Süddeutsche Zeitung

Syphilis, Hepatitis, Tuberkulose:Menschenversuche in der Demokratie

Nicht nur in Diktaturen fanden Experimente an wehrlosen oder unwissenden Versuchspersonen statt. Auch in Demokratien haben Ärzte Menschen im Namen der Wissenschaft geschädigt. Meist waren Kranke und Minderheiten die Opfer.

Werner Bartens

Den Gefängnisinsassen in Guatemala wurde angeboten, Sex mit Prostituierten zu haben. Die Häftlinge wussten allerdings nicht, dass die Frauen mit Syphilis infiziert waren. Anderen Opfern des Versuchs wurden die Erreger direkt ins Gesicht, die Arme oder den Penis injiziert. US-Ärzte führten von 1946 bis 1948 diese Experimente durch, um die Wirksamkeit des gerade entdeckten Penicillins zu untersuchen. "Außer im Gefängnis fanden die Versuche in einer Heilanstalt und in Armee-Baracken statt", sagt Medizinhistorikerin Susan Reverby, die den Skandal im Herbst 2010 aufdeckte.

Barack Obama hat sich vor kurzem im Namen der US-Regierung bei den Opfern und ihren Angehörigen entschuldigt. 696 Menschen sind in Guatemala von amerikanischen Ärzten mit Syphilis angesteckt worden. Etliche der unfreiwilligen Versuchsteilnehmer wurden nicht von der Krankheit geheilt, sondern litten unter den Beschwerden bis zu ihrem Tod.

Die Geschichte der Medizin ist auch eine Geschichte der Menschenversuche. Nicht nur in Diktaturen, auch in demokratischen Staaten haben Ärzte vorsätzlich Menschen geschädigt. Obama hat am Dienstag angekündigt, eine Forscherkommission einzuberufen, um zukünftige Teilnehmer in medizinischen Studien besser zu schützen. Schließlich sind besonders die Schwachen gefährdet, Opfer ärztlicher Versuche zu werden, wie drastische Fälle aus der Vergangenheit zeigen. Allein aus den USA der Nachkriegszeit sind 40 Beispiele bekannt.

Besonders skrupellos gingen Ärzte in Tuskegee, Alabama, vor. Die US-Regierung begann 1932 damit, 399 an Syphilis erkrankte Männer 40 Jahre lang zu beobachten, um den "natürlichen" Verlauf der Krankheit zu studieren. Neben der Diagnose wurde den Kranken auch jede Therapie vorenthalten - sogar als Mitte der 1940er-Jahre Penicillin zur Verfügung stand. Das Experiment wurde jahrelang mit US-Bundesmitteln gefördert.

Alle Probanden waren arme, schwarze Baumwollerntehelfer aus Alabama. Die Männer wurden von Ärzten des United States Public Health Service systematisch belogen: Man erzählte ihnen, dass sie gegen "bad blood" (schlechtes Blut) behandelt würden. Als Gegenleistung für ihre Teilnahme erhielten sie freie Verpflegung, 100 Dollar und die Zusicherung, im Todesfall die Kosten der Bestattung zu übernehmen. Mehr als 100 Menschen starben an dem Versuch.

Erschreckend war nicht nur die Studie, sondern auch das Schweigen der Fachwelt. Zwischen 1932 und 1972 sind zahlreiche Fachartikel erschienen, aus denen auf den unmenschlichen "Versuchsaufbau" hätte geschlossen werden können. Erst als ein untergeordneter Mitarbeiter den wahren Charakter des Versuchs publik machte, wurde das Menschenexperiment 1972 beendet.

Auch 1963 schaute die Fachwelt weg oder war sogar beteiligt. Damals wollten Chester Southam und Emmanuel Mandel vom Sloan-Kettering-Forschungsinstituts in New York am Jewish Chronic Disease Hospital die Reaktion des Körpers auf fremdes Gewebe untersuchen. Sie spritzten - mit Förderung des US Public Health Service und der amerikanischen Krebsgesellschaft - Behinderten lebende Krebszellen unter die Haut.

Die meisten Patienten konnten - geistig umnachtet - den Versuchen nicht zustimmen. Den anderen wurde mitgeteilt, es handele sich bei den Injektionen um harmlose Hauttests.Als die Klinik von den Vorfällen erfuhr, erwirkte er ein Gerichtsverfahren gegen die Ärzte. Zwei Verantwortliche wurden zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Die Kollegen schien das wenig zu beeindrucken. Trotz der Sanktionen wurde einer der Verurteilten, Chester Southam, drei Jahre später zum Präsidenten der US-Krebsgesellschaft gewählt.

Saul Krugman, Arzt an der New York University leitete von 1956 bis 1972 ein Studienteam an der Willowbrook-Schule für geistig Behinderte. Gemeinsam mit Kollegen injizierte er Kindern Hepatitiserreger. Die Forscher rechtfertigten sich damit, dass sich die Kinder "sowieso über kurz oder lang angesteckt" hätten. Krugman besprach sein Vorgehen mit Kollegen und holte die Zustimmung einer Armeebehörde ein. Eine Prüfbehörde für Versuche an Menschen gab es 1956 noch nicht, doch nachdem später ein entsprechendes Komitee gegründet wurde, signalisierte es sein Einverständnis.

Krugman rechtfertigte sich, indem er angab, dass die Eltern der Kinder eingewilligt hätten. Das entsprechende Formular war jedoch irreführend, denn darin hieß es, dass die Kinder einen Impfstoff gegen Hepatitis erhielten. Später stellte sich heraus, dass Druck auf die Eltern ausgeübt wurde: Ihnen wurde in Aussicht gestellt, dass ihre Kinder früher in die Schule kommen und besondere Förderung erhalten würden, wenn sie an der Hepatitis-Studie teilnehmen würden.

