Historie:Frankenstein im Regen

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Ein Schauerroman, die Erfindung des Fahrrads und des Mineraldüngers: alles Nebenwirkungen eines Vulkanausbruchs im Jahr 1815.

Von David Pfeifer

Ich hatte einen Traum,

der nicht ganz Traum:

Das Licht der Sonne war verlöscht,

die Sterne im Dunkel durch

die ew'gen Räume zogen,

Strahllos und pfadlos, und die kalte Erde

Hing schwarz und blind im mondlos

trüben Äther ...

George Gordon Lord Byron, "Finsternis"

Es war April, als im Jahr 1815 in Indonesien der Vulkan Tambora ausbrach. Asche, Staub und Gas gerieten in die Stratosphäre, und die Sonne konnte nicht mehr wie gewohnt auf die Erde strahlen. Die klimatischen und in der Folge gesellschaftlichen Veränderungen waren gewaltig. Bereits zwei Monate später wurden in Europa lang anhaltende Sonnenuntergänge beobachtet, die in außergewöhnlichen Orange-, Rot- und Rosatönen schimmerten. Sie sind heute auf mehreren Gemälden von William Turner aus dieser Zeit zu bewundern. Die Teilchen in der Stratosphäre verdunkelten die Erde aber bald so stark, dass ein Temperaturabsturz folgte.

Im Schlechtwettersommer des folgenden Jahres, 1816, kam es auch im Hochsommer in Mitteleuropa zu Schneefällen und Bodenfrost. Durch das dauerhaft miese Wetter waren einige Freunde von Lord Byron in einer Villa am Genfer See eingesperrt. Dort schrieb Lord Byron nicht nur sein Gedicht "Finsternis", sondern auch Mary Shelley ihren Roman "Frankenstein". Als "Achtzehnhundertunderfroren" wurde das Jahr in Deutschland bekannt, oder als "Jahr ohne Sommer".

Den deutschen Bauern froren die Felder im Juli und August ein. Aber auch an der Ostküste der Vereinigten Staaten und in Kanada vernichtete der über Nacht einsetzende Frost die Ernten. Im Jahr darauf stiegen die Getreidepreise. In ganz Mitteleuropa kam es zu schweren Unwettern, die Flüsse traten über die Ufer, auch weil der Schnee so früh und so tief fiel. Vor allem in der Schweiz, die durch ihre geografische Lage besonders viel Schnee und Hochwasser abbekam, setzte daraufhin eine schwere Hungersnot ein. Die Missernten führten dazu, dass das Vieh starb, dass es kein Korn und kein Fleisch mehr gab, der Überlieferung nach "haben Kinder im Gras geweidet wie die Schafe", um ihren Hunger zu stillen.

Bis ins 19. Jahrhundert galten Dürren oder Ernteausfälle religiösen Menschen noch als "Tatpredigten", die Gott zur Strafe auf die Erde sandte. Also stieg die Frömmigkeit. In Bayern pilgerten die Menschen verstärkt nach Altötting und Bittgottesdienste wurden sogar staatlich angeordnet. Die Dürre war aber auch Auslöser für eine ganze Reihe technischer Innovationen. So führt man die Entwicklung der Draisine auf das Pferdesterben im Dürrejahr zurück. Die zweiräderige Maschine ähnelt dem heutigen Laufrad für Kinder. Aus der Draisine wurde das Fahrrad.

Auch die Mineraldüngung wurde erforscht und entwickelt, die in den folgenden Jahren zu besonders großen landwirtschaftlichen Erträgen führte. Das Erntedankfest, das König Wilhelm der I. im besonders stark betroffenen Baden-Württemberg im Jahr 1817 einführte, kennt man heute noch als "Cannstatter Wasen".

In der Folge der Wetterphänomene kam es auch zu großen Migrationsströmen: Aus Deutschland wanderten die Menschen in die USA aus. In den USA wiederum zogen die Bauern aus Neuengland weiter nach Westen und ins Landesinnere. Innerhalb kurzer Zeit wurden die Staaten Ohio, Indiana und Illinois besiedelt.

Im Jahr 1816 wurden auch die Deutschen zu Migranten. Menschen ziehen seit jeher dorthin, wo sie am besten leben können

Warum das alles so gekommen ist und wie wenig der liebe Gott damit zu tun hatte, fanden Klimaforscher erst über hundert Jahre später heraus. William Jackson Humphreys, ein Physiker, der im Wetterdienst der USA arbeitete und sich dem Gebiet der Meteorologie und der Atmosphärenphysik widmete, stellte die Theorie auf, dass der Tambora nach seinem Ausbruch etwa 150 Kubikkilometer Staub und Asche verschleudert hatte. Immerhin war der Berg nach der massiven Eruption um mehr als 1000 Meter kleiner.

Die Sonnenstrahlen konnten nicht mehr durch die Atmosphäre dringen. Die Abkühlung des Weltklimas durch diesen Ausbruch hielt bis 1819 an. Mittlerweile weiß man auch, dass noch andere Eruptionen Ursache dafür waren, dass die Erde von 1810 bis 1820 kälter war als die gesamten 500 Jahre davor. Und das Jahr ohne Sommer ist klimageschichtlich nicht einmal die größte Katastrophe.

Es gibt recht stabile Theorien, dass die Menschheit schon einmal fast ausge- storben wäre, durch einen Vulkanausbruch. Vor 70 000 Jahren spie der Mount Toba auf Sumatra Lava aus, deren Menge zweimal den Mount Everest ergeben hätte. Der Ausbruch stürzte die Erde in eine Eiszeit, Gasbläschen im Eispanzer der Pole zeigen heute, dass sich zur fraglichen Zeit eine dichte Aschewolke über die Welt breitete. Der Toba-Ausbruch rottete die Menschheit fast aus. Nur etwa 3000 Menschen sollen diese Phase überlebt haben.

© SZ vom 13.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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