Historische Naturkatastrophe:Der Jahrtausendwinter

Der aktuelle Kälteeinbruch erscheint uns ungewöhnlich. Doch er ist nichts gegen den beispiellosen Frost des Jahres 1709.

Axel Bojanowski

Gierige Wölfe schlichen um die Dörfer. Sie attackierten Rinder, Wild und Pferdegespanne. Bald verloren die Raubtiere alle Scheu und stöberten sogar in Vorratskammern. Auch Menschen fielen ihnen zum Opfer. Der Hunger hatte die Wölfe nach Mitteleuropa getrieben.

Historische Naturkatastrophe: Seltene Wetterereignisse wie der Schnee in London im Februar 2009 werden schnell mit Begriffen wie "Rekordwinter" belegt. Alle Rekorde schlägt jedoch der Winter, der vor 300 Jahren über Europa hereinbrach.

Seltene Wetterereignisse wie der Schnee in London im Februar 2009 werden schnell mit Begriffen wie "Rekordwinter" belegt. Alle Rekorde schlägt jedoch der Winter, der vor 300 Jahren über Europa hereinbrach.

(Foto: Foto: AP)

In Russland war es im Herbst 1708 so kalt geworden, dass sie zu Tausenden nach Südwesten wanderten. Doch auch hier fanden sie zu wenig Nahrung. Denn eine der schrecklichsten Naturkatastrophen aller Zeiten wütete im Winter vor 300 Jahren in Europa: die "Grausame Kälte von 1709".

Die Menschen durchlitten die frostigste Phase der vergangenen 10.000 Jahre, viele starben. Noch in Portugal gefroren die Flüsse, Palmen versanken im Schnee. In ganz Europa trieben erstarrte Fische im Wasser, Rehe lagen tot auf den Wiesen, das Vieh erfror in den Ställen, Vögel plumpsten wie Steine zu Boden.

Das Klima war seinerzeit generell rauer as heute. Vom 15. Jahrhundert bis etwa 1850 herrschte die "Kleine Eiszeit" in Europa. Die Kälteperiode wurde vermutlich ausgelöst, weil die Sonne zwischenzeitlich an Kraft verlor. Zusätzlich verschleierte die Asche von Vulkanausbrüchen das Sonnenlicht.

Zwischen 1645 bis 1715 schwächelte die Sonne besonders - im sogenannten "Maunder-Minimum" wenn kaum noch Sonnenflecken auftauchen. Im Winter 1709 kam ein ungewöhnliches Wetterphänomen hinzu. Die Zeit der Wölfe war gekommen.

Im Morgengrauen des 15. Oktober 1708 weckte eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte die Berliner. Die meisten traf der Frost unvorbereitet, sie hatten ihre Wohnungen noch nicht beheizt. So schlug sich Raureif an Fenstern, Wänden und Möbeln nieder. Bis Mitte November herrschten noch leichte Minusgrade.

Dann wurde das ungewöhnliche Wetter - die Vorhut der Katastrophe - kurzzeitig vergessen, weil es vorübergehend wärmer wurde. Am 1. Dezember aber drehte der Wind auf Ost. Er fächerte nun Luft aus Sibirien nach Europa. Noch ahnte niemand, dass eine tödliche Witterung folgen würde, die mehr als vier Monate Bestand haben sollte.

Eine Luftwalze aus Sibirien

Die Kaltluft drang allmählich nach Süden vor. Am 3. Dezember senkte sie in Wien und Zürich die Temperaturen auf minus zehn Grad. Zwei Tage später herrschte auch in Südfrankreich Frost, massenhaft gefror der Wein in den Kellern. In Deutschland breiteten sich Krankheiten aus; in Augsburg zum Beispiel blieb kaum jemand verschont.

Nach einer kurzen Erwärmung um Weihnachten herum, kam der Frost mit noch größerer Wucht zurück. Mit 40 Kilometer pro Stunde wälzte sich erneut sibirische Kaltluft in Richtung Süden. Sie war nicht aufzuhalten, staunte der deutsche Meteorologe Walter Lenke in einer Analyse aus dem Jahr 1964 über die Umstände jenes Katastrophenwinters: Anfangs noch von einem "Wirbel" angetrieben, setzte die Kaltluft "den weiteren Weg nach Südwesten mit ihrer eigenen Bewegungsenergie fort", wunderte sich Lenke. Weder Hochgebirge noch andere Luftmassen konnten die sibirische Walze stoppen.

Der Jahrtausendwinter

Die Temperatur fiel mit jedem Tag weiter. In Berlin erreichte sie am 10. Januar 1709 minus 30 Grad. Vor Kälte bibbernd, erwachten die Menschen mit am Bettzeug festgefrorenen Nachtmützen. In Paris herrschten tags darauf minus 18 Grad. Selbst am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XIV. gelang es kaum, gegen die Kälte anzuheizen.

