Individualisierte Medizin:Jedem seine Pille

Unter dem Schlagwort "individualisierte Medizin" will die Pharmaindustrie mit Nischenpräparaten neue Märkte erobern, Kranken kommt das kaum zugute.

Werner Bartens

Es ist der Traum vieler Ärzte und Patienten. Die Vision einer Medizin, die immer öfter nicht nur lindern, sondern dauerhaft heilen kann. Die auch bei schweren Krankheiten wie Krebs eine Kur findet, die den Menschen Jahre voller Wohlbefinden und frei von Leid bietet. Den Weg zu einer solchen Medizin der Zukunft sollen maßgeschneiderte Medikamente ebnen, schon ist von einer Revolution der Therapie die Rede. Unter den Schlagwörtern "individualisierte" oder "personalisierte" Medizin wird das verführerische Konzept beworben.

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Die Vielfalt der Medikamente nimmt ständig zu. Doch die meisten Arzneien, die auf den Markt kommen, haben kaum oder keinen neuen Nutzen.

(Foto: ddp)

Nur leider ist diese Form der Heilkunde nicht Realität, sondern größtenteils Wunschdenken. Manche Fachleute werden noch deutlicher. "Wer heute von personalisierter oder individualisierter Medizin spricht, redet von Science-Fiction", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Vieles, was unter diesem Begriff verhandelt wird, klingt zwar attraktiv, ist aber wenig oder gar nicht belegt." Ob und wenn ja wann Patienten davon profitieren könnten, sei völlig ungewiss. Hardy Müller vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse hält die individualisierte Medizin gar für "Etikettenschwindel und eine finanzielle Bedrohung des Gesundheitssystems".

Trotz dieser vagen Aussichten boomt der neue Forschungszweig. In der einschlägigen Datenbank für medizinische Fachartikel fanden sich zum Thema individualisierte Medizin im Jahr 2000 nur zehn Publikationen. 2005 waren es schon 93 und im Jahr 2010 bereits 910 Fachveröffentlichungen. Dafür muss man den Marketingstrategen der Pharmaindustrie ein dickes Kompliment machen.

Denn das Schlagwort von der "individualisierten Medizin" war noch in den 1990er Jahren ein ideologisches Konstrukt der Naturheilkundler, Kügelchendreher und Kräuterfexe, die sich mit den Parolen individuell und ganzheitlich von der angeblich ebenso bösen wie bornierten Schulmedizin abgrenzen wollten.

Inzwischen haben die Arzneimittelhersteller den Begriff okkupiert. Individualisierte Medizin steht heute für den Ansatz, mit Hilfe genetischer Marker ("Biomarker") und anderer Diagnostik zu erkennen, welcher Patient von welchen Medikamenten in welchen Dosierungen profitiert. Die moderne Kombination "molekular", "bio" und "individuell" gilt als unschlagbar, ihrem Reiz können sich selbst Anhänger von Homöopathie und Akupunktur nur schwer entziehen.

Zuvor galt: Gute Ärzte haben ihre Patienten schon immer individuell behandelt, ohne dass dies besonders hätte betont werden müssen. Wird heute von individualisierter Medizin gesprochen, geht es um die Propagierung forschungspolitischer und gesundheitspolitischer Interessen. Den Patienten kommt das nicht unbedingt zugute.

Denn die Pharmaindustrie, man muss es so deutlich sagen, steckt in der Krise. Viele lukrative Patente laufen aus. Echte Innovationen und Therapieverbesserungen wären dringend nötig, gerade in der Krebsmedizin oder zur Behandlung der Multiplen Sklerose. Doch die Zahl der Medikamentenzulassungen hat sich seit den 1990er Jahren ungefähr halbiert, obwohl die Genehmigung immer schneller erfolgte, wie Kenneth Kaitin von der Tufts University in Boston jüngst beschrieben hat (Clinical Pharmacology and Therapeutics, Bd.89, S.183, 2011).

Tatsächlich neu war aber nur ein kleiner Teil der Mittel. Thomas Lönngren, langjähriger Direktor der europäischen Arzneimittelbehörde EMA, hält gar 60Milliarden der 85Milliarden Dollar, die von der Pharmaindustrie weltweit jedes Jahr in die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente fließen, "für verschwendet, betrachtet man, wie wenig neue Mittel dabei herauskommen".

Der Vorstandsvorsitzende des Pharmakonzerns GlaxoSmithCline, Andrew Witty, hat vor kurzem in dem britischen Magazin The Economist erklärt, dass es sich seine Aktionäre nicht länger bieten lassen werden, wenn so viel Geld ohne erkennbaren Nutzen investiert wird. Die Branche der Arzneimittelhersteller hat daher längst den Kurs geändert. Statt verstärkt Mittel gegen Volkskrankheiten zu entwickeln oder auf die großen Blockbuster zu setzen, werden sogenannte Nichebuster beworben - teure, neue Medikamente, die für immer kleinere Zielgruppen mit immer selteneren Erkrankungen gedacht sind.

