Hohes Alter ohne Gebrechen:Die besten Jahre

Zeit für eine neue Lebensplanung: Viele unserer Kinder werden wohl ihr 100. Lebensjahr erreichen - und mindestens 90 Jahre lang gesund bleiben.

Werner Bartens

Wenn man erst mal die 110 erreicht hat, ist man aus dem Gröbsten raus. Bis zu diesem Alter steigt bei Senioren allerdings jedes Jahr das Risiko zu sterben. Danach offenbar nicht mehr, zwischen 110 und 114 Jahren bleibt die Wahrscheinlichkeit des Todes für die Hochbetagten konstant. Dies ist eine der überraschenden Erkenntnisse, von denen James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Institutes für Demographische Forschung in Rostock, in der Fachzeitschrift Nature berichtet (Bd.464, S.536, 2010).

Dass der eine oder andere Zeitgenosse die 110 erreichen wird, ist Vaupel zufolge nicht unwahrscheinlich - besonders wenn man weiblich und in diesem Jahrtausend geboren ist. Gut dokumentiert ist die Entwicklung der Lebenserwartung in Schweden. Dort gab es um das Jahr 1860 herum jährlich nur drei Menschen - zumeist Frauen - die 100. Geburtstag feiern konnten. Im Jahr 2007 waren es bereits 750 Jubilare - ein Anstieg um den Faktor 250. Im Jahr 2107 könnten Vaupel zufolge sogar 50000 Schweden ihren Hundertsten feiern - falls der Trend zur Langlebigkeit so unvermindert anhält. "Sollten wir die Sterblichkeit weiter senken können, ist es sogar möglich, dass die meisten Kinder, die seit dem Jahr 2000 geboren worden sind, ihren 100. Geburtstag erleben können - im 22. Jahrhundert", sagt Vaupel.

Aus rückblickenden Studien lässt sich eine beeindruckend erfolgreiche Überlebensgeschichte des Menschen ableiten. In den vergangenen 170 Jahren ist die Lebensspanne in den Ländern mit der höchsten Lebenserwartung in jeder Dekade kontinuierlich um etwa 2,5 Jahre gestiegen - das bedeutet umgerechnet jeden Tag um sechs Stunden. Kinder werden demnach statistisch gesehen ungefähr zehn Jahre älter als ihre Eltern, wenn diese erst mit 40 Nachwuchs bekommen haben.

Im Alter werden die Damen aber nur wenig männliche Gesellschaft haben. Das lehrt auch das Beispiel Schweden: Bis zum 60. Lebensjahr gibt es dort ähnlich viele Männer wie Frauen. Mit 80 kommen drei Frauen auf zwei Männer, mit 100 sind es gar sechs Frauen, die einem gleichaltrigen Mann gegenüberstehen. Paradoxerweise sind Männer im Alter gesünder als Frauen - die meisten Herren sterben aber früher.

Vaupel hat in Dutzenden Studien analysiert, wie alt Menschen werden und wie sie altern. Wissenschaftler hatten lange vermutet, dass es für jede Spezies eine feste maximale Lebensspanne geben würde und dass diese von den Menschen schon fast erreicht sei. Zudem nahmen die meisten Forscher an, dass es im hohen Alter vor allem eine Todesursache geben würde - das hohe Alter.

Das Dogma einer erblich vorgegebenen Lebensspanne ist nicht mehr so dominant. In Zwillingsstudien hat sich nicht bestätigt, dass identische Erbanlagen zu einer identischen Lebenserwartung führen. Genetische Faktoren haben wohl nur zu etwa 25 Prozent Einfluss auf die Lebenserwartung. Die Lebensumstände und das Gesundheitsverhalten sind weitaus prägender. Zudem verfügt der Mensch - anders als etwa der Fadenwurm - auch nicht über ein "Alters-gen". Hunderte wenn nicht Tausende Genorte haben einen je minimalen Anteil daran, wenn Menschen vor oder nach der statistischen Lebenserwartung ihrer Altersgruppe sterben. Der Rat des Arztes und Schriftstellers Oliver Wendell Holmes (1809-1894) an Menschen, die alt werden wollen, sich "per Anzeige um ein Paar Eltern zu bemühen, die aus einer langlebigen Familie stammen", kann jedenfalls als überholt gelten.

Anders als von Gesundheitspolitikern oft angegeben, um steigende medizinische Kosten zu rechtfertigen, steigt mit zunehmendem Alter nicht automatisch die Dauer der Gebrechlichkeit. "Wir leben länger, weil die Menschen in besserer Gesundheit alt werden", sagt Vaupel. "Der körperliche und geistige Verfall wird nach hinten verlagert und nicht ausgedehnt." Wenn der Prozess der Hinfälligkeit beginnt, scheint er aber in ähnlicher Geschwindigkeit und Intensität voranzuschreiten wie vor Jahrzehnten. Besonders Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenzen nehmen dann zu.

Wüssten die Menschen, dass viele von ihnen vermutlich 100 Jahre oder älter werden und sie davon 90 oder 95 Jahre in geistig und körperlich regem Zustand verbringen können, würde ihre Lebensplanung wohl anders aussehen. Gerade in Ländern mit hoher Lebenserwartung arbeiten die Menschen in der Zeit hart, in der sie Kinder bekommen und sich mit ihnen beschäftigen könnten. Im Ruhestand haben sie zwar viel Zeit, aber dann brauchen oder wollen die Kinder sie nicht mehr.

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