Insekten:Solange Ameisen krabbeln, stehen die Bagger still

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Der Umzug von Ameisenhaufen ist echte Handarbeit. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Die Autobahn im Norden Berlins wird ausgebaut. Für die "Polizei des Waldes" bedeutet das: Sie muss weg. Unterwegs mit einem Ameisen-Umzugsservice.

Von Kathrin Zinkant, Berlin

Es ist kurz vor fünf Uhr an einem kühlen Julimorgen nördlich von Berlin, als der Umzugswagen unvermittelt von der Straße auf eine Wiese abzweigt und in den brandenburgischen Wald rumpelt, vorbei an Birken, Buchen, jungen Eichen, bis sie wenige Meter hinter dem Waldrand sichtbar wird: die Autobahn.

Je zwei Spuren hat sie in beide Richtungen, und wer sich den Betrieb um diese Stunde anguckt, dem ist klar: Lange geht das nicht mehr gut. Pendler, Lkw, Durchreisende, auf dem Asphalt ist es selbst im Morgengrauen voll. Die "Lebensader der Region", wie die brandenburgische Verkehrsministerin Kathrin Schneider die A 10 mal genannt hat, droht zu kollabieren. Im Süden schlingt sie sich längst sechsspurig um die Hauptstadt. Jetzt soll sie auch hier im Norden breiter werden. Im vergangenen Jahr haben die Bauarbeiten begonnen. Der Abschnitt um Birkenwerder könnte schon fertig sein. Gäbe es bloß nicht so viele Waldameisen hier.

Ameisen buddeln gerne tief. Da muss man hinterherbuddeln, um alle zubekommen. (Foto: zint)

Alle zehn bis 50 Meter wölbt sich ein unscheinbares Nest aus dem Boden. Und solange die Tiere da sind, darf hier kein Bagger auffahren: Die berühmte "Polizei des Waldes" genießt schon seit 200 Jahren einen besonderen Status in Deutschland. Nicht weil die Waldameise vom Aussterben bedroht wäre. Sondern weil der Wald von den Tieren nahezu abhängig ist. Die Ameisen vernichten Schädlinge im großen Stil, sie bieten anderen Waldbewohnern Unterschlupf, verteilen Pflanzensamen und erneuern den Boden. Das Problem ist, dass sie ihre Nester stets am Rande des Waldes bauen. Auch dort, wo der Wald an die Autobahn grenzt. Weshalb die Bauarbeiter hier nicht loslegen können. Erst brauchen die Ameisen eine neue Heimat.

Einer der Umzugshelfer schaufelt das Gewimmel mit bloßen Händen in einen Sack

Der erste Umzugswagen ist schon da, als Mathias Pösch sein Auto mit Anhänger auf dem schmalen Weg neben der Fahrbahn lenkt. Die Kollegen haben das Werkzeug ausgepackt, es ist kein ehrenamtliches Team, alle fünf Ameisenumsiedler sind Spezialisten. Sie arbeiten für Nagola Re, eine Firma, die Industrie- und Tagebaubrachen ökologisch renaturiert. Ameisen sind zwar nicht das Kerngeschäft des brandenburgischen Unternehmens, aber der Firmengründerin und Chefin, Christina Grätz, liegen sie am Herzen.

Bestechungsversuch: Den Waldameisenhaufen umgibt ein Ring aus Zucker - eine erste Nahrungsquelle für die Neuankömmlinge. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

In 13 Jahren hat sie selbst um die 1000 Nester versetzt - und immer mehr Mitarbeiter mit ihrer Leidenschaft angesteckt. Gemeinsam stehen Grätz und Pösch jetzt vor Nest Nummer 81, einem unscheinbaren Hügel aus braunen Baumnadeln, der sich zwischen toten Birkenstämmen hervorwölbt. Man könnte das Nest leicht übersehen, steckte nicht ein nummerierter Pflock neben dem Hügel. Sechs bis neun Umzüge schafft das Team am Tag, über Wochen hinweg, allein in diesem Abschnitt der geplanten Baustelle sind knapp 240 Nester zu versetzen.

Christina Grätz beugt sich abwechselnd über Nummer 81 und über ein Tablet in ihrer Hand. "Guck mal, da ist nicht viel Aktivität", sagt die Biologin und weist auf den Hügel, der bei näherem Hinsehen eigentlich ganz lebendig aussieht. Schwarz-rote Arbeiterinnen krabbeln heraus und hinein, es wimmelt und wuselt, aber Grätz guckt kritisch. Ameisen sind wechselwarm und zu dieser Jahreszeit eher früh auf den Beinen - je wärmer es am Tage wird, desto aktiver die Bewohner des Nestes. Deshalb starten Ameisenumsiedler zu derart unchristlichen Uhrzeiten und setzen im Sommer normalerweise gar keine Ameisen um. Besser eignen sich Frühling oder Herbst, wenn am Morgen noch viele Tiere träge zu Hause hocken und mit dem Staat umziehen. An einem Tag wie heute dagegen sollten rund um das Nest eigentlich ein paar mehr Ameisen unterwegs sein.

"Gucken wir mal, was da los ist." Pösch zieht seinen Pulli aus und greift zur Kettensäge. Nicht nur der Hügel gehört zum Nest, auch die morsche Birke daneben ist von den Ameisen bewohnt. Ein Teil davon muss mit. Die Säge heult auf, gleitet durch den Stamm wie durch Butter, dann ist es still. Und plötzlich hat sich die Frage nach der Aktivität erledigt: Ameisen quellen aus dem Nest, bereit, es zu verteidigen. Der Stumpf ist übersät mit aufgeregten Tieren.

