Indiens Forschungspolitik:Wenn Politiker raten: Kein Sex! Kein Fleisch!

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Der in Indien populäre Elefantengott Ganesha soll ein begnadeter Tänzer und Liebhaber sein. Ganz neue Ideen gibt es nun, wie er zu seinem Rüssel kam.

(Foto: pngall.com)

Plastische Chirurgie wurde vor Jahrhunderten von Hindus erfunden, ebenso das Flugzeug. Und werdenden Müttern hilft eine Darmreinigung. In Indien sind bizarre Theorien auch unter Spitzenpolitikern beliebt.

Von Sohini Chattopadhyay

Das sollte die Ärzte wohl beeindrucken. Schon im antiken Indien habe es plastische Chirurgie gegeben, sagte der indische Premierminister Narendra Modi vor hochrangigen Medizinern kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2014; der Hindu-Gott Ganesha - wegen seines Rüssels bekannt als Elefantengott - sei ein prominentes Beispiel dafür. Und mehr noch: Der Krieger Karna - das uneheliche Kind aus dem indischen Epos Mahabharata - sei ein Beispiel für frühe Stammzelltechnologie.

Das ist in etwa so, als würde man in christlichen Kulturkreisen die Geburt Jesu als Erfolg der Gentechnik darstellen. Seither hat die indische Regierung und ihre Organisationen immer wieder mit dubiosen Wissenschaftsdeutungen für Aufsehen gesorgt. Zwar schätzt auch die aktuelle Regierung Forschung durchaus, ebenso wie medizinischen Fortschritt, doch was sie darunter genau versteht, ist mitunter erstaunlich. Kein Fleisch, kein Sex. Dafür schöne Gedanken - und hübsche Bilder an den Wänden. Solche Ratschläge erteilt ein von der Regierung herausgegebenes Infoheft schwangeren Frauen. Das Büchlein "Mother and Child Care" rate außerdem zu inspirierender Lektüre über besondere Persönlichkeiten sowie dazu, sich wohlige Gedanken zu machen - berichtete die Hindustan Times, die zweitgrößte englischsprachige Tageszeitung des Landes.

Veröffentlicht wurde der Ratgeber von Ayush, dem Ministerium für Ayurveda, Yoga, Unani, Siddha und Homöopathie. Alternative Medizin hat in Indien eine lange Tradition. Inzwischen haben weitere Medien das Thema aufgegriffen, der Wirbel ist groß. Der zentrale Kritikpunkt lautet: Wie kann die Regierung angesichts der großen Zahl unterernährter Frauen und Kinder empfehlen, kein Fleisch zu essen? Nach Angaben des aktuellen Regierungsberichts, des National Health and Family Survey, der sich auf die Jahre 2015/2016 bezieht, haben 22,9 Prozent der 15- bis 49-jährigen indischen Frauen einen zu niedrigen Body Mass Index. Noch beunruhigender ist, dass gut die Hälfte der schwangeren indischen Frauen an Blutarmut leidet. 38,4 Prozent der Kinder jünger als fünf Jahre sind zu klein, mehr als ein Drittel zu leicht.

Die indische Presse zitiert Ärzte und Ernährungsexperten, die bestätigen, wie problematisch der komplette Verzicht auf Fleisch sein kann: Die Gynäkologin Malavika Sabharwal der Apollo Healthcare Groups sagte der Hindustan Times: "Fleisch enthält Eiweiß und Eisen. Aus tierischen Quellen kann der Mensch mehr davon aufnehmen als aus Pflanzen."

Darmreinigung, Fasten und der Genuss flüssiger Butter soll das Genmaterial verbessern

Im besten Fall basiert die staatliche Empfehlung also auf Gleichgültigkeit. Im schlechtesten Fall steckt Absicht dahinter. Im Namen der für Hindus heiligen Kuh hat Premier Modis Regierungspartei Bhartiya Janata Party (BJP) eine fragwürdige Kampagne gegen den Verzehr von Fleisch gestartet, mehrere Muslime kamen nach tätlichen Angriffen bereits zu Tode. Die Mehrheit der Inder sind Hindus, ein Fünftel der Bevölkerung sind Minderheiten. Unter ihnen stellen Muslime mit 14,2 Prozent die größte Gruppe dar, so ergab es eine Volkszählung im Jahr 2011.

Das Ministerium Ayush verteidigt sich mit einer Pressemitteilung. Darin ist von selektiver Berichterstattung über das Fleischverbot die Rede. Die Presse lasse unerwähnt, dass das fragliche Büchlein Schwangeren auch den Verzicht auf Tee, Kaffee, weißes Mehl, Frittiertes oder Fettiges nahelegt. Zudem weist das Ministerium darauf hin, dass es sich um keine Neuerscheinung handle, sondern dass das Heft bereits 2013 von der Vorgängerregierung herausgegeben worden sei.

