Hirnforschung und Philosophie:"Der freie Wille ist nur ein gutes Gefühl"

Wolf Singer ist einer der prominentesten Naturwissenschaftler, die dem Menschen einen freien Willen absprechen. Wie kommt er auf diese Idee?

Markus C. Schulte von Drach

Wolf Singer ist einer der prominentesten Naturwissenschaftler in Deutschland, die dem Menschen einen freien Willen absprechen. Seit einiger Zeit tritt der Philosoph Jürgen Habermas als wortgewaltiger Kritiker von Singer und anderen Hirnforschern auf und warnt davor, ihr Menschenbild zu akzeptieren. Habermas sieht die Grundlage des Zusammenlebens gefährdet von einem Naturalismus, der "alles Verständliche und Erlebte auf Beobachtbares reduziert". Es gäbe keinen Diskurs mehr, wenn jeder nur nachvollzöge, "was in den bewusstseinsfernen Regionen des Gehirns längst festgelegt worden ist". Bei sueddeutsche.de antwortet Wolf Singer auf die Vorwürfe des Philosophen.

Wolf Singer Hirnforscher

Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt a.M.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

sueddeutsche.de: Jürgen Habermas befürchtet, die Welt bliebe stumm und starr, wenn sich Ihr Menschenbild durchsetzen würde. Ist das so?

Singer: Der Beweis dafür, dass dem nicht so ist, ist die kulturelle Evolution selbst. Die hat vor nur einigen tausend Jahren begonnen und erstreckt sich also über einen Zeitraum, innerhalb dessen sich unsere Gehirne nicht mehr im großen Umfang verändert haben können. Und unsere Gehirne funktionieren nach deterministischen Naturgesetzen. Aber auch deterministische Systeme sind offen und kreativ, können Neues in die Welt bringen. Das kann Materie. Man muss der Materie ein bisschen mehr zutrauen.

sueddeutsche.de: Für Reduktionisten wie Sie, so Habermas, muss das bewusste Leben aber lediglich eine Nebenerscheinung der physischen Hirnprozesse sein.

Singer: Überhaupt nicht. Das Bewusstsein ist eine emergente Eigenschaft von Hirnprozessen und keine Nebenerscheinung, sondern etwas ganz Wesentliches. Es hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet und im Dialog der Gehirne beim Menschen eine ganz hohe Wertigkeit erlangt. Es hat eine zentrale Funktion.

sueddeutsche.de: Habermas stellt Ihre Position anders dar.

Singer: Dann hat er mich falsch verstanden. In meinen Schriften weise ich seit Jahren darauf hin, dass die Evolution Hirnarchitekturen hervorgebracht hat, die Wissen über die Welt enthalten und Programme, die dieses Wissen verwalten. Sie haben sich über Versuch, Irrtum und Auswahl an die Bedingungen, unter denen wir Menschen leben, angepasst. Die Evolution ist selbst ein kognitiver Prozess. Wenn Habermas jetzt postuliert, wir müssten "die natürliche Evolution selber auf eine nicht metaphorische Weise als Lernprozess begreifen" - dann wiederholt er lediglich, was für Neuro- und Evolutionsbiologen schon längst Gemeingut ist.

sueddeutsche.de: Ihre Positionen unterscheiden sich also gar nicht so sehr?

Singer: Was Habermas sagt über das intentionale Weltverhältnis, die gegenseitige Perspektivenübernahme, die Intersubjektivität der Verständigung - das ist im Einklang mit neurobiologischen Positionen. All das sind emergente Eigenschaften des Dialogs zwischen sich gegenseitig bespiegelnden Gehirnen. Es sind soziale Realitäten, die unsere soziokulturellen Lebensformen prägen. Aber um wirksam zu werden, müssen sich alle diese Prozesse natürlich physisch im individuellen Gehirn manifestieren. Wenn wir darüber hinaus noch etwas Immaterielles, Geistiges annehmen, das den neuronalen Prozessen vorgängig ist und auf das Materielle einwirkt, dann haben wir ein Problem mit den Energieerhaltungssätzen. Das würde die ganze Physik auf den Kopf stellen.

sueddeutsche.de: Habermas ist nicht der einzige Philosoph, der den Reduktionismus und sein Menschenbild kritisiert.