Menschenversuche wurden bevorzugt an Wehrlosen vorgenommen. Kinder, verwirrte Alte, Kriegsgefangene oder Häftlinge waren die Opfer. Einen Versuch mit psychisch Kranken hat der in Kuala Lumpur stationierte britische Distriktarzt William Fletcher 1905 unternommen. Damals vermuteten Ärzte, dass Beriberi auf die Verbreitung von weißem Reis zurückzuführen war - mit Aufkommen der neuen Schäl- und Poliermaschienen wurde der braune Reis verdrängt. Die Maschinen entfernten mit der Schale des Reiskorns aber auch die Vitamin-B1-reiche Schicht. Weißer Reis galt als modern, brauner als Nahrung der Armen.

Beriberi beruht auf einem Mangel an Vitamin B1. Fehlt die Substanz, können Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Lähmungen und tödliche Herzschwäche die Folge sein. Vitamin-B1-Mangel ist in Europa ist selten, da die Menschen durch den Verzehr von Schweinefleisch und Vollkorn vor dem Vitaminmangel geschützt sind. Doch weder das eine noch das andere stand den Psychiatriepatienten in Malaysia seinerzeit zur Verfügung.

Fletcher startete seine Untersuchung 1905. Die Psychiatriepatienten wurden durchgezählt - jene mit ungeraden Nummern bekamen geschälten weißen Reis; jene mit geraden Nummern ungeschälten braunen. Von 120 Insassen, die weißen Reis bekamen, erkrankten 34 an Beriberi, 18 starben. Unter den Patienten, die braunen Reis aßen, gab es hingegen keinen Toten.

Auch in Deutschland gab es verbrecherische Versuche nicht nur im Dritten Reich. Obwohl Syphilis um 1900 eine Volksplage war, erregte der Bakteriologe Albert Neisser (1855-1916) Empörung. Neisser erforschte in den 1890er-Jahren, ob das Serum von Syphiliskranken vor dem Leiden schützen konnte. Zunächst impfte er drei Kinder und eine junge Frau und spritzte ihnen das Serum ins Unterhautfettgewebe. Alle vier blieben gesund. Vier Prostituierte erhielten das Serum hingegen intravenös und erkrankten. Neisser wurde vorgeworfen, Syphilis hervorgerufen zu haben. Der Arzt sagte, er sei von einer "natürlichen" Infektion der Prostituierten ausgegangen.

Neisser musste in einem Disziplinarverfahren Stellung nehmen, kam aber mit einer Geldstrafe davon. Neisser rechtfertigte sich mit einer Äußerung, die heute noch Gültigkeit hat: "Wäre es mir um eine formale Deckung zu thun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss beschafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch freundliche Überredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen, wenn es sich um harmlose Dinge handelt, wie eine Einspritzung." Im Dezember 1900, wurde die Anweisung erlassen, dass Versuche an Minderjährigen fortan verboten waren und die Einwilligung der Patienten gefordert wurde.

Auch der berühmte Mediziner Robert Koch (1843-1910), der 1882 den Tuberkel-Bazillus und 1883 den Erreger der Cholera entdeckte, experimentierte fahrlässig mit Menschen. In einem Vortrag am 4. Oktober 1890 in Berlin berichtete er über das "Tuberkulin", einen neuen Heilstoff gegen Tuberkulose. Unter großem Beifall teilte er mit, endlich einen Impfstoff gegen das Leiden gefunden zu haben. Koch behandelte in den Jahren 1890/91 Hunderte von Patienten mit der neuen Substanz. Doch der Therapieversuch entpuppte sich als kompletter Fehlschlag: Fast allen Kranken ging es nach der Behandlung schlechter. Und von 1700 mit Tuberkulin behandelten Kranken überlebten 55 die Therapie nicht.

Statt den Misserfolg zuzugeben, flüchtete Koch. Als Rudolf Virchow ihn kritisierte und feststellte, dass die Tuberkulose trotz der Injektionen fortschritt, reiste er nach Ägypten. Auch wurde ruchbar, dass Koch auf die Vermarktung seiner Therapie spekulierte. "Und als der Skandal vorbei war, wollte niemand mehr daran erinnert werden", so der Medizinhistoriker Christoph Gradmann.Als Koch nach mehr als acht Wochen nach Deutschland zurückkehrte, war die Affäre weitgehend vergessen, der Arzt hatte kein juristisches Nachspiel zu befürchten. Im Gegenteil: Kochs unbestrittene Verdienste um die Medizin wurden 1905 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Die Folgen mancher Experimente wirken bis heute nach. In den USA stellen sich seit der Tuskegee-Studie kaum schwarze Amerikaner für Studien zur Verfügung. Und als US-Firmen in den 1990er-Jahren in Afrika ein Medikament testen wollten, das die Übertragung des HI-Virus von Schwangeren auf ihre Kinder verhindern wollte, wurden ihnen Menschenversuche im Stil von Tuskegee unterstellt. Aktuellen Umfragen zufolge glauben 58 Prozent der Farbigen heute noch, dass Ärzte Arzneien an Patienten ausprobieren, ohne Kranke darüber zu informieren. 25 Prozent der Schwarzen trauen ihrem Arzt sogar zu, dass er sie zu einer Studie überreden könnte, auch wenn diese ihrer Gesundheit schaden würde.

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SZ vom 03.03.2011/mcs
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