Als die Bewohner von Oak Ridge im US-Bundesstaat Tennessee am 22. Dezember 1960 erwachten und die Gardinen zur Seite schoben, sahen sie, dass es geschneit hatte. Der Schnee sah zwar etwas feinkörniger aus als gewöhnlich, aber ansonsten ganz normal – anders als der Bereich, in dem er gefallen war: Die Schneedecke hatte sich mit dem Wind aus dem Südwesten kommend trichterförmig ausgebreitet. Sie war zu beiden Seiten scharf umgrenzt. Und dort, wo der weiße Trichter in 16 Kilometern Entfernung zusammenlief, befand sich die K-25-Anlage.
Diese Gasdiffusionsanlage reicherte Uran für das Manhattan-Projekt an, das zum Ziel hatte, die erste Atombombe der Welt zu bauen. Für die Kühlung benötigte die Anlage 75 Millionen Liter Wasser am Tag. Dementsprechend viel Wasserdampf stieg aus beiden Kühltürmen auf – und gefror zur Schneewolke über Oak Ridge.
Es war das erste Mal, dass Schneefall mit solch einer Industrieanlage in Zusammenhang gebracht wurde. Seither wurden immer wieder ähnliche Schneefallmuster vor allem bei Hochnebel beobachtet, auch in Deutschland: nahe von Autobahnen, Müllverbrennungsanlagen und Münchner Brauereien (die Flocken des sogenannten Bierschnees sollen leicht malzig riechen). Die Erklärung lag auf der Hand: Fahrzeuge und Industrieanlagen geben Wärme ab, stoßen Wasserdampf und Schmutzteilchen aus und erzeugen Turbulenzen in der Luft. All das kann Wolken verändern. Allerdings fehlten bislang Messdaten, um das Phänomen des „Industrieschnees“ systematisch zu erfassen.
Das hat ein internationales Team um den Physiker Velle Toll von der Universität Tartu in Estland nun nachgeholt. Sie haben Satellitendaten ausgewertet und 67 Quellen von Industrieschnee in Europa, Nordamerika und Asien ausgemacht, darunter Papierfabriken, Zementwerke, Kohlekraftwerke und Ölraffinerien, wie sie im Wissenschaftsjournal Science berichten.
Bis zu anderthalb Zentimeter „Industrieschnee“ am Tag
Wie sich Wolken bilden und welche Rolle dabei die Luftverschmutzung spielt, gilt daher als einer der größten Unsicherheitsfaktoren in den Klimaprojektionen. Klar ist: Staub- und Schmutzpartikel, sogenannte Aerosole, dienen in der Luft als Kondensationskeime für Wolken. Um sie herum sammeln sich Tröpfchen an. Aus einer Wasserwolke kann sich auch eine Eiswolke bilden, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fällt. Dafür ist allerdings Energie nötig. Die Atmosphärenwissenschaftlerin Ulrike Lohmann von der ETH-Zürich vergleicht das mit einem Berg, den es zu überwinden gilt. Ein Aerosolpartikel verringere diese Barriere – aus einem Berg wird ein Hügel. „Um das Gefrieren zu initiieren braucht es einen Eiskeim, der flüssiges Wasser in die Eisstruktur einbringen kann.“
Und dieser Eiskeim muss fest sein wie Meersalz, Saharastaub oder Blütenpollen. In den kühlen Luftschichten sind sie aber oft Mangelware. Und hier kommen die Quellen der Menschen ins Spiel: Stahl-, Zement- oder Kohlekraftwerke. Diese können genügend Metalle oder Sulfataerosole durch ihre Schlote blasen, welche sich ebenfalls als Eiskeime eignen.
Fünf der Aerosolquellen studierte das Team um Toll genauer, sie befinden sich in Kanada und Russland. Knapp 300 „Vereisungsereignisse“ identifizierten sie über die Jahre 2000 bis 2021. Anhand dieser rekonstruierten sie eine kausale Abfolge: Die Aerosole gelangten in die Wolken, woraufhin sich Eiskristalle bildeten und es schneite – bis zu 15 Millimeter am Tag. Daraufhin lockerte sich der betroffene Wolkenabschnitt auf einer Länge von manchmal Hunderten Kilometern auf und die Sonneneinstrahlung nahm dort zu. Vor allem in den Wintermonaten beobachteten sie dieses Phänomen.
Dieses Wissen könnte nun helfen, die Wechselwirkung zwischen Aerosolen und Wolken besser zu verstehen und Klimamodelle genauer zu machen. Es gibt aber auch ein praktisches Anwendungsfeld: Manche Wolken kühlen die Atmosphäre, andere erwärmen sie. Impft man letztere etwa mit Silberjodid, sodass sie abregnen – oder schneien –, kann das die Erderwärmung abpuffern. Dafür eignen sich zum Beispiel Mischwolken aus Wasser und Eis über den Polarmeeren.
Ein Team um Diego Villanueva von der Universität Leipzig hat mit einem Klimamodell simuliert, was passiert, wenn man diese im Winter zum Abschneien bringt. Das Ergebnis erschien im Jahr 2022 im Fachblatt Environmental Research Letters: Die Meeresoberfläche erwärmte sich schwächer und das Meereis breitete sich wieder ein wenig aus. „Das würde schon ein bisschen helfen“, sagt Lohmann, die an beiden Studien beteiligt war. Sie weiß, wie umstritten Geoengineering ist, rät aber dazu, die Methoden zu erforschen, um deren Risiken besser abschätzen und im Fall der Fälle eine Entscheidung fällen zu können.
Lohmann hat die Methode auch bereits ausprobiert. In den vergangenen drei Wintern haben sie und ihr Team jeweils eine Drohne mit einer Silberjodidfackel im Schweizer Mittelland aufsteigen lassen. Messgeräte beobachteten vom Boden und von einem Fesselballon aus, wie sich die Eigenschaften im Hochnebel veränderten. „Einmal ist es uns sogar gelungen, eine Wolke teilweise zum Auflösen zu bringen“, erzählt die Wolkenforscherin. „Wir konnten tatsächlich sehen, wie sich Eiskristalle gebildet haben.“
Ganz entschlüsselt ist der Prozess, der zum Industrieschnee führt, aber noch nicht. Eines irritierte das Team um Velle Toll bei der Analyse der Satellitendaten: Auch in der Abluftfahne von fünf Atomkraftwerken bildeten sich Eiswolken und es schneite. Dabei stoßen jene Kraftwerke neben Wasserdampf so gut wie keine Luftschadstoffe aus. Deshalb dürften noch andere Prozesse an der Bildung von Eiswolken beteiligt sein. Womöglich steigen die Abluftfahnen auf und nehmen dabei Aerosole aus bodennahen Schichten mit hinauf.
Im Fall der Gasdiffusionsanlage in Oak Ridge war es ähnlich: viel Wasserdampf, kaum Luftschadstoffe. Als Quelle für die Eiskerne vermutete der Mitarbeiter einer lokalen Wetterstation damals auch vielmehr die Staubemissionen einer rund 30 Kilometer entfernten Eisen-Mangan-Fabrik. Beide Anlagen zusammen hätten dann für den „künstlichen Wolkenbildungsprozess“ und einen „menschengemachten Niederschlag“ gesorgt.