Singer: Ich glaube, die Schwierigkeiten mit dem Reduktionismus oder Determinismus kommen daher, dass viele damit Konzepte der positivistischen klassischen Physik des 19. Jahrhunderts verbinden. Sie denken dabei an lineare Prozesse, in denen alles abläuft wie in Uhrwerken. Dann käme tatsächlich nichts Neues in die Welt. Aber so ist es nicht. Bei unseren Gehirnen handelt es sich um komplexe, sich selbst organisierende, nicht-lineare Systeme, die zudem noch miteinander interagieren. Diese Erkenntnis tut unserem Menschenbild überhaupt keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ist wunderbar, wie diese komplizierten Prozesse ineinandergreifen.

sueddeutsche.de: Um über etwas zu reden, muss man klären, worüber man spricht. Deshalb hat Habermas versucht, den Begriff Handlungsfreiheit zu definieren: Handlungen wären demnach frei, wenn man sich von Einsicht bestimmen lässt. Dann kann man überlegen - also frei - handeln. Was sagt der Hirnforscher dazu?

Singer: Frei wären Entscheidungen somit dann, wenn sie auf der Plattform des Bewusstseins gefällt werden, und zwar durch Abwägen von Argumenten, wobei das Abwägen nach rationalen Diskursregeln zu erfolgen hat. Bei Argumenten, die bewusst gemacht werden können, handelt es sich ausschließlich um Inhalte, die im deklarativen Gedächtnis (bewusstes Gedächtnis für Fakten und Ereignisse, d.R.) gespeichert sind und somit um erworbenes soziokulturelles Wissen.

Um frei zu sein, sollte dieser bewusste Abwägungsprozess ferner möglichst ohne äußere und innere Zwänge ablaufen, uneingeschränkt von einer übermächtigen Triebsstruktur oder einem durch Drogen oder Hirnverletzungen getrübten Bewusstsein. Sind diese Bedingungen erfüllt, wird der Entscheidung das Attribut frei genehmigt, und der Handelnde wird für seine Handlung voll verantwortlich gemacht.

sueddeutsche.de: Diese Entscheidung wird dann als frei bezeichnet. Aber Ihrer Einschätzung nach ist mein Ich doch nicht wirklich frei, sich bewusst für eine bestimmte Handlungsalternative zu entscheiden?

Singer: Wo ereignet sich denn das bewusste Überlegen? In der Großhirnrinde. Und wer überlegt da? Komplexe neuronale Netzwerke, die über die Hirnrinde verteilt sind und in denen genetische und durch Erfahrungen eingeprägte Vorgaben und Regeln existieren. Die Netzwerkzustände werden beeinflusst durch Wissen, das aus dem Gedächtnis abgerufen wird, und von Argumenten, die man vielleicht gerade erst gehört hat, sowie von Zwischenergebnissen des Abwägungsprozesses, die im Kurzzeitspeicher liegen. Aber das alles basiert auf neuronalen Erregungsmustern, die untereinander um einen möglichst kohärenten (zusammenhängenden, in sich stimmigen) Zustand rangeln. Ein mehr oder weniger großer Anteil dieses Prozesses wird uns dabei bewusst. Der Umstand, dass sich dieser Prozess an die Naturgesetze halten muss, bedingt, dass er selbst determiniert sein muss.

sueddeutsche.de: Wie kommt nun ein Ich-Bewusstsein ins Spiel?

Singer: Hierzu bedarf es mit großer Wahrscheinlichkeit der Interaktion zwischen Gehirnen, die ganz bestimmte kognitive Fähigkeiten haben müssen. Eine dieser Fähigkeiten ist die Möglichkeit zur Perspektivenübernahme: Wir können uns vorstellen, was im Kopf eines anderen vor sich geht. Wir sehen uns sogar selbst gespiegelt in der Wahrnehmung des anderen. Solche Prozesse erfordern die Fähigkeit, eine Theorie des Geistes aufzubauen. Dann sind wir zu hohen Abstraktionsleistungen in der Lage, zur symbolischen Kodierung und zur Kommunikation dieser Kodes.

