Höhlenforschung:Ein Wasserfall verschwindet - und der Klimawandel ist schuld

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Geltenbachhöhle.

Um herauszufinden, wohin das Wasser im Berg fließt, gießt Höhlenforscher Hansueli Kallen neongrüne Farbe in den Geltenbach.

(Foto: Robbie Shone/Nat Geo Image Colle)

Sobald es taut, stürzt seit jeher ein Wasserfall ins Schweizer Kandertal. Doch das Naturschauspiel bleibt immer öfter aus. Eine Höhlen-Expedition zu den Ursachen.

Von Olivier Christe

Mit jedem Schritt bricht Forschungsleiter Hansueli Kallen, von allen "Huk" genannt, tief in den Schnee ein. Ihn drücken gleich zwei schwere Rucksäcke nach unten, vier weitere Personen folgen ihm, ebenso schwer beladen mit Gepäck und Pressluftflaschen. Der Weg führt in der Morgendämmerung vom Talboden des abgelegenen Gasterentals im Berner Oberland steil zu einer Felswand, an der ein frei hängendes Seil beinahe siebzig Meter nach oben führt. Es endet in einem Höhlenportal, das in der gewaltigen Wand von unten kaum zu erkennen ist.

Huk ist seit seiner Kindheit in den Bergen und Höhlen der Region unterwegs und leitet heute die Erforschung der Geltenbachhöhle. Dort geht er einer für die Menschen in dieser Region beunruhigenden Frage nach. Einer Frage, die beispielhaft steht für die massiven Veränderungen der Alpen durch den Klimawandel.

Um zu verstehen, warum die Höhlenforscher an diesem eisigen Morgen überhaupt unterwegs sind, lohnt sich ein Blick in den Herbst 2011. Huk war damals wie so oft mit dem Mountainbike vom Tausend-Seelen-Dorf Kandersteg auf dem Weg ins Gasterental. Er blickte zum Höhleneingang, doch der Wasserfall, der dort zu dieser Jahreszeit normalerweise zu Boden stürzt, war verschwunden. Sonst rauschen hier von Frühling bis Herbst aus dem Berg von weit her gut hörbar bis zu 1200 Liter Wasser pro Sekunde in die Tiefe, ein grandioses Naturschauspiel.

Geltenbach: Wikipedia Fotos von Adrian Michael

Der Geltenbach wird auch "Lugibach" genannt, weil er sich nicht an Regeln hält

(Foto: Adrian Michael/CC BY-SA 3.0)

Fassungslos rief Huk einen befreundeten Bergsteiger an. Vielleicht könnte er erklären, warum der Bach plötzlich "geltig" war, wie man im lokalen Dialekt zu Kühen sagt, die vorübergehend keine Milch geben. Doch auch der Freund war ratlos. Die Höhle ist mit einem Alter von etwa 25 000 Jahren geologisch gesehen zwar jung, aber solche massiven Veränderungen sind äußerst selten. Die Freunde entschieden sich, dem Rätsel nachzugehen.

Die Forscher dürfen nur wenig Luft verbrauchen. Das bedeutet: ruhig bleiben

Kandersteg liegt nördlich des Alpenhauptkamms, hinter dem Dorf steigt steil das Altels-Balmhorn-Massiv mehr als 2000 Meter in die Höhe. Die Lage hinter dieser Wand beschert dem Dorf Föhn- und Staulagen, riesige Niederschlagsmengen sind die Regel. "Ich kann um sieben ins Restaurant Adler gehen", witzelt Huk, "und wenn ich drei Stunden später herauskomme, ist so viel Schnee gefallen, wie ich Bier getrunken habe." Es ist die Regel, dass irgendwo im Berg immer Wasser fließt.

Huk steigt vom Seil in den Höhleneingang und fordert den Nächsten auf, ihm zu folgen. Die Männer ziehen Pressluftflaschen in unterschiedlichen Größen, Neoprenanzüge, Tauchmasken und anderes Material in die Höhle. Oben angekommen wechseln sie ihre Kleidung, den Rest des Tages werden sie im Neoprenanzug verbringen.

Gegenüber hat das Sonnenlicht inzwischen den Gipfel des Doldenhorns erfasst. Während im Rücken der Forscher der Morgen beginnt, öffnet sich auf der anderen Seite die ewige Dunkelheit. Der Tiefschnee ist plötzlich ganz fern. Überall sind die Spuren des Wassers zu lesen, Schächte, Tropfsteine, Schlamm, Fließmuster im Fels.

