Süddeutsche Zeitung

Historischer Flug:Der Ur-Knall

Vor 60 Jahren riss ein Mann die letzte Mauer ein, die der Fliegerei noch im Weg stand. Als erster Mensch durchbrach der amerikanische Pilot Charles Elwood Yeager mit einem Raketenflugzeug die Schallmauer.

Alexander Stirn

Der Körper schmerzt, als Charles Elwood Yeager an diesem Morgen in den Flieger klettert. Ein paar Tage zuvor hatte er beim abendlichen Ausritt ein Gatter übersehen.

Das Pferd warf ihn ab, und der Mann, der bislang jedes noch so bockige Flugzeug zähmen konnte, fiel aus dem Sattel. Yeager brach sich zwei Rippen.

Ein Testpilot aber kennt keinen Schmerz. Erst recht nicht, wenn er Geschichte schreiben will. Und Charles Yeager, den alle nur "Chuck" nennen, spürt, dass es an diesem Tag so weit sein kann.

Heute, am 14. Oktober 1947, will er eine der letzten Mauern einreißen, die der Fliegerei noch im Weg stehen: die Schallmauer.

Wie eine unsichtbare Wand hatte sie bislang allen Piloten getrotzt, die schneller als der Schall fliegen wollten. Wer ihr zu nahe kam - und den Höllenritt überlebte -, wusste von seltsamen Vorgängen zu berichten: Tragflächen verformten sich, Steuerknüppel zeigten keine Wirkung mehr, Flugzeuge zog es steil bergab.

Respekt vor dem Tempolimit

Piloten und Konstrukteure erzählten voller Respekt von dem nicht zu knackenden Tempolimit, Aerodynamiker konnten es nur teilweise erklären: Luft werde, so die noch heute gültige Theorie, nahe der Schallgeschwindigkeit derart stark komprimiert, dass sich Stoßwellen bilden.

Der Luftwiderstand steige stark an, durch Verwirbelungen verliere das Leitwerk an Wirkung. Zudem, rechneten Theoretiker damals vor, müssten diese Kräfte kurz vor Erreichen der Schallgeschwindigkeit langsam aber sicher ins Unendliche steigen.

Chuck Yeager glaubt nicht an Formeln. Der Kampfpilot, der nie eine Hochschule besucht hat, vertraut - wie in all den Versuchen zuvor - auf sein Fluggefühl. Langsam rollt seine Maschine, eine B-29, zur Startbahn. Yeager sitzt im hinteren Teil des Flugzeugs, auf einer Metallkiste, auch dieses Mal ist er nicht angeschnallt. Unten im Bombenschacht hängt sein Mini-Flugzeug.

Bell X-1 heißt es offiziell. Yeager hat es Glamorous Glennis getauft, zu Ehren seiner Frau Glennis. Es sieht aus wie eine große Bombe, an die jemand flache Stummelflügel und großes Leitwerk geschraubt hat. Vier Raketenmotoren sollen die Maschine auf ungeahnte Geschwindigkeiten beschleunigen. Die Triebwerke am Boden zu zünden und mit ihnen abzuheben, wäre zu gefährlich. Daher transportiert die B-29, der leistungsfähigste Bomber seiner Zeit, das kostbare Gut auf seine Einsatzhöhe.

Experimente mit Raketen-Flugzeugen

Ganz so viel Vorsicht ließen die Deutschen nicht walten, als sie zehn Jahre zuvor erstmals mit Raketen-Flugzeugen experimentierten. Viele Forscher zweifelten zu jener Zeit, dass ein Flugzeug jemals sicher von einer Rakete beschleunigt werden könnte: Die Maschine, so die gängige Meinung, werde sich überschlagen.

Um das Gegenteil zu beweisen, musste ein Propeller-Jagdflugzeug vom Typ He 112 herhalten, in dessen Heck Ingenieure eine Rakete montierten. Und die Maschine flog tatsächlich, nur nicht allzu lange: Kurz, nachdem Testpilot Erich Warsitz im Juni 1937 die Rakete zündete, drangen Qualm und Gase ins Cockpit ein, die Temperatur stieg auf bedenkliche Werte. Warsitz konnte die Maschine nur mit Mühe notlanden. "Kaum war ich draußen, brannte sie auch schon", erzählte er später.