All das waren Voraussetzungen für die kulturelle Evolution, deren Errungenschaften dann durch Erziehung und kulturelle Prägung wiederum zur Verfeinerung von Hirnfunktionen führte. Dass wir komplexe logische Konstrukte höherer Ordnung aufbauen und zu Abwägungen heranziehen können, ist auch eine Kulturleistung. Wir haben jedoch kein Gefühl für die deterministischen neuronalen Prozesse, die all diesen Leistungen zugrundeliegen, und wir haben keinen Einblick in die unüberschaubar vielen Determinanten.

Dies führt dazu, dass wir anderen und uns selbst zuschreiben, autonome, selbstbestimmte, zu jeder Zeit frei handelnde Individuen zu sein.

sueddeutsche.de: Das klingt eigentlich sehr ähnlich wie die Habermassche Idee vom "objektiven Geist", der aus der Interaktion der Gehirne von Tieren hervorgegangen ist, die zur Perspektivübernahme fähig sind, und dem "subjektiven Geist", der sich im Zuge einer Vergesellschaftung ihrer Kognition bildet.

Singer: Aber Habermas scheint immer wieder zurückzufallen in diese "Welt der Gründe und Argumente", die etwas Immaterielles an sich hat. Wie gesagt, wenn Gründe neuronalen Prozessen vorgängig wären und nicht zuerst neuronal implementiert, um zu wirken, dann stellte dies das naturwissenschaftliche Weltbild radikal in Frage.

sueddeutsche.de: Sie sprechen dem Menschen also ein "Ich" und ein "Bewusstsein" gar nicht ab. Aber noch einmal zur Handlungsfreiheit: In der Alltagspsychologie wird dem gesunden Menschen die Fähigkeit zugesprochen, frei unter mehreren Alternativen auswählen zu können.

Singer: Diese Definition wird auch in der Rechtsprechung verwendet. Da habe ich allerdings mein Problem. Für Entscheidungen, die durch Abwägen erzielt werden, müssen Argumente zur Verfügung stehen. Man kann aber nicht bewusst Beliebiges aus seinen Speichern holen - sogar wenn es dort liegt. Was von dem vielen Gewussten jeweils ins Bewusstsein kommt, hängt von vielen unbewussten Motiven ab.

Es ist unwahrscheinlich, dass etwa einem Menschen mit starker Triebstruktur im entscheidenden Augenblick die Argumente einfallen, die ihn hindern zu tun, was er aufgrund seiner Triebstruktur tun möchte. Und wenn ein forensischer Gutachter bei einem Straftäter in bestimmten Bereichen des Stirnhirns einen Tumor findet, dann lässt sich argumentieren, der Mensch konnte die Tat nicht unterdrücken, weil die hierzu notwendigen Kontrollzentren zerstört sind.

Wir wissen aber, dass solche Defekte nicht immer sichtbar sein müssen. Nervenbahnen können genetisch bedingt fehlen, oder aufgrund von Entwicklungsprozessen schwach ausgeprägt sein, oder die Synapsen sind nicht stark genug, weil der Betroffene nicht richtig gelernt hat. Es gibt viele Möglichkeiten, die wir im Augenblick nicht erfassen können. Aber wenn man sich einmal dazu bekennt, dass alles, was wir tun, auf neuronalen Prozessen beruht, dann muss man annehmen, der Täter hat - im Gegensatz zu anderen Menschen - die Hemm-Mechanismen nicht aktivieren können, die es ihm erlaubt hätten, die Tat zu unterdrücken.

sueddeutsche.de: Das gilt für Menschen mit Hirndefekten. Aber die Entscheidungsprozesse laufen doch immer in Strukturen ab, die vor allem während unserer Sozialisation, unter dem Einfluss von Erfahrungen und Lernprozessen und auf der Grundlage unserer biologischen Ausstattung geformt wurden. Wenn ich nun als geistig gesunder Mensch in einem bestimmten Augenblick eine Entscheidung treffe, stehe ich dann einfach am Ende einer Kausalkette, die diese Entscheidung determiniert? Und man kann nur deshalb nicht vorhersagen, was ich tun werde, weil man nicht genug Informationen hat?