Vor zwei Monaten allerdings organisierte der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) - die Gründungsorganisation der Regierungspartei BJP - einen Workshop in Kalkutta, in dem es um "perfekte, genetisch defektfreie" Babys ging. Der RSS, eine radikal-hinduistische und hierarchisch strukturierte Kaderorganisation, wurde 1925 gegründet und vertritt die Auffassung, Indien sei das Mutterland der Hindus. Diese Philosophie brachte im Jahr 1951 die politische Partei Jan Sangh hervor, aus der 1980 die BJP wurde.

Flüssiger Butterschmalz verbessere das Genmaterial, so der Rat

In dem auf Bengalisch verfassten Pamphlet für den Workshop in Kalkutta heißt es: "Unkraut wächst in jedem Garten und bedarf keiner Pflege. Wer jedoch schöne Blumen ernten will, muss sorgsam planen und Forschung anstellen." Die hierbei genannte Forschung trägt den Sanskrit-Titel "Garbh Samskar", was so viel bedeutet wie Bauch-Rituale, und sie basiert auf einem seit zehn Jahren laufenden Projekt des ayurvedischen Arztes Hitesh Jani - ebenfalls Mitglied des RSS.

Paare mit Kinderwunsch sollen sich demnach 90 Tage vor einer möglichen Empfängnis auf spezielle Art und Weise vorbereiten. Bei eingetretener Schwangerschaft folgt ein Modul von neun Monaten mit speziellem Ernährungsplan, besonderer Kleidung, ausgewählter Musik und Schmuck für die werdende Mutter. Das Herzstück von Garbh Samskar ist die Idee einer Optimierung des Genmaterials - durch Darmreinigung, Fasten und den Genuss von Ghee (flüssigem Butterschmalz). Das reinige vor der Empfängnis Samen und Eier und führe zur Zeugung genetisch verbesserter Babys, heißt es. Der bestmögliche Zeitpunkt dieser Befruchtung wird aus dem Stand und der Bewegung der Planeten errechnet.

"Zehn von 450 Babys, die wir auf ihrem Weg begleitet haben, hatten ein gewisses Risiko, mit genetischen Erkrankungen wie Thalassämie oder Multipler Sklerose geboren zu werden oder daran zu erkranken", sagt Jani in einem Telefoninterview. Heute seien sie alle gesund. Jani unterrichtet an der staatlich geförderten Gujarat Ayurved University. Seine Forschungen zu Garbh Samskar hat er mit Freunden und Unterstützern auf den Weg gebracht. Gemeinsam gründeten sie eine Nichtregierungsorganisation.

Die Behauptung, menschliche DNA sei mit einer ordentlichen Darmreinigung in den Griff zu bekommen, ist - um es freundlich zu formulieren - eine sehr spezielle Sichtweise. Wissenschaftlich ist das nicht belegt. Und doch berichtete selbst die in Kalkutta ansässige Times of India über Janis Programm. Ihr folgten weitere Medien mit einer Mischung aus Warnungen und Belustigung - The Daily O, eine Nachrichten- und Meinungsseite im Internet, veröffentlichte einen kritischen Beitrag, der die Forschungsanstrengungen mit Ansätzen der Nationalsozialisten verglich.

Für Doktor Jani war die Berichterstattung willkommene Werbung: "Auch die negative Presse hat die Arbeit unserer Organisation zu den Menschen gebracht. Nach zehn Jahren freuen wir uns über all diejenigen, die uns nun kennen", sagte er. Interessanterweise hat kein Mitglied der regierenden BJP zu den Berichten über den Workshop Stellung genommen - trotz offenkundiger Verbindungen zum RSS.

Diese Entwicklungen erstaunen umso mehr, da Indien eine Reihe durchaus beeindruckender wissenschaftlicher Errungenschaften vorzuweisen hat. So war die Indian Space Research Organisation ISRO im Jahr 2014 die erste Raumfahrtorganisation überhaupt, die beim ersten Versuch erfolgreich eine Sonde in die Marsumlaufbahn platzierte. Von Weltraumexperten wurde das nur 74-Million-Dollar teure Projekt als erstaunlich kostengünstig gepriesen. Indiens Kampagne gegen Aids ist die weltweit größte ihrer Art; HIV-Patienten, die sich eine Behandlung mit Standardmedikamenten nicht leisten könnten, werden mit günstigen Präparaten versorgt. Und indische Software-Technologie erfreut sich internationaler Anerkennung. Viele indische Informatiker arbeiten weltweit in hoch dotierten Positionen.