Die Entwickler gaben nicht auf und bauten mit der Messerschmidt Me 163 vier Jahre später das erste, von einer Rakete angetriebene Serienflugzeug. Der Abfangjäger flog schneller als 1000 Kilometer pro Stunde. Er klopfte an der Schallmauer, durchbrechen konnte aber auch er sie nicht - und das, obwohl die Ingenieure in Peenemünde bereits über einen Überschall-Windkanal verfügten.

Parallel zu den Arbeiten in Nazi-Deutschland tüftelten auch die Briten an einem Überschall-Flugzeug. Die Entwürfe der Miles M.52 schienen vielversprechend, doch wenige Monate vor dem ersten Testflug stellte die finanziell klamme Regierung das Projekt ein. Die Pläne wurden an die amerikanische Bell Aircraft Corporation weitergegeben. Sie wurden zur Grundlage für die Bell X-1.

2100 Meter hoch über der Mojave-Wüste macht sich Yeager im Bauch der B-29 bereit für seinen Einsatz. Er klettert in den Bombenschacht. Es ist kalt, windig, die Luft ist spürbar dünn. Eigentlich hätte ein anderer dieses Himmelfahrtskommando übernehmen sollen: Chalmers Goodlin war der reguläre Bell-Testpilot.

Bereits 26-mal hatte er die X-1 durch die Lüfte gesteuert, für den Flug durch die Schallmauer soll er allerdings 150 000 Dollar verlangt haben - und eine Gefahrenprämie für jede Minute, die er schneller als das 0,85-Fache der Schallgeschwindigkeit unterwegs sein würde.

Yeager macht den Job für 511,50 Dollar im Monat, sein normales Offiziersgehalt. Er steigt auf eine bewegliche Leiter, die langsam zur X-1 hinuntergleitet. Die Luke des ganz in Orange gehaltenen Experimentalflugzeugs ist eng, der Fallschirm hinderlich.

Flug mit gebrochenen Rippen

Yeager quetscht sich ins Cockpit. Er setzt seinen goldenen Helm auf, zurrt die Sauerstoffmaske fest. Die dicken Stahltanks direkt hinter ihm sind randvoll gefüllt mit Alkohol und flüssigem Sauerstoff. Überall Messinstrumente, Schalter, Warnleuchten. Die Scheibe im Dach ist aus Glas, Plastik würde bei der xtremen Luftreibung schmelzen. Einen ungehinderten Blick nach vorne ermöglicht sie nicht.

Die gebrochenen Rippen schmerzen. Yeager fehlt die Kraft, um die Kabinentür wie gewohnt mit dem rechten Arm zuzuziehen. Sein Freund und Flugingenieur Jackie Ridley, dem er als einzigem - neben einem befreundeten und verschwiegenen Tierarzt - von der Verletzung erzählt hatte, hat ihm einen abgesägten Besenstiel mitgegeben. Mit der linken Hand und dank der Hebelwirkung klappt es. Die Tür ist zu. Yeager ist bereit für den Abschuss.

Nur wenige Kilometer weiter hat George Welch sein Tagwerk bereits vollbracht. Welch ist ebenfalls Textpilot, fliegt den Prototyp einer XP-86 Sabre und hat gerade die Schallmauer durchbrochen. Zumindest wird er das später behaupten. Aus einer Höhe von mehr als elf Kilometern ist er mit seinem Düsenjet in den Sturzflug übergegangen, hat einen immer stärker werdenden Widerstand gespürt, der dann urplötzlich weg war.

Und Beobachter am Boden wollen einen verräterischen Knall gehört haben. Ganz so wie 13 Tage vorher, als es Welch schon einmal mit der Schallmauer aufgenommen hatte. Doch es gibt keine offiziellen Messungen, Welch befand sich im verpönten Sturzflug, und überhaupt soll niemand dem Prestige-Projekt X-1 die Schau stehlen.