Singer: Selbst wenn Sie alle Informationen hätten, könnten Sie nur Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen, da die Dynamik des Systems hoch-nichtlinear ist.

sueddeutsche.de: Aber kann man nun sagen, ich hätte als geistig gesunder Mensch in diesem Augenblick entscheiden können, anders zu handeln?

Singer: Wahrscheinlich nicht. Alle diese Vorgaben legen fest, was von einem bestimmten Zustand aus als nächstes im Gehirn geschieht. Dass einige dieser Faktoren ins Bewusstsein dringen und wir unsere Entscheidungen als frei gewählt wahrnehmen, bedeutet nicht, dass die neuronalen Prozesse keinem deterministischen Mechanismus gehorchen.

"Die Person bleibt verantwortlich"

sueddeutsche.de: Jürgen Habermas zufolge kann man sich von einem organischen Substrat, das als Leib erfahren wird, bestimmen" lassen, ohne dass dies die Freiheit beeinträchtigt. Schließlich erfahren wir unsere subjektive Natur als Quelle unseres Könnens. Macht das für Sie Sinn?

Singer: Es macht Sinn, da wir uns als frei empfinden, wenn unsere Entscheidungen mit unseren bewussten oder unbewussten Motiven im Einklang stehen. Aber wer ist denn das "Wir"? In den Augen des Beobachters ist das Gegenüber ein nicht begreifbares, ständig neue Muster generierendes undurchschaubares System, dem Intentionalität zugeschrieben wird und alles das, was komplexe, sich selbst organisierende Systeme können. Sie erzeugen Strukturen, überraschen, sind kreativ. Und ich selbst schreibe mir das natürlich auch zu. Wem den sonst?

sueddeutsche.de: Es scheint hier aber eher um Urheberschaft und nicht um Verantwortung im eigentlichen Sinne zu gehen. Es klingt wie: Ich bin frei, wenn ich mich frei fühle.

Singer: Ja. Und das würde ich auch unterschreiben. Wir handeln zwar als autonome Wesen, die ihre Bedürfnisse befriedigen, die aber von Außenzwängen beeinflusst werden. Und man empfindet sich dann als frei, wenn der bewusste Abwägungsprozess zu einem Ergebnis führt, das stimmig ist mit den unbewussten Strebungen. Dazu kommt es, wenn man die Regularien, die sonst von außen als Zwang gewirkt hätten, internalisiert hat. Wenn die zum eigenen Imperativ werden, empfindet man sich in seiner Autonomie uneingeschränkt. Man fühlt sich frei - und damit gut. Freisein ist ein gutes Gefühl, es hat eine ästhetische Konnotation.

sueddeutsche.de: Aber ich kann mich doch im Augenblick einer Entscheidung frei fühlen, muss aber später feststellen, dass ich manipuliert wurde. Wenige Menschen werden sich gezwungen fühlen, Cola zu trinken. Aber man weiß, dass den meisten Pepsi besser schmeckt. Offenbar wirkt hier die Werbung. Trotzdem fühlen sich die Betroffenen in ihrer Entscheidung frei.

Singer: Ja. Es gibt auch interessante Versuche mit Split-Brain-Patienten (Menschen, bei denen die Verbindung zwischen den Gehirnhälften unterbrochen wurde, d.R.). Man kann eine Hirnhälfte auffordern, etwas zu tun, ohne dass die andere Hälfte dies weiß. Dennoch liefert diese im Nachhinein Argumente für das Verhalten im intentionalen Format "Ich tat dies, weil ....." , nur hat die Begründung mit der ursprünglichen Aufforderung nichts gemein.

sueddeutsche.de: Demnach kann sich ein Gehirn frei fühlen - auch wenn es nicht frei ist.

