie finden würden, die ökologisch in Ordnung ist, dann könnte der Ruf laut werden: Dann können wir doch auf einem höheren Niveau weiter emittieren und gleichen es eben aus. Diese Gefahr besteht. Das sieht man jetzt zum Beispiel in Polen, wo sehr stark auf das Thema Waldschutz und Aufforstungen gesetzt wird und man gleichzeitig argumentiert, dass man deshalb bei der Kohle nicht so starke Einschnitte braucht. Diese Debatten sind wohl unvermeidbar, da muss man durch. Das verbleibende CO₂-Budget für das 1,5-Grad-Ziel ist aber so knapp, dass wir rechnerisch nicht umhin kommen, zusätzlich zum klassischen Klimaschutz auch CO₂ aus der Atmosphäre zu ziehen.
Warum ist das 1,5-Grad-Ziel überhaupt so bedeutsam? Würden nicht auch zwei Grad als Zielmarke genügen?
Das ist eine Sache der Perspektive. 2015 haben die schwächsten Entwicklungsländer und die kleinen Inselstaaten dieses Ziel in Paris durchgesetzt, weil sie sagen: Für uns wird es schon spätestens bei 1,5 Grad sehr ungemütlich, ja lebensbedrohlich. Die Unterschiede bei den Klimawandelfolgen zwischen 1,5 Grad und 2 Grad sind beträchtlich. Je geringer der Temperaturanstieg sein wird, desto weniger Klimawandelfolgen werden wir spüren. Von jedem Zehntel Grad Temperaturanstieg, das wir vermeiden, profitieren wir. Aber umsonst ist ehrgeiziger Klimaschutz eben auch nicht zu haben.
Letztlich ist es eine Abwägungsentscheidung. Wenn das 1,5-Grad-Ziel für Entwicklungsländer wichtig ist, ein Großteil der Anstrengungen aber von Industrieländern erbracht werden muss, stellt sich die Frage, wie wichtig das den Industrieländern ist. Die Gefahr besteht, dass alle sagen: Ja das finden wir sehr wichtig. Aber bei der Frage "Wer macht's?" jeweils auf andere zeigen.
Was würden Sie der Politik raten?
Eine Forderung für die EU und für Deutschland, die sich aus dem 1,5-Grad-Ziel ableiten lässt, ist, dass wir spätestens bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein müssen. Alle Industrieländer müssen ihre Klimaziele verschärfen, alle Emissionsquellen müssen auf den Prüfstand. Noch wichtiger wäre aber, was Industrieländer kurzfristig tatsächlich tun. Einfach nur ein neues Ziel für 2050 zu verabschieden, tut heutigen Generationen nicht wirklich weh.