Doch auch in der Nische ist der Nutzen fraglich. Von 18 Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, die vergangenes Jahr in Deutschland bis zum Oktober auf den Markt gebracht wurden, waren nur fünf von therapeutischer Relevanz, hat eine Analyse des Heidelberger Pharmakologen Ulrich Schwabe ergeben, der den Arzneiverordnungsreport herausgibt. In anderen Ländern ist die Situation auf dem Pillenmarkt ähnlich. Das unabhängige Pharmafachblatt Revue Préscrire vergab nur an 17 von 104 angeblichen Innovationen auf dem Medikamentensektor in Frankreich die Bewertung "womöglich hilfreich" oder "bietet gewisse Vorteile". Kein Mittel war jedoch so überzeugend, dass es die bisherige Standardtherapie verdrängt hätte.

Und die Patienten?

Und die Patienten? "Wir bekommen in der Krebsmedizin jedes Jahr neue Arzneimittel, von denen nur ein Bruchteil der Kranken profitiert", sagt Wolf-Dieter Ludwig. "Und selbst dieser Nutzen ist oft fragwürdig." Auf dem weltgrößten Krebskongress wurde 2009 eine neue Therapie bei fortgeschrittenem Lungenkrebs als Höhepunkt verkündet. Mit der Antikörpertherapie überlebten Patienten im Durchschnitt 1,2 Monate länger, das sind 36 Tage.

Die Krebskranken bekamen aber öfter Fieber, das mit einem bedrohlichen Mangel an weißen Blutkörperchen einherging. Sie hatten häufiger Hautrötungen und Durchfall und vertrugen die Infusion schlechter. Die Lebensqualität der Patienten während der Therapie wurde nicht erhoben. In der Ankündigung auf dem ASCO-Kongress hieß es dennoch, die Daten werden "wohl entscheidenden Einfluss auf die Betreuung der Patienten" haben.

Die US-Medikamentenbehörde FDA ließ auch einen neuen Antikörper für die Behandlung von fortgeschrittenem Dickdarmkrebs zu - dadurch überlebten Patienten 1,7 Monate länger. Die Zeit ohne Krebswachstum war 0,9 Monate länger. Während der Behandlung klagten 85 Prozent der Patienten über Hautschäden.

Der Onkologe Tito Fojo und die Ethikerin Christine Grady kritisieren solche Erfolgsmeldungen als teure Augenwischerei: "Solche Ergebnisse führen zu der dringlichen Frage: Was zählt als Erfolg in der Krebstherapie? Und welchen Preis ist ein so geringer Nutzen wert?" Die Behandlung eines Krebspatienten mit den neuen Therapien kostet 30.000 bis 90.000 Dollar. Fojo und Grady haben errechnet, dass es bei den marginalen wie teuren Therapiefortschritten 440 Milliarden Dollar kosten würde, das Leben der 550.000 Amerikaner, die jährlich an Krebs sterben, ein Jahr zu verlängern.

Dass eine vorgeblich maßgeschneiderte Krebstherapie in vielen Fällen gar nicht erfolgreich sein kann, liegt an der Beschaffenheit der meisten Tumore. In einer Science-Studie wurde gezeigt, dass bei Bauchspeicheldrüsen-Krebs 2516 Gene fehlreguliert sein können. Welcher molekulare Marker soll die entdecken und auf welche Veränderung sich die Therapie konzentrieren? Es ist für einen Tumor eine Ausnahme, dass - wie bei der Chronisch myeloischen Leukämie - die Krankheit bei 90 Prozent der Patienten auf eine Chromosomenveränderung zurückgeht. Die daraus resultierende Überproduktion weißer Blutkörperchen kann gezielt mit dem Wirkstoff Imatinib (Handelsname Glivec) unterbunden werden.

Das gegenwärtige Konzept der individualisierten Medizin krankt daran, dass es eingeengt ist auf die Biochemie und nach Eigenheiten von Rezeptoren oder molekularen Charakteristika der Krebszellen und Krankheitsgene sucht. Ob eine Therapie anschlägt, ist aber auch von der Erwartung und psychischen Verfassung der Patienten abhängig. Wer sich von einer Chemotherapie Heilung erhofft, wird wohl mehr davon profitieren als ein Patient, der seinen siechen Körper durch die gleiche Behandlung mit Giften traktiert sieht.

Die Bedeutungserteilung, wie der psychosomatisch orientierte Chirurg Bernd Hontschik diesen Prozess nennt, beeinflusst die Wirkung einer Therapie. "Jeder Patient ist individuell", sagt der Arzt. "Ich wüsste nicht, was zehn Diabetiker gemeinsam haben außer einem entgleisten Blutzuckerspiegel."

Obwohl Belege für den Nutzen einer individualisierten Medizin fehlen, unterstützt die Politik diese Neuausrichtung. Das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), auf Betreiben der Regierungskoalition seit Januar 2011 in Kraft, nimmt Medikamente gegen seltene Erkrankungen aus der für die Patienten so wichtigen Nutzenbewertung aus. Damit kann jedes Mittel unter dem Schlagwort individualisierte Medizin zum Mittel gegen seltene Erkrankungen werden. Es wird zugelassen, ohne dass klar ist, ob Patienten etwas davon haben. "Manchmal muss man befürchten, dass statt evidenzbasierter Medizin die marketingbasierte Medizin dominiert", sagt Wolf-Dieter Ludwig.

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