Immerhin hat die Regierung im März dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, das psychisch kranken Menschen ein Leben in Würde und den Zugang zu Medikamenten garantiert. Und Suizidversuche sind keine Straftat mehr.

Die Regierungspartei predigt "Hindu Science"

Auch ist Modi kein ausgesprochener Skeptiker des Klimawandels. Nach Angaben des Guardian schrieb Modi in seinem E-Book "Convenient Action" (2011): "Der Klimawandel hat definitiv Auswirkungen auf künftige Generationen, die zum aktuellen Zeitpunkt keinen Einfluss auf das Verhalten der heutigen Gesellschaft haben." Das hielt den heutigen Regierungschef jedoch nicht davon ab, sich in einem Interview mit der Zeitung The Hindu skeptisch zum Klimawandel zu äußern: "In unserer Familie sind schon einige Menschen etwas älter (...). Sie sagen, dass das Wetter eher kühler geworden ist. Immer weniger Menschen können Kälte gut ertragen." Und Modis Regierung hat Umweltschutzmaßnahmen der Vorgängerregierung abgeschafft.

Auch Forscher in anderen Bereichen klagen über weitreichende Veränderungen, berichtet Vidya Krishnan, Gesundheits-Redakteurin bei The Hindu. "Nur wenige Menschen wissen, dass die "NACO" (National Aids Control Organisation) herabgestuft wurde, während das Ayush-Ministerium mehr Geldmittel erhält." Zudem geschieht es nun zum ersten Mal in der mehr als 20-jährigen Geschichte des indischen Aids-Programms, dass die Regierung den moralischen Zeigefinger erhebt. Kurz nach seiner Wahl riet der damalige BJP-Gesundheitsminister Harsh Vardhan, einfach auf Sex zu verzichten. Damit sei man am besten vor HIV geschützt. Eine solche moralische Empfehlung im öffentlichen Gesundheitswesen steht in krassem Gegensatz zu Indiens Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte.

Ein Film lässt glauben, dass es schon im 18. Jahrhundert so etwas wie heutige Kinos gab

Im Jahr 2001 hatte der damalige Bildungsminister Murli Manohar Joshi - ebenfalls Mitglied der BJP - vorgeschlagen, Astrologiekurse an Universitäten einzuführen. Das angesehene Magazin Frontline aus Südindien berichtete in diesem Zusammenhang, dass unter verschiedenen BJP-geführten Regierungen in manchen indischen Bundesstaaten die fragwürdigen Grundsätze der "vedischen" Mathematik in die Schullehrpläne aufgenommen wurden. Dabei geht es um eine Reihe von Tricks für Grundrechenarten, die angeblich aus dem Veda stammen, einer Sammlung religiöser Texte aus dem Hinduismus. Kritiker dieser Methode warnen, dass das Grundverständnis für Mathematik auf der Strecke bleibt. Generell verherrlicht die BJP im Besonderen "Hindu Science" - eine alte Sammlung aus dem Veda und anderen Büchern mit Hindu-Schriften, in denen allerlei Mögliches und Unmögliches zu finden ist - vom Fliegen über plastische Chirurgie bis hin zu Gentechnik.

Vieles dürfte auf die BJP-Mutterorganisation, den RSS, zurückgehen. 1925 befand sich das Land - als Reaktion auf die britische Kolonialmacht - auf nationalistischem Kurs. Doch anders als bei der Kongresspartei - neben der BJP die zweite große, jedoch weltlich ausgerichtete Partei - ist die Ausrichtung des RSS religiös. Die Bewegung glaubt, Indien sei das Mutterland allein der Hindus, deren Hochkultur tausend Jahre lang unterdrückt wurde; zuerst durch muslimische Eroberer und Einwanderer, zuletzt durch die Briten. Daher rührt nicht nur das Misstrauen gegenüber Muslimen und Christen, sondern auch die Überzeugung, dass Errungenschaften, die der kolonialisierende Westen für sich beansprucht, in Wahrheit auf die alten Hindus zurückzuführen sind.

Selbst neue Bollywood-Filme schlagen in diese Kerbe: In "Bajirao Mastani" (2015), einem opernhaften Streifen, der im 18. Jahrhundert spielt, lässt Regisseur Sanjay Leela Bhansali den Zuschauer glauben, die damaligen indischen Paläste hätten so etwas wie heutiges Kino gekannt. In "Hawaaizada" (2015) geht es um einen Mann aus dem Bundesstaat Maharashtra, der im Jahr 1895 ein unbemanntes Flugzeug entworfen und zum Fliegen gebracht haben will - und damit den amerikanischen Brüdern Wright um einige Jahr voraus war. Der Erfinder war - natürlich - ein Hindu.

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