Er wird in eine Decke gewickelt und neben das Nest gelegt. Pösch schnappt sich eins der winzigen Tiere, hält es zwischen Daumen und Zeigefinger fest und klemmt sich eine Art Diamantenlupe vors Auge. Am häufigsten findet das Team hier die Kahlrückige Waldameise, Formica polyctena, zumindest vermuten die Umsiedler das. Selbst mit der Lupe ist die Art schwer von der selteneren Roten Waldameise zu unterscheiden, der einzige Unterschied ist die Zahl der Borsten auf den winzigen Körpern. Die Kahlrückige ist etwas weniger behaart. Pösch zählt. "Ich bin mir ziemlich sicher, das ist eine Polyctena."

Der Umzug kann jetzt richtig losgehen. Grätz holt einen Stapel großer Papiersäcke aus dem Anhänger. Pösch greift mit bloßen Händen in das lockere Material des Hügels. Eilig schaufelt er das Gewimmel in den ersten Sack, nach wenigen Sekunden sind seine Unterarme übersät mit aufgeregten Tieren. Nicht jeder Umsiedler traut sich das. Waldameisen beißen und versprühen Gift. Bis zu 70 Prozent des Sekrets bestehen aus Ameisensäure. Mathias Pösch streckt den Arm hoch. "Riechen Sie mal!" Ein ätzender Geruch steigt in die Nase. "Die meisten Leute, die so etwas machen, tragen Handschuhe", erklärt der Cottbuser, während er weiter schaufelt. "Aber mit bloßen Händen hat man mehr Gefühl." Christina Grätz nickt. "Gesunde Haut hält das aus", erklärt sie. Wenn sie wund ist, brennt es allerdings wie die Hölle."

Die Ameisen-Umzugshelfer verladen Säcke mit dem Inhalt eines Ameisenhaufens. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Als der Hügel verpackt ist, muss der Spaten ran, denn der größte Teil des Nestes liegt tief im sandigen Boden. Ameisen sind grandiose Buddler, ihre Gänge können mehrere Meter hinabreichen, und je tiefer man kommt, desto höher der Status der Bewohner. Puppen, Larven und auch Königinnen hausen in kleinen Höhlen, deren Wände allerdings nicht befestigt sind. Jeder Eingriff bringt das Labyrinth zum Einsturz. Da hilft es wenig, zimperlich zu sein. Pösch schwitzt also, schaufelt, zwischendurch wieder mit den Händen. Zusehends verschwindet er in dem tiefer werdenden Loch. Erst nach dreißig Säcken beschließen die Umsiedler, aufzuhören. Noch dreimal werden sie herkommen, um zurückgelassene Ameisen einzusammeln. "Man hat versucht, die Nester auf einen Schlag mit dem Bagger auszuheben", sagt Grätz. Funktioniert hat das nie, vermutlich, weil zu viele Ameisen unter der zusammensackenden Erdsäule zerquetscht werden.

Um den Tieren ihr neues Zuhause schmackhaft zu machen, bekommen sie ein Kilo Zucker

Als die ersten beiden Nester im Anhänger verstaut sind, steigt Grätz ins Auto. "Ich fange mit dem Umsiedeln an." Sie steuert über eine Lichtung Richtung Norden, in den Bundesforst. Nach wenigen Minuten hält sie auf einem breiten Sandweg. Ringsherum ist es still, die Luft liegt feucht über dem mit Moos bedeckten Boden, trübes Sonnenlicht fällt durch die Kronen der Bäume. Grätz schaut sich nach einem guten Platz für die Ameisen am Waldrand um, in ausreichender Entfernung zu den anderen Nestern, die bereits hierher umgezogen sind. Als sie einen morschen Baumstamm entdeckt, holt sie den Spaten.

Das Loch für das neue Ameisennest wirkt klein, nur ein paar Handbreit tief. Grätz schleppt die schweren Säcke aus dem Anhänger vor die Baustelle. "Ich brauche die Nummern eins bis fünf", sagt die Biologin. Sie enthalten den oberen Teil des alten Nests. Knieend verteilt Grätz zuerst Erde mit größeren Puppen und Arbeiterinnen im Loch, darüber häufelt sie die Nadeln des ehemaligen Ameisenhügels. Nach ein paar Minuten ist sie fertig. Und der übrige Sand mit Ameisen, Königinnen, Larven, der Unterbau, das Nest selbst? Grätz breitet den Inhalt der übrigen 25 Tüten auf dem Waldboden rund um den Hügel aus. Ameisen kommunizieren im Wesentlichen über chemische Signale, sie finden auch ihr umgetopftes Nest. Vorausgesetzt, es gefällt ihnen noch. Grätz verteilt ein Kilo Haushaltszucker als Entscheidungshilfe direkt um den Nadelhaufen. Die Tiere sollen sich ganz in Ruhe aussuchen, ob ihnen ihr neues Zuhause gefällt. Oder ob sie sich lieber etwas anderes suchen.

Nach einer knappen Stunde scheint die Sache jedoch klar zu sein: Nachdem die Ameisen sich gegenseitig aus dem Sand vor dem Nest ausgegraben haben, fangen sie an, Puppen, Larven und junge Arbeiterinnen Richtung Hügel zu schaffen. "Das sieht gut aus", freut sich Christina Grätz. Die Tiere richten sich häuslich ein, der Umzug hat geklappt. "Das zeigt uns, dass wir etwas richtig machen."

© SZ vom 18.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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