Als der kanadische Aidsforscher Dean Hamer 1993 an die Öffentlichkeit trat, schien die große Frage endlich geklärt: Wenn Männer Männer liebten, hatten sie sich das nicht ausgesucht, es war ihr erbliches Schicksal. Wie Hamers Studie damals zeigen sollte, war auf dem X-Chromosom seiner Probanden fast immer eine spezielle Gruppe von Genen zu finden, noch dazu auf einem der Geschlechtschromosomen. Kurzum: Wer schwul liebte, war "born this way" - so geboren.
Ein Vierteljahrhundert später wird immer deutlicher, dass sich die Sehnsucht vieler homosexueller Frauen und Männer nach einer simplen Erklärung für ihre Orientierung nicht so einfach erfüllen lässt. Auf dem diesjährigen Kongress der Amerikanischen Gesellschaft für Humangenetik haben Wissenschaftler des Bostoner Broad Institute die bislang umfassendste Untersuchung zur Genetik der sexuellen Orientierung vorgestellt. Die Analyse der Daten von mehr als 475 000 hetero- und homosexuellen Menschen zeigt, dass weder ein einziges Gen noch eine einzelne genetische Region eines Menschen darüber bestimmt, wie er liebt.
Es bleibt die Frage, ob sich genetische Daten zur Sexualität nicht auch missbrauchen lassen
Stattdessen haben Andrea Ganna und Kollegen in einer genomweiten Assoziationsstudie gleich mehrere verschiedene genetische Marker auf verschiedenen Chromosomen gefunden, die unter schwulen Männern häufig sind. Eine dieser Markierungen verweist zum Beispiel auf eine Gruppe von Genen, die zugleich mit der Glatzenbildung assoziiert ist. Eine andere hängt vermutlich mit dem Geruchssinn zusammen. Mindestens zwei weitere Gengruppen treten außerdem bei lesbischen Frauen gehäuft auf. Welche Gene sich hinter den untersuchten Markern genau verbergen, ist noch unklar. Was Ganna nicht finden konnte, war eine Verbindung zwischen Homosexualität und jenem legendären Abschnitt auf dem X-Chromosom, den Hamer gefunden haben wollte.
Es ist nicht die erste Suche nach genomweiten Assoziationen für Homosexualität, es gibt weitere Hinweise auf andere beteiligte Marker. Die aktuelle Studie jedoch ist die bislang umfassendste. Die Daten stammen zum Teil aus der UK-Biobank-Studie in England, Schottland und Wales, die seit zwölf Jahren das Erbgut von 500 000 Briten sammelt und die Lebensläufe der Teilnehmer verfolgt. Ein anderer Teil der Genomdaten stammt von der kommerziellen Firma 23 and Me, die seit 2007 verschiedene Analysedienste anbietet, insbesondere solche, die Krankheitsrisiken benennen. Rohdaten, die nicht untersucht wurden oder bislang nicht interpretiert werden können, verbleiben für spätere Anwendungen teils bei der Firma.
23 and Me präsentiert sich als Unternehmen, das sich für die Gleichstellung von Schwulen, Lesben, Bi- oder Transsexuellen und Unentschiedenen (LGBTQ) starkmacht. Die Firma hatte im Vorfeld der aktuellen Untersuchung Analysen vorgenommen, die den komplexen genetischen Charakter der sexuellen Orientierung von Menschen nahelegen.
Die Frage bleibt, ob sich solche Informationen auch missbrauchen lassen. Homophobie mag in manchen westlichen Gesellschaften nicht mehr der Regelfall sein, dennoch ist die nicht heterosexuelle Liebe in vielen Ländern nach wie vor illegal oder wird sozial geächtet. Ein Zugang zu Informationen, die - wenn auch nur auf dem Papier - darauf hinweisen, dass jemand eine unerwünschte sexuelle Orientierung haben könnte, würden der Diskriminierung weitere Nahrung geben. Andererseits zeigen die Ergebnisse von Ganna und Kollegen auch, dass eine Fahndung im Genom wenig Sinn ergibt. Sexualität ist auch genetisch zu kompliziert.