Hochgefühl in der Arktis:Wie Polarexpeditionen Menschen verändern

Seit 25 Jahren untersucht die US-Wissenschaftlerin Gloria Leon die Psyche von Abenteurern, die es an die Enden der Welt zieht. Besonders interessiert sie sich für die positiven psychischen Auswirkungen von Polarexpeditionen.

Katrin Blawat

Sechs Wochen lang war alles gut gegangen. Gemeinsam hatten sich Bill, 32, und Andrew, 35, durch die arktische Eislandschaft gekämpft, hatten einander mit den schwer bepackten Schlitten geholfen und um den anderen gebangt, wenn er im Eis eingebrochen war.

Hochgefühl in der Arktis: Während einer Expedition kreisen die Gedanken weniger um den wissenschaftlichen Wert eines Projekts als um Probleme wie Kälte, Hunger und Erschöpfung.

Während einer Expedition kreisen die Gedanken weniger um den wissenschaftlichen Wert eines Projekts als um Probleme wie Kälte, Hunger und Erschöpfung.

(Foto: AP)

Nun blieben ihnen noch zwei Wochen, um den Nordpol zu erreichen, das Ziel der Zwei-Mann-Expedition. Doch Zeit und Vorräte wurden bereits knapp. Andrew, der sich an der Organisation der Tour nicht beteiligt hatte, machte Bill deswegen heftige Vorwürfe. All die Anspannung der vergangenen vier Wochen brach aus Andrew heraus.

Bill sagte nur: "O.k. Lass uns einfach weitermachen." Offenbar hatte er damit den richtigen Ton getroffen, denn der Rest der Expedition verlief harmonisch. Mehr noch: Obwohl sie sehr verschieden wären, seien sie mit der Zeit "wie Brüder geworden", erzählten die beiden Männer später der Psychologin Gloria Leon.

Die inzwischen emeritierte Professorin von der University of Minnesota ist zur Expertin für Polarexpeditionen geworden - vom Schreibtisch aus. Seit 25 Jahren untersucht sie die Psyche von Abenteurern, die es an die Enden der Welt zieht.

Auch Bill und Andrew - die Namen sind Pseudonyme - gehörten zu ihren Probanden (Environment and Behavior, Bd. 43, S. 710, 2011). Mithilfe der beiden Männer wollte die Wissenschaftlerin erforschen, welche positiven psychischen Auswirkungen Polarexpeditionen für die Teilnehmer haben können.

Ein Großteil der Forschung beschränke sich nämlich darauf, die verschiedenen Stressfaktoren aufzuzählen, so Gloria Leon. Andrew und Bill füllten vor der Expedition, währenddessen und einige Wochen und Monate später Fragebögen über ihre jeweilige Stimmung aus und gaben Interviews.

Während der Expedition jedoch kreisten ihre Gedanken weniger um den wissenschaftlichen Wert ihres Abenteuers als um die Frage, wie sie Kälte, Hunger und Erschöpfung überstehen konnten. Minus 50 Grad Celsius zeigte das Thermometer zu Beginn der Tour. Dann erwärmte es sich zwar auf bis zu minus 18 Grad, zugleich aber wurden die Männer immer dünner und in der Folge kälteempfindlicher. Alle 16 Stunden eine Stunde Schlaf - mehr erlaubten sich die beiden am Ende der Expedition nicht.

Dass die beiden Amerikaner diese Strapazen überhaupt überstanden, lag auch an ihrer Persönlichkeit. Die erschien auf den ersten Blick wie die eines idealen Abenteurers: zielorientiert, gewillt, Führung zu übernehmen und sich die gute Laune nicht durch Probleme verderben zu lassen.

Doch schon die ersten Interviews noch vor ihrem Aufbruch zeigten, dass die beiden Männer nicht nur leichte Zeiten zu erwarten hatten. So hing Andrew gern seinen Gedanken nach und vergaß dann alles um sich herum - nicht gerade die ideale Voraussetzung für eine Polarexpedition. Bill hingegen zeigte wenig Bedürfnis, jede Entscheidung bis ins Detail auszudiskutieren.

Dennoch schafften sie es nahezu die ganzen acht Wochen über, sich bei Laune zu halten - oder dies zumindest abends in ihren Zelten im Fragebogen einzutragen. Anlässe für gute Laune gab es schließlich gleich mehrere: Sie kamen vorwärts - abgesehen von ungeplanten Stopps, als zum Beispiel Bill ins Eis einbrach und sich nur mit Mühe wieder an Land retten konnte.

Die Ausrüstung funktionierte. Es war gut, überhaupt einen Kameraden zu haben - auch wenn der sich weigerte zu diskutieren oder jede noch so kurze Pause zum Schlafen nutzen wollte. Die Natur war überwältigend. Und schließlich gab es ein messbares Ziel ihres Tuns: Ankommen.

Diese klare Aufgabe im Kopf, berichteten die beiden Abenteurer nach wenigen Wochen im Eis von ersten Veränderungen. Andrew, der vor der Tour darüber geklagt hatte, dass er sich ständig verzettele, kam zur Ruhe. Bill lernte, dass Absprachen nicht nur Zeit kosten, sondern auch Entscheidungen erleichtern können.

Geradezu klischeehaft entwickelte sich ihre Beziehung: Keiner der beiden empfand den anderen als Konkurrenz. Dabei hatten frühere Forschungen von Leon gezeigt, dass rein männliche Expeditionsteams dazu neigen, alles, auch ihre eigene Sicherheit, dem Wettbewerb unterzuordnen. "Indem sich Bill und Andrew auf ihre gegenseitige Unterstützung konzentrierten, schalteten sie jeden Wettbewerb zwischen sich aus", schreiben Leon und ihre Kollegen.

Entkräftet und 13 Kilogramm leichter, aber immerhin noch innerhalb ihres Zeitplans erreichten die zwei Männer den Nordpol. Er empfinde nun mehr Ruhe und es fiele ihm leichter, sich anderen mitzuteilen, berichtete Bill der Psychologin ein halbes Jahr später. Andrew hingegen litt unter dem Heimkehrer-Blues, weil er sich zu Hause mit den gleichen Arbeits- und Beziehungsproblemen konfrontiert sah wie vor seinem Aufbruch.

Doch beide Männer fühlten noch Monate nach ihrer Rückkehr ähnlich wie der Polarforscher Ernest Shackleton, der nach einer Expedition einmal sagte: "Wir haben die Seele der Menschheit berührt."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: