Intelligente Stromversorgung:Das Internet der Energie

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Das heutige Stromnetz sei "dumm", befinden die Vorreiter der "intelligenten Netze". Ihre Ideen sind elektrisierend, doch manche Details noch unausgegoren.

Christopher Schrader

Die Aula des Wirtschaftsministeriums in Berlin hat normalerweise nichts mit gefrorenem Fisch zu tun. Es ist ein heller, hoher Raum mit Fenstern auf die Invalidenstraße, und statt pseudo-antiker Fresken ziert ein Mosaik von Bildern aus der deutschen Geschichte die Decke: Ludwig II., Adenauer, Uschi Obermaier und hunderte andere würdige Köpfe. Doch am vergangenen Donnerstag gegen 18 Uhr hat Ulrich Focken, Geschäftsführer der Firma Energy & Meteo Systems in Oldenburg, von der Aula aus ein Kühlhaus für gefrorenen Fisch in Cuxhaven abgeschaltet. Und eines Tages wird das staunende Publikum sagen können, es war dabei, als damit eine der Keimzellen eines neuen globalen Netzes in Betrieb ging: des Internets der Energie.

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Die in Berlin versammelte Experten sehen sich als Pioniere. Sie wollen die Stromnetze weltweit mit neuer Intelligenz versehen. "Das Netz ist heute dumm, der Strom darin fließt nur in eine Richtung: vom Großkraftwerk zum Verbraucher", sagte Eicke Weber, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in Freiburg. "In Zukunft fließt der Strom in beide Richtungen, und Strom wird dann verbraucht, wenn er preisgünstig ist." Industrie, Gewerbe und Privathaushalte könnten in Zukunft ihren Energieverbrauch besser managen und damit sowohl Geld sparen als auch die Umwelt schützen.

Dazu müssten zwei Materialien in Kontakt kommen, das Kupfer der elektrischen Leitungen mit dem Silizium neuer Steuergeräte, sagt der Münchner Umweltberater Ludwig Karg; er leitet die Begleitforschung zum staatlichen Programm E-Energy, dessen Mitglieder sich in Berlin zu ihrem ersten Kongress getroffen haben.

"Das ist das größte Infrastrukturprojekt aller Zeiten"

Das Thema elektrisiert unter dem englischen Schlagwort "smart grids" (kluge Netze) längst auch die großen Konzerne. Der Netzanbieter Cisco hält den Markt für 100-mal so groß wie den der Internet-Technik und erwartet für sich 20 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr mit der Technik. Siemens schätzt seinen Anteil bis 2014 auf sechs Milliarden Euro. "Das ist das größte Infrastrukturprojekt aller Zeiten", sagte in Berlin Henning Kagermann, Präsident der Acatec, der Akademie der Technikwissenschaften.

Deutschland müsse seine internationale Vorreiterrolle in der Forschung nun in wirtschaftliche Erfolge ummünzen, mahnte Hans-Joachim Otto (FDP), Staatssekretär im Wirtschaftsministerium: "Wer die Standards setzen kann, hat das Geschäft in der Hand." Allerdings ist dazu das deutsche Programm im internationalen Vergleich dürftig ausgestattet. 140 Millionen Euro stehen für E-Energy bis 2012 bereit. Die USA und China haben dagegen jeweils viele Milliarden Dollar für smart grids ausgelobt.

An Ideen mangelt es den Deutschen jedenfalls nicht, wie Ulrich Focken in Berlin demonstrierte. Er hat zusammen mit Wolfram Krause vom Norddeutschen Stromversorger EWE in Cuxhaven das Kühlhaus und den lokalen Windpark Belum zusammengeschaltet; Cuxhaven ist eine der sechs E-Energy-Modellregionen. Im Kühlhaus springt nun der Kompressor bevorzugt dann an, wenn der Windpark gerade Strom im Überfluss liefert; bei plötzlicher Flaute hingegen ruht auch die Kühlung.

Eine solche unerwartete Windstille hatte Focken von Berlin aus provoziert, indem er einfach ein Windrad abschaltete. Innerhalb von Sekunden regulierte auch das Kühlhaus seinen Energieverbrauch nach unten. "Das kann der Fisch problemlos aushalten", sagt Krause, "im Kühlhaus herrschen bis zu 25 Grad minus, und es erwärmt sich nur um ein Grad pro Tag." Erst wenn sich der Fisch der lebensmittelrechtlich bedenklichen Grenze von minus 18 Grad nähere, werde unabhängig vom Wind gekühlt.

Bis dahin profitieren alle Partner von der ungewöhnlichen Kopplung. Der Kühlhaus-Betreiber bekommt bei kräftigem Wind günstigere Strompreisen. Falls seine Anlage ihren Bedarf bei Flaute reduziert, oder wenn gerade überall in Cuxhaven die Kochherde Strom verbrauchen, könnte er noch einmal für das Bereitstellen sogenannter Regelenergie bezahlt werden. "Negawatts", ein Wortspiel mit der Einheit der elektrischen Leitung Megawatt, heißt solch zur rechten Zeit nicht verbrauchter Strom auch, und er wird zunehmend wertvoll. Schließlich muss ein Stromversorger wie EWE nicht extra ein Kraftwerk anwerfen, um den Spitzenbedarf zu decken.

"Solche Lastspitzen sind besonders teuer und besonders schmutzig", sagt Ludwig Karg, weil dafür Anlagen in Bereitschaft gehalten werden und erneuerbare Energiequellen kaum eine Rolle spielen. Nach dem Cuxhavener Modell aber produziert jedes Kühlhaus an der Nordsee genügend Negawatt, um die unvermeidlichen Prognose-Fehler eines Windrades von fünf Megawatt abpuffern: Das sind die größten Anlagen, die zurzeit in den Offshore-Parks vor der Küste installiert werden.

