Süddeutsche Zeitung

Hochgebirge:Alles fließt

Wenn sich die Gletscher zurückziehen, sehen einige die Alpen in Gefahr. Für Wissenschaftler hat das vor allem auch mit der romantischen Vorstellung des Eises zu tun. Schließlich bringt die Schmelze sogar einige Vorteile.

Von Dominik Prantl

Vielleicht muss man in der Debatte um die Gletscherschmelze der Alpen, die selbst bergferne Menschen mit einer nervösen Sentimentalität verfolgen, den Blick einfach einmal auf das Jahr 1678 richten, und zwar in die Gemeinde Fiesch, Schweiz. Zu Füßen des Aletschgletschers schworen die Einwohner damals, tugendhaft leben zu wollen und veranstalteten - so geht zumindest die Legende - als Zeichen ihres guten Willens ab Mitte des 19. Jahrhunderts einmal pro Jahr eine Prozession mit dem sinngemäßen Wunsch: Lieber Gott, lass diese lebens- und almwirtschaftsbedrohenden Eismassen, die den Märjelensee so gerne zum Überschwappen bringen, doch bitte zurückgehen! Und siehe da: Es klappte so gut, dass im Jahr 2012 das Stoßgebet am Aletschgletscher - heute Unesco-Weltkulturerbe und Attraktion für Millionen Touristen - den Umständen angepasst werden musste: Seitdem geht es darum, dass der größte Alpengletscher doch bitte wieder wachsen soll.

Warum die Gletscher der Alpen seit dem letzten Höchststand um das Jahr 1850 mehr als die Hälfte ihrer Fläche eingebüßt haben, liegt zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge eher nicht an Fiescher Prozessionen. Und ebenso zuverlässigen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge sind die Aussichten für das neue Gesuch um himmlischen Beistand eher trüb. Es ist aber offenbar schon so, dass es die Gletscher den Bewohnern unten im Tal während ihrer Geschichte nie wirklich recht machen konnten. Schmelzen sie weg, wird der Verlust beklagt, legen sie an Masse zu, passt es erst recht nicht. Einer wie Andrea Fischer ist deshalb der Hinweis wichtig: "Gletscher sind doch gerade deshalb so spannend, weil ein ständiger Landschaftswandel stattfindet."

Fischer steht gerade unterhalb des Gepatschferners am Ende des Kaunertals in Österreich und damit auch an den letzten Resten jener Urkraft namens Würm-Eiszeit, die bis vor rund 10 000 Jahren den Süden Bayerns ganz ohne mediales Lamento in eine Seenlandschaft verwandelt hat. Fischer ist nach einem "Physikstudium, um die Welt zu verstehen" in der Fernerkundung und schließlich in der angewandten Glaziologie gelandet. Sie ist heute am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck tätig und als Leiterin des Gletschermessdienstes des Österreichischen Alpenvereins so etwas wie die Stimme des Gletscherrückgangs geworden, zumindest in Österreich, wo einem die Gletscher oft näher sind als in Bayerns Seenlandschaft. Auf dem Weg hinauf zum Gepatschferner sagt sie gerne Dinge wie: "Der Bewuchs hier zeigt, wie schnell sich die Natur auf einen neuen Zustand einstellt. Vor hundert Jahren war hier noch Eis." Oder: "Gletscher haben im Grunde nur einen romantischen Wert."

Man kann das getrost so übersetzen: Selten war das Hochgebirge so aufregend wie heute - und der Klimawandel hat seinen Anteil daran.

Natürlich weiß eine wie Fischer: Die Gletscherschmelze ist eines der offensichtlichsten Warnsignale für das vom Menschen mit verursachte globale Fieber; Frohbotschaften sind die von ihr verfassten jährlichen Gletscherberichte nicht. Die langjährige Entwicklung zeigt eine eindeutige Beschleunigung der Schmelze, und auch wenn die Ergebnisse für das am 30. September zu Ende gegangene glaziologische Haushaltsjahr noch ausstehen, werden sich diese in der Tendenz kaum vom Vorjahr unterscheiden. Damals verloren die österreichischen Gletscher im Mittel 22,6 Meter an Länge; der Gepatschferner wurde mit 121,5 Metern Längenverlust in Sachen Schwindsucht nur vom Zillertaler Hornkees übertroffen. Seine Zunge hat sich in den vergangenen Jahren hinter einem Felsriegel zurückgezogen. Wer ihn besuchen möchte und nicht ganz so flott unterwegs ist wie Fischer, wandert vom Parkplatz an der Kaunertaler Gletscherstraße etwa eine Stunde; gleich an der ersten Brücke hängt ein Schild: "Achtung!! Attention!! Rauhekopfhütte über Gletscherzunge nicht mehr begehbar. Aufgrund erhöhter Steinschlag- und Absturzgefahr wurde der untere Gletscherzustieg bis auf Weiteres gesperrt."