Mit Stirnlampe und Flaschen auf dem Rücken gehen die Höhlenforscher durch gewundene Gänge. Sie waten hindurch, steigen wieder höher, plötzlich wird es eng. Auf allen Vieren kriechen sie weiter und gelangen schließlich zu einer weiteren Wasserstelle. Dort rücken die Taucher ihre Masken zurecht und prüfen die Druckanzeigen: 200 Bar. Die Forscher müssen sich bemühen, möglichst wenig Luft zu verbrauchen, um weitere Tauchgänge in diesem Winter machen zu können. Das bedeutet: ruhig bleiben. Doch die Sicht ist schlecht, eher Milchkaffee als Bergwasser.

Huk instruiert einen Kollegen, bevor er als Erster ins Wasser tauchen wird: "Halte dich rechts, folge dem pinken Seil. Wenn es plötzlich eng wird, bist du falsch." Kurz scheint im Wasser noch ein Licht auf, dann ist er weg, um den Siphon, wie geflutete Höhlenabschnitte genannt werden, zu durchqueren. Nach der Verzweigung soll der Gang noch einige Meter auf gleicher Höhe weiterführen, dann steil aufsteigen. "Willkommen auf der Schattenseite des Mondes", begrüßt Huk die ihm nachkommenden Taucher auf der anderen Seite des 40 Meter langen Siphons. Höchstens ein Dutzend Menschen haben diese verborgene Welt je betreten.

Die Geltenbachhöhle befindet sich, wie der überwiegende Teil aller Höhlen weltweit, im Kalkstein, in sogenannten Karstsystemen. Das Wasser sucht sich einen Weg durch Spalten in den Felsen, der dann in Jahrtausenden immer weiter zerklüftet wird. Je nach Zusammensetzung des Kalkgesteins löst es sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass die Hohlräume unregelmäßig ausgebildet sind: mal als schmale Spalte, mal als große Höhle.

Warum ist der Geltenbach nur in den Sommermonaten zu sehen?

Die Fließgeschwindigkeiten des Wassers sind in solchen löchrigen Karstsystemen beträchtlich, bis zu 500 Meter pro Stunde, ganz anders als etwa in kristallinen Gesteinen wie Granit oder Gneis, durch deren Ritzen das Wasser allenfalls langsam sickert. Karstsysteme sind durch stark wechselnde Wasserführung gekennzeichnet. Aufgrund ihrer Struktur reagieren sie sehr empfindlich auf Niederschläge oder Trockenheit.

Um zu verstehen, warum der Geltenbach exemplarisch steht für eine dramatische Veränderung der Alpen, gilt es der Frage nachzugehen, warum der Bach nur in den Sommermonaten zu sehen ist - wenn er denn zu sehen ist. Am wahrscheinlichsten ist, dass sich irgendwo im Karstsystem eine oder mehrere Engstellen befinden, sogenannte Flaschenhälse. Wenn nun viel Wasser von den Gipfeln dort hineinfließt, sei es durch heftigen Regen, Schnee- oder Gletscherschmelze, staut es sich in diesen Engstellen. Doch diese speichern das Wasser nicht lange, denn es sucht sich rasch andere Wege durch den Felsen. Der größte davon im Karstsystem des Geltenbachs ist der Geltenbachfall. Er funktioniert also wie eine Art Überdruckventil: In trockenen Perioden oder im Winter, wenn der Niederschlag als Schnee fällt und die Gletscher kaum Wasser abgeben, reicht die Wassermenge nicht für einen Überdruck - und der Wasserfall versiegt.

Der Geltenbach hat deshalb in Kandersteg noch einen anderen Namen: "Lugibach"; der Lügenbach, der sich nicht an Regeln hält. Mal fließt er am Morgen, mal am Abend, mal mitten am Tag oder auch mal gar nicht. In einer Sache schwindelte er bislang aber nie: Mit der Schneeschmelze im Frühjahr kehrte er stets zurück und machte sich erst im Winter wieder rar. Dass es nun anders ist, steht in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel: Die Schneeschmelze findet immer früher statt, die Gletscher der Alpen verlieren an Volumen. Modellrechnungen zufolge könnten sie bis zum Jahr 2100 weitgehend verschwunden sein, darunter auch der weltberühmte Aletschgletscher.

Sieben Stunden bleiben noch, dann würde der Rettungsdienst automatisch die Bergung veranlassen

Und die trockenen Sommer führen zusätzlich dazu, dass die Karstsysteme mit weniger Wasser versorgt werden. Kristalline Gesteine können Wasser in Spalten und Rissen über lange Zeit speichern und auch bei fehlendem Niederschlag stets ähnliche Mengen abgeben. Im Unterschied dazu gehen den alpinen Karstsystemen, wie jenes rund um die Geltenbachhöhle, die Wasservorräte aus, sagt Rolf Weingartner, Professor für Hydrologie an der Universität Bern. "Aufgrund ihrer Durchlässigkeit sind sie nicht in der Lage, dies auszugleichen."