"Das Mach-Meter spinnt"

Dabei ist Welch nicht der einzige, der den Sieg über die Schallmauer für sich reklamiert. Der deutsche Pilot Hans Guido Mutke will bereits im April 1945 über Innsbruck schneller als der Schall geflogen sein. Als er mit seinem Düsenjäger vom Typ Me 262 im Sturzflug einem Kameraden zu Hilfe kommen wollte, habe er typische Überschalleffekte gespürt. Bolzen seien aus den Tragflächen geflogen, der Fahrtmesser sei bei 1100 Kilometern pro Stunde stehen geblieben.

Mutkes Behauptungen sind jedoch umstritten. Nahe der Schallmauer würden Flugzeug-Tachos oft sehr unzuverlässig arbeiten, erwidern Skeptiker. Und Windkanaltests nach dem Krieg hätten gezeigt, dass die Me 262 bereits bei 0,85 Mach, also beim 0,85-Fachen der Schallgeschwindigkeit, unfliegbar geworden wäre.

Rekorde sind das Letzte, was Yeager in diesem Moment durch den Kopf geht. "Ich machte einfach meine Arbeit", wird er später erzählen. Routine. Wie bei den acht X-1-Flügen zuvor, bei denen sich der 24-Jährige näher und näher ans Schalllimit herangetastet hat. In sechs Kilometern Höhe lässt die B-29 ihre bemannte Bombe endlich fallen.

Yeagers Helm wird gegen das Dach der Kabine gedrückt. In schneller Folge zündet er die vier Raketenmotoren, stellt sie wieder ab, zündet sie erneut. Ganz wie geplant. Drei Tonnen Schub beschleunigen die X-1. Immer in Richtung Himmel.

Bei Mach 0,94 verliert das Höhenruder - wie vorhergesagt - seine Wirkung. Doch die Stabilisatoren funktionieren, und die Idee, das gesamte Leitwerk zur Steuerung zu benutzen, erweist sich als goldrichtig. Die Nadel des Mach-Meters zeigt 0,95, sie klettert auf 0,96, schließlich auf 0,97. In 13000 Metern Höhe und bei horizontalem Flug bleibt sie hängen - bei Mach 0,98. Sekunden später springt sie auf Mach 1,06.

Der schnellste Mann der Welt

Chuck Yeager, den seine Grundschullehrerin einst als "etwas langsam" bezeichnete, hat es geschafft. Er ist zum schnellsten Mann der Welt geworden. Er hat den ersten Stein aus der Schallmauer herausgeschlagen, den Weg für die Astronauten bereitet und ein neues Zeitalter der Luftfahrt eingeleitet: Überschall ist bei Militärjets seit den 1950er-Jahren Standard.

Zehn Jahre später entwickelte sich ein Wettlauf, wer als erstes einen Überschall-Passagierjet startet. Die russische Tupolew Tu-144 gewann knapp gegen die französisch-britische Concorde. Auf Dauer waren beide zu teuer, technisch zu anfällig, zu ineffektiv und konnten sich nicht behaupten.

Das Abenteuer Überschall ist dennoch nicht zu Ende. Japan arbeitet an einem Jet für 300 Passagiere, erste Modelle wurden bereits erfolgreich getestet. Und rund um die Welt forschen Flugzeugbauer an kleinen, leisen Business-Überschalljets, die eine zahlungskräftige Kundschaft in vier Stunden von Europa nach USA bringen sollen.

Chuck Yeagers Überschallflug dauert nur 18 Sekunden, dann ist der Raketentreibstoff aufgebraucht. Das Projekt ist so geheim, dass die US-Regierung den Rekordflug erst ein halbes Jahr später zugeben wird. Nicht einmal über den Funk darf Yeager die frohe Botschaft verkünden. Er findet dennoch einen Ausweg.

"Hey Ridley", ruft er seinen Flugingenieur. "Irgendwas stimmt nicht mit diesem Mach-Meter, es spinnt komplett." "Wenn dem so sein sollte, werden wir es reparieren", antwortet Ridley. Und als Zeichen, dass er die Botschaft nur zu gut verstanden hat, fügt er hinzu: "Ich glaube allerdings, das bildest Du Dir nur ein."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.908654
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.10.2007
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.