Illusion und Religion:"Wir versuchen, uns alles zu erklären"

Interview mit dem Biologen Franz Wuketits von der Uni Wien.

sueddeutsche.de: Angenommen, der freie Wille wäre tatsächlich nur eine Illusion. Warum hat diese sich bei uns entwickelt? Sie müsste ja einen Selektionsvorteil darstellen.

Wuketits: Stellen Sie sich einen Urmenschen vor, der zum ersten Mal mit einem Stein eine Ziege erschlagen hat und sich damit eine Mahlzeit sicherte. Dank unseres Gehirns konnte der sich sagen: "Das war ich." Er konnte das Gefühl entwickeln, als autonome Person etwas sehr Wichtiges bewirken zu können.

Illusion und Religion: Zeus, der Blitze schleudernde Gott. "Menschen versuchen, ihr Bedürfnis nach Erklärungen auch mit Hilfskonstrukten wie Göttern zu befriedigen."

Zeus, der Blitze schleudernde Gott. "Menschen versuchen, ihr Bedürfnis nach Erklärungen auch mit Hilfskonstrukten wie Göttern zu befriedigen."

(Foto: Foto: oh)

sueddeutsche.de: Er hat doch nur einen Kausalzusammenhang hergestellt.

Wuketits: Er entwickelt ein Ich-Bewusstsein. "Ich" habe diese Ziege erschlagen. Das tut mein Kater nicht.

sueddeutsche.de: Ihrer Einschätzung nach baut dieser Urmensch aber darüber hinaus die Illusion auf, er hätte sich unter mehreren Alternativen frei für die richtige entschieden. Warum?

Wuketits: Wir unterscheiden uns von anderen Organismen auf diesem Planeten ganz deutlich durch einen Erklärungsnotstand. Wir nehmen die Dinge nicht einfach hin, sondern denken darüber nach und versuchen, sie uns in theoretischen Entwürfen zu erklären. Tiere dagegen lernen, dass etwas unter bestimmten Umständen so und so passiert. Aber sie reflektieren nicht im Nachhinein darüber, warum etwas wie geschehen ist.

sueddeutsche.de: Der Mensch versucht also, sich alles zu erklären, um dann gewappnet zu sein, wenn in der Zukunft etwas Ähnliches wieder passiert?

Wuketits: Richtig. Wir suchen zuverlässige Erklärungen. Wir erwarten bestimmte Regelmäßigkeiten zum Beispiel im Verhalten unserer Mitmenschen und wollen uns bei künftigem Handeln darauf verlassen können.

sueddeutsche.de: Aber manche Phänomene waren für Steinzeitmenschen nicht zu erklären. Zum Beispiel Blitz und Donner.

Wuketits: Sie haben es trotzdem versucht und ihr Bedürfnis nach Erklärungen mit Hilfskonstrukten wie Göttern befriedigt.

sueddeutsche.de: Erklärungen müssen für uns also nicht zutreffend sein, sondern nur zufriedenstellend?

Wuketits: Das ist der entscheidende Punkt. Unser Gehirn erlaubt uns Illusionen. Es ist nicht dazu geschaffen, die absolute Wahrheit über diese Welt - was immer das sein mag - zu erkennen, sondern nur seinem Träger ein Überleben darin zu ermöglichen.

Auch mythologische Weltbilder liefern dem Einzelnen eine gewisse Befriedigung oder Beruhigung. Wenn man "weiß", dass Blitz und Donner von höheren Wesen auf die Erde geschickt werden, dann ist das ein in sich geschlossenes, kohärentes Weltbild, innerhalb dessen wir mehr oder weniger gut leben können.

Weiter zum nächsten Teil: "Wir brauchen keinen freien Willen"

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