Süddeutsche Zeitung

Insektensterben:Rettet die Insekten!

Drei Viertel aller Insekten sind in den vergangenen 27 Jahren aus Deutschland verschwunden, doch noch immer zögert die Politik zu handeln. Dabei verbietet es die Dramatik dieser Entwicklung, weiter zu warten.

Kommentar von Tina Baier

Spätestens jetzt muss allen klar sein, dass etwas unternommen werden muss, um Falter und Fliegen, Bienen, Wespen und Käfer zu retten. Was viele Menschen längst geahnt haben, ist bewiesen: Drei Viertel aller Insekten sind in den vergangenen 27 Jahren aus Deutschland verschwunden. In Anbetracht dieser Dimension von einem großen Insektensterben zu sprechen, ist wirklich nicht übertrieben. Die Tatsache, dass dieser enorme Schwund in Schutzgebieten festgestellt wurde, in denen die Natur zumindest noch halbwegs intakt sein sollte, macht das Ganze noch beunruhigender. Wie mag es den Insekten da erst anderswo gehen?

Politik und Wissenschaft müssen alles daran setzen, um diese Entwicklung zu stoppen und zu retten, was noch zu retten ist. Ist eine Art erst einmal verschwunden, kann das nie wieder rückgängig gemacht werden. Insekten sind zwar oft lästig, aber wichtig für das Überleben unzähliger Pflanzen und Tiere und letztlich auch des Menschen. Dazu muss man wissen, dass nicht nur Honigbienen Pflanzen bestäuben, sondern auch andere Arten. Etwa 80 Prozent aller Wildpflanzen sind darauf angewiesen, dass sie von Insekten bestäubt werden. Bleiben die Tiere weg, können sich auch die Pflanzen nicht mehr vermehren und sterben früher oder später aus. Dazu kommt, dass sich andere Lebewesen von Insekten ernähren, darunter viele Vögel. Umweltschützer sehen deshalb auch einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Kerbtiere und dem vielerorts beobachteten Rückgang von Vögeln, wie etwa den Staren.

Es gilt, einen gemeinsamen Plan zur Rettung zu schmieden. Der ist aber nicht in Sicht. Weder Wissenschaft noch Politik haben sich da bisher hervorgetan. Die aktuelle Studie, die den Insektenschwund jetzt erstmals in seinem ganzen Ausmaß deutlich macht, beruht nicht etwa auf den Daten einer großen wissenschaftlichen Organisation, sondern ist Verdienst der ehrenamtlichen Mitglieder eines kleinen Vereins für Insektenkunde.

Politik und Wissenschaft tun sich auch deshalb so schwer, etwas gegen den Schwund der Insekten zu unternehmen, weil die Gründe dafür nicht ganz klar sind. Allerdings gibt es starke Hinweise. Die Tatsache, dass nicht nur einzelne Arten dezimiert werden, sondern offenbar alle fliegenden Insekten, deutet auf einen oder mehrere Verursacher hin, die großräumig in die Natur eingreifen. Verdächtig sind unter anderem die allgegenwärtigen Stickstoffverbindungen, die - nicht nur, aber zu einem großen Teil - aus Düngern der intensiven Landwirtschaft stammen. Und natürlich die Pestizide, speziell die Neonicotinoide, die das Nervensystem sehr vieler Insekten angreifen.

Die Reaktion des Deutschen Bauernverbands, wonach es sich "verbietet", "voreilige Schlüsse in Richtung Landwirtschaft" zu ziehen, ist angesichts der doch sehr wahrscheinlichen Zusammenhänge absurd. Die Dramatik der Lage verbietet es vielmehr, einfach abzuwarten oder weitere Studien zu fordern, um nicht handeln zu müssen.

Es vergeht zu viel Zeit, bis noch alles ins letzte Detail geklärt ist; dann wird es zu spät sein. Die finale Klärung der Todesursache macht nämlich die ausgestorbenen Arten nicht wieder lebendig. Man muss so schnell wie möglich da eingreifen, wo es voraussichtlich am meisten bringt. Erstens: Insektizide wenigstens auf den Feldern verbieten, die inmitten von Naturschutzgebieten liegen. Zweitens: Den Einsatz von Chemikalien auf den Feldern wenigstens verringern. Die Bauern werden nicht darunter leiden.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2017
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