Huk und die anderen Höhlenforscher lassen die Tauchgeräte am Siphon zurück. Das nächste Ziel ist ein Bach mitten im Berg. Vier Stunden dauert der Weg durch das Gestein, in den engen Gängen müssen sie meist robben. Immer wieder unterbrechen tiefe Schächte ihren Weg. An Seilen geht es dort hinauf oder hinab. Trotz der Anstrengung zeigen die Forscher kaum Müdigkeit und halten weder zum Trinken noch zum Essen an. Huk kriecht zuvorderst. Stunden vergehen.

Es wird kaum gesprochen. Das Ziehen der Schleifsäcke hallt im Gang. Plötzlich ist ein Plätschern zu hören. Zuerst nur leise, dann immer lauter. Und dann haben sie endlich ihr Ziel erreicht: Der Bach fließt anmutig um eine Windung und rinnt schließlich als kleiner Wasserfall etwa dreißig Meter in die Tiefe. Im Unterschied zu den engen Gängen ist die unterirdische Landschaft hier geradezu lieblich. Ein kleines Flusstal, gerade mal fünf Meter hoch, windet sich durch den Fels. Das Ganze etwa zwei Kilometer tief im Berg.

Um herauszufinden, wohin das Wasser fließt, wenn es denn nicht mehr aus dem Wasserfall stürzt, gießt Huk neongrünes Fluorescein in den Bach. Der Farbstoff kann in kleinsten Mengen nachgewiesen werden und lässt damit Schlüsse über den Abfluss komplexer Wassersysteme zu. Huk hofft den Farbstoff später draußen in der Kander wiederzuentdecken und zu verstehen, wo er an die Oberfläche tritt.

Sieben Stunden bleiben nun noch, bis der Rettungsdienst automatisch eine Bergung der Männer veranlassen würde. Die Forscher machen sich also auf den Rückweg. Immer wieder halten sie an, um zu fotografieren. An einer Engstelle passen ihre Körper gerade so durch, mühsam schieben sie sich in Richtung Ausgang. Mit Blick von außen wären sie nicht mehr als ein paar kleine Punkte, die sich kaum merkbar in einem gigantischen Berg vorwärts bewegen. Und noch immer sind die Forscher auf der Schattenseite des Mondes, umgeben von kilometerdickem Fels. Was, wenn Hochwasser die Höhle fluten würde? Was, wenn der Geltenbach zu einer neuen Lüge ansetzt - und plötzlich Wasser im Winter führt? Denn zum Zeitpunkt der Expedition, es ist Ende Februar, sind die Temperaturen draußen viel zu hoch für die Jahreszeit.

Die Ironie dieser Geschichte zeigt sich etwa 300 Kilomter weiter unten im Tal

"Weiter, weiter", ruft Huk. Die Fotos sind gemacht, nun liegen die Tauchgänge vor ihnen. Doch zurück geht es schneller, der Drang, endlich wieder in die Weite zu blicken, treibt sie an. Sie tauchen ein, lassen den Siphon hinter sich. Der Gang weitet sich, und schon bald können sie wieder aufrecht gehen. Schritt für Schritt öffnet sich der Berg, bis es plötzlich steil nach unten geht. Der Tag ist um, draußen bereits tiefe Nacht. Als sie zurückkehren ins Tal, zeigt sich die Kander klar, von grüner Farbe keine Spur.

Das Wasser muss einen anderen Weg durch den Berg genommen haben. Nicht jedes Geheimnis des Geltenbachs lässt sich lüften, und doch ist klar: Schmelzende Gletscher, frühe Schneeschmelze und trockene Sommer verändern ihn und damit die gesamte Region. "Extremes Niedrigwasser im Sommer wird voraussichtlich immer öfter zum Normalfall", sagt Rolf Weingartner von der Universität Bern. Der Rhein fließt in Basel nach Deutschland. Etwa ein Drittel seines Wassers stammt aus Karstgebieten. Wie das Beispiel des Geltenbachs zeigt, könnte diese Versorgung in Zukunft deutlich unzuverlässiger werden.

Die Ironie dieser Geschichte zeigt sich 300 Kilometer den Flusslauf hinab im Tal. Als im Winter Schülerinnen und Schüler bei den "Fridays for Future"-Klimaprotesten in Basel über die zentrale Rheinbrücke marschierten, gruben unter ihnen Bagger das Flussbett aus. Sie sollen verhindern, dass auch der Rhein wegen der steigenden Temperaturen eines Tages zum Lügenbach wird.

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