Eine Herzogin schrieb aus dem Schloss Versailles an ihre Tante in Deutschland: "Ich sitze am lodernden Feuer, einen Vorhang vor der geschlossenen Tür, mit Zobelfell um meinen Hals und meine Füße in einem Bärenfell. Und doch zittere ich vor Kälte, so dass ich kaum den Schreiber halten kann."

In normalen Haushalten waren die Feuerholz-Vorräte schnell aufgebraucht. Von Skandinavien bis Italien, von Polen bis Portugal erfroren ganze Familien in ihren Wohnungen. Viele Menschen verloren Gliedmaßen, Ohren oder Nase. Der Frost verstümmelte auch Tiere, Hähne verloren ihren Kamm. Epidemien breiteten sich aus. Auf Marktplätzen wurden Feuerstellen errichtet, an denen sich die Armen wärmen sollten.

Kein Ankommen gegen die Kälte

Doch gegen die Kälte war kein Ankommen. In ganz Europa erfroren Reisende auf den Straßen. Wie die meisten anderen Städte blieb Paris drei Monate von Nahrungsmittel-Lieferungen abgeschnitten. Viele Betriebe standen still. In Berlin mussten manche Schichten alle zwei Stunden abgelöst werden - und selbst in dieser kurzen Arbeitszeit riskierten die Arbeiter in der Kälte ihr Leben. Hungersnöte brachen in ganz Europa aus. Und wer noch Brot besaß, benötigte ein Beil, um die gefrorenen Klumpen zu teilen.

Fast alles verwandelte sich in Eis. Der Frost sprengte Bäume, ließ den Boden metertief erstarren und die Gewässer in Europa zufrieren. Themse, Seine, Elbe, Donau oder Rhein waren mit Pferdewagen passierbar. An Bodensee und Zürichsee hieß es "Seegfrörni".

Auch die Ostsee war zu Fuß passierbar - bis April. In Danzig konnten bis Mai wegen Eisgangs keine Schiffe den Hafen anlaufen, dafür konnte man dort sechs Monate lang Schlitten fahren. Venedigs Lagune blieb bis April eine Eisplatte, die Kanäle der Stadt erstarrten bis auf den Grund. In der Bucht von Marseille und vor Ligurien fror das Mittelmeer zu. Selbst die Mündung des Tejo in Lissabon bedeckte Eis. Zitronenbäume, Palmen, Rebstöcke und Olivenbäume erfroren.

Der Jahrtausendwinter

Auch im Kleinen hinterließ die Witterung ungewöhnliche Spuren. Naturkundler in Deutschland staunten über seltsame Eis-Kristalle: Der Schnee von 1709 bestand nicht aus Sternformen wie in normalen Wintern, sondern aus Säulen und Plättchen. Es war "Polarschnee", wie er sonst nur an den Polen oder in Eiswolken in vielen Kilometern Höhe bei Extremtemperaturen vorkommt.

Erst Ende März gab es erste Hoffnung auf ein Ende der Kältewelle. "Gar ein lieblicher Tag mit Wolken und Sonnenschein", notierte eine Frau Frisch aus Deutschland in ihr Tagebuch. "Es hat gar fein getaut, doch liegt noch Schnee und Eis genug. Der Wind hat sich nun aus Westen gewendet, welcher bis dahin stets nördlich oder östlich gewesen."

Der Frühling brachte nicht nur Gutes

Doch es dauerte, bis das Eis wich. In Hamburg wurden noch Ende März 200 Ochsen über die Elbe getrieben. Trotz Tauwetters war die Ostsee am 8. April mit Eis bedeckt, soweit das "bewaffnete Auge reichen konnte", wie ein Professor aus Danzig schrieb.

Anfang April schließlich kam der Frühling - doch der brachte nicht nur Gutes. In den Flüssen wälzte sich das Schmelzwasser zu Tal. Dutzende Städte wurden überflutet. Mit den Wassermassen schossen Eisschollen durch die Siedlungen, wodurch Zeugen zufolge "Häuser, Menschen, Schiffe und Vieh sehr großer Schaden geschah". Die schlimmste Folge des Kälte-Winters zeigte sich im Sommer: Die Ernte war im Frost großteils eingegangen, die Hungersnot verschlimmerte sich. Man sah Menschen, die auf den Feldern "wie Schafe" grasten.

Die wohlhabenden Bewohner von Paris wurden gezwungen, Suppenküchen für die Armen einzurichten. Bauern stellten auf Fruchtwechsel-Wirtschaft um: Auf einem Feld wurden fortan wechselnde Sorten angebaut, um die Ergiebigkeit zu erhöhen. Zudem wurde die Bewässerung modernisiert, Moore urbar gemacht und Deiche aufgerüstet.

Die Agrar-Revolution bewirkte, dass Hungersnöte nach 1709 deutlich seltener wurden. Die aus der Krise folgende Verbesserungen hätten dazu beigetragen, schreibt der Historiker Wolfgang Behringer von der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, dass sich "die Anfälligkeit der Gesellschaft für Aberglaube und religiöse Verirrungen verringerte."

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