Es gibt nicht nur Ötzi. Die Gletscher geben viele Geheimnisse preis - Schneeschuhe, Kerbhölzer und Flugzeuge

Bergwege wie jene zur Rauhekopfhütte sind nicht die einzige Infrastruktur, die durch das Fehlen des oft wie Bindemittel wirkenden Eises betroffen sind (siehe auch Grafik). Es herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die Schmelze sogenannte gravitative Massenbewegungen nach sich ziehen wird, die es in diesem Ausmaß bislang nicht gegeben habe. Eine Wand könne beispielsweise erst abbrechen, wenn sie der Gletscher freigebe. Weil im Durchschnitt jährlich etwa zwei der 70 verbliebenen Kubikkilometer des alpinen Eiskitts die Bergbäche runtergehen, gibt es für den Gletscherexperten und emeritierten Geografieprofessor Wilfried Haeberli von der Universität Zürich keinen Weg zurück: "Selbst wenn wir ganz strenge klimapolitische Maßnahmen ergreifen, dann greifen die zu spät." Jetzt gelte es, sich auf die Folgen einzustellen.

Das Thema ist aber auch eine Frage der Perspektive geworden, nach dem Motto: Wenn sich schon der Verlust der Gletscher nicht aufhalten lässt, dann können wir zumindest an der Einstellung dazu arbeiten. Gerhard Lieb, Geografieprofessor in Graz mit dem Schwerpunkt Glaziologie, plädiert beispielsweise für eine "Entemotionalisierung" der Gletscher. "Viele sehen Gletscher als weiße Zierde, die kulturgeschichtlich positiv besetzt sind." Dabei sei der Gletscher wirtschaftlich so gut wie kein Faktor, von kleineren Ausnahmen wie Sommerskigebieten abgesehen. Warum dennoch auch viele nicht direkte Betroffene das Verschwinden der weißen Flächen als tragisch werten, hat laut Lieb oft eher etwas mit der Ästhetik als der Angst vor Naturgefahren zu tun: "Alte Gletscherbilder werden als schön konnotiert, neue als eher bestürzend."

Was dabei gerne vergessen wird: Das Verschwinden der weißen Flächen setzt noch andere Prozesse in Gang als Erdrutsche und Steinschläge und die Entromantisierung des Hochgebirges. Wo gestern noch Eis war, entstehen neue Lebensräume, die ihrerseits wiederum die Forschung in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen beleben. Thomas Fickert vom Lehrstuhl für Physische Geographie an der Universität Passau untersucht beispielsweise die Pflanzensukzession in Vorfeld von Gletschern, gewissermaßen die Wiederbesiedlung ehemals vom Eis bedeckter Regionen. Und wer Fickert zuhört, muss zu dem Schluss kommen, dass es für Vegetationsgeografen kaum etwas Besseres gibt als so ein Gletschervorfeld. "Die Besiedlung geht relativ schnell vonstatten", sagt Fickert, "viel schneller als man das noch in den 1950er-Jahren geglaubt hat". Schon innerhalb der ersten ein, zwei Jahre kämen die ersten Pflanzen, "und dann geht es explosionsartig weiter".

Rüdiger Kaufmann, Professor am Institut für Ökologie an der Uni Innsbruck, stellt bezüglich der Tierwelt wiederum fest, dass im Gletschervorfeld die "Erstbesiedlungssituation ein wenig auf den Kopf gestellt ist". Anstelle der Pflanzenfresser kämen zuerst Räuber wie diverse Wolfsspinnen. Schließlich sei die Besiedlung im Gletschervorfeld nicht mit einer Insel vergleichbar, "weil es von einem intakten Ökosystem umgeben ist." Harald Stadler wiederum sagt ganz offen: "Ich hoffe zwar nicht auf den Klimawandel. Aber ich nutze die Gelegenheit." Stadler ist Professor für Gletscherarchäologie und damit in einem relativ jungen Fachbereich tätig. "Seit dem Ötzi gibt es neue Möglichkeiten", meint Stadler, wobei die am Tisenjoch ausgeaperte Gletschermumie nur das berühmteste Fundstück ist. Von Schneeschuhen über Kerbhölzer bis zu Flugzeugen gibt das Eis neuerdings so manches Geheimnis preis. Fischer meint gar: "Der Gletscher ist nicht nur ein Klimaarchiv, sondern fast schon ein Museum am Berg."

Wie es weitergeht? Fischer marschiert schnell und trittsicher das Gletschervorfeld am Fluss entlang hinab und blickt noch einmal zurück. Das Eis ist schon nicht mehr zu sehen, dafür jede Menge Schotter, den der Gletscher zurückgelassen hat. Fischer sagt: "Wir werden weiterwandeln auf diesem Pfad, von dem wir nicht wissen, wo er hinführt."

Weiterwandeln; es ist wohl das richtige Wort.

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Quelle:
SZ vom 22.10.2016
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