Sie und viele andere Quellen erneuerbarer Energien sollen den Strommarkt in Zukunft prägen. Das Angebot hier hängt dann auch vom Wetter ab, außerdem wird die Energie nicht mehr an relativ wenigen Orten von Großkraftwerken mit hunderten Megawatt eingespeist, sondern dezentral von vielen im Vergleich dazu kleinen Anlagen. "Zur Lösung des Klimaproblems brauchen wir sehr viel regenerative Energie. Wenn dieser Flohzirkus zusammengehalten werden soll, dann kann das nur mit intelligenten Netzen gelingen", sagte in Berlin Jürgen Schmid vom Institut für Solare Energieversorgungstechnik der Universität Kassel.

Die Strombranche bereitet sich daher auf einem bevorstehenden Paradigmenwechsel vor. Die Erzeugung werde nicht mehr dem momentanen Verbrauch angepasst, sondern die Stromabnahme richte sich dann nach dem augenblicklichen Angebot. Das beginnt bei Firmen, die ihren Energiebedarf bald genauso steuern werden wie die Anlieferung von Rohstoffen und die Arbeitszeiten ihrer Angestellten. Aber es wird auch die Privathaushalte bald erreichen. "Wir sind wieder in einer elenden Langsamphase, wie zu Anfang bei den Digitalkameras", sagte in Berlin Gunther Dueck von IBM, "aber irgendwann geht es ganz schnell."

Ab 2011 zum Beispiel müssen Energieversorger ihren Kunden auch Stromtarife anbieten, die von Stunde zu Stunde schwanken und dann mal weit über, mal weit unterhalb den bislang üblichen etwa 20 Cent pro Kilowattstunde liegen. Dann könnten auch vollkommen ungewohnte Firmen Dienstleistungen rund um den Strom offerieren, zum Beispiel die detaillierte Analyse des Verbrauchs.

"Paradigmen-Wechsel in der Technologie sind Schlüsselmomente für den Eintritt neuer Anbieter in den Markt", sagt Henning Kagermann. Und André Quadt aus der Modellregion Aachen ergänzt: "Zukünftige Produkte aus dem Bereich E-Energy sind komplex und erklärungsbedürftig. Sie müssen für den Kunden erst mal erlebbar gemacht werden."

Zum Beispiel könnte es auch für den Betreiber einer privaten Gefriertruhe interessant sein, sein Gerät wie der Kühlhausbetreiber in Cuxhaven nur dann anspringen zu lassen, wenn der Strom gerade günstig ist. Oder wenn die Energie, die sein Versorger eingekauft hat, gerade zu einem hohen Anteil aus erneuerbaren Quellen stammt.

Umgekehrt könnte er den Strom aus der Batterie seines Elektoautos ins Netz schicken, wenn dort die Preise steigen. Die nötigen Informationen müsste das E-Werk mit dem Strom ins Haus liefern. André Quadt spricht von der "intelligenten Kilowattstunde", und die Truhe in Vorratskeller müsste darauf automatisch reagieren. "Alle Geräte, die signifikant Strom verbrauchen, werden doch ohnehin von Mikroprozessoren gesteuert. Die Zusatzfunktion könnten wir denen auch noch beibringen", sagt er. Dazu bräuchte der Haushalt dann aber eine Netzbox, die diesen neuen Umgang mit der Energie steuert. "Wenn der Verbraucher dieses Ding selbst programmieren muss, haben wir schon verloren", warnt der Umweltberater Ludwig Karg. "Er muss es im Laden kaufen und auf 'grün' oder 'billig' schalten können - fertig."

Problem Datenschutz

In der E-Energy-Region Mannheim arbeiten die Forscher darum an einem sogenannten Energiebutler, der die Dinge für die Familie unauffällig regelt. Er soll zudem die anfallenden Daten vor Missbrauch schützen, schließlich lässt sich aus dem minütlich erhobenen Stromverbrauch vieles über das Privatleben ablesen, das bei bisher üblichen Jahresabrechnungen verborgen blieb.

"Die Daten müssen in der Wohnung bleiben, der Versorger bekommt nur, was er für die Abrechnung unbedingt braucht", sagt André Quadt. Und der Jurist Oliver Raabe vom Karlsruher Institut für Technologie ergänzt: "Wir bekommen eine schlechte Presse, und mit Recht eine schlechte Presse, wenn wir den Datenschutz nicht ganz oben auf unsere Liste setzen."

Um diese neuen Möglichkeiten, Chancen und Risiken zu fassen, "brauchen wir eine neue Straßenverkehrsordnung für den Netzverkehr", hat Staatssekretär Hans-Joachim Otto in Berlin angemahnt. Psychologen warnen zudem, gerade die Privathaushalte nicht mit den vielen neuen Möglichkeiten zu erschlagen, die das Internet der Energie bereithält.

Derzeit diskutierten die Experten zum Teil über weltfremde Mätzchen, moniert der IBM-Manager Gunther Dueck. "Wenn die Waschmaschine um vier Uhr nachts fertig ist und man spart dann zwei Cent - glauben Sie, das interessiert jemanden?", fragte er in Berlin.

"Die Stromversorgung ist ein Kulturgut, keine Ware", sagte Georg Stark von der Marktforschungsfirma Steinweg-Institut in Köln. Der Kunde vertraue seinem Lieferanten blind, wenn er zum Beispiel nachts auf die Toilette tappe und nach dem Lichtschalter taste. Psychologisch betrachtet ähnele die Situation der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Stark zeigte das Foto einer stillenden Mutter. "Und da wollen Sie rein mit ihren smart grids", rief er den Zuhörern zu. "Überlegen sie sich das gut."

© SZ vom 1.12.2009/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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