Singer: Mit Handlungsfreiheit kann natürlich keine absolute Freiheit gemeint sein. Wenn das Gehirn wirklich undeterminiert entscheiden könnte, dann wäre der Organismus nicht lebensfähig. Er würde sich erratisch über gute Gründe hinwegsetzen. Entscheidungen dürfen nicht undeterminiert ablaufen. Sie dienen schließlich dazu, den Organismus am Leben zu halten, sie müssen deshalb kausal in die physikalischen und sozialen Prozesse der Welt eingebunden sein.

sueddeutsche.de: Der amerikanische Philosoph und Determinist Daniel Dennet sagt, wir werden zur Verantwortung erzogen und müssen diese übernehmen, wenn wir ins eigenständige Leben entlassen werden. Der deutsche Philosoph Michael Pauen geht davon aus, dass man in der Lage ist, seine Vorlieben selbst zu verändern.

Singer: Da ist wieder diese Spaltung zwischen dem Ich und dem Rest. Diese Veränderungsprozesse lassen sich doch auch beschreiben, indem man das Ich als eine emergente Funktion des Gesamtsystems betrachtet: Es wird uns schon früh eingeprägt, dass wir verantwortlich sind. Obgleich wir kleinen Kindern noch keine Verantwortlichkeit zuschreiben, strafen und belohnen wir, um die Gehirne in ihrem Werdensprozess so zu instruieren, dass die Kleinen sich später als Erwachsene auf eine Weise verhalten können, die ihnen allzu viele Konflikte erspart.

Außerdem besitzen wir interne Bewertungssysteme, die feststellen, ob ein bestimmter Zustand des Gehirns befriedigend ist. Sonst würden wir ja gar nicht wissen, ob wir zum Beispiel glücklich sind. Vor diesem Hintergrund versucht das Gehirn, Verhalten möglichst konfliktfrei zu organisieren, so dass man nicht dauernd bestraft und frustriert wird. Dazu kommt die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen.

Das alles reicht doch als Triebfeder aus, um den ständigen Reifungsprozess des Menschen zu steuern. Freie Entscheidungen eines Ichs braucht es da nicht. Aber man kann sich dieses Vorgangs wie auch anderer kognitiver Vorgänge mehr oder weniger bewusst sein und ihn sich selbst als intentionalen Prozess zuschreiben.

sueddeutsche.de: Habe ich die Hirnforscher richtig verstanden, dass man mit Erziehung gewissermaßen Weichen in den neuronalen Strukturen stellt, die man später nicht einfach selbst wieder umstellen kann? Die können lediglich durch neue Informationen verändert werden.

Singer: Man kann sogar das hässliche Wort Programmierung benutzen. Alles, was in so einem Gehirn enthalten ist an Wissen und an Programmstrukturen, die dieses Wissen verwalten, liegt in der funktionellen Architektur. Und die ist durch Erfahrung prägbar. Deshalb können Sie als Erzieher gewisse Vorlieben installieren, die dafür sorgen, dass sich das System in eine bestimme Richtung weiterentwickelt.

sueddeutsche.de: Wir machen unsere Kinder für ihre Handlungen verantwortlich - obwohl wir wissen, dass sie noch keine Verantwortlichkeit besitzen - und bringen ihnen so bei, sich selbst als verantwortlich zu begreifen. Hat sich diese Wahrnehmung vielleicht entwickelt, weil der Nachwuchs den kausalen Bezug zwischen seinen Handlungen und den Folgen dann besser verinnerlicht? Könnte die Entwicklung einer Illusion von Handlungsfreiheit also eine Art Lern-Verstärker-Programm sein, das sich in der Evolution wegen seines Erfolges durchgesetzt hat?

Singer: Ja. Die Menschen sind ja auch die einzigen, die überhaupt absichtsvoll erziehen können. Das können Tiere nicht. Selbst Zwergschimpansen-Mütter bringen ihren Jungen nicht gezielt bei, Nüsse zu knacken, sondern die Kinder schauen zu, machen es nach und hauen sich die Finger blutig. Und die Mutter kommt nicht auf die Idee, dem Nachwuchs zu zeigen, wie man es richtig macht.

sueddeutsche.de: Philosophen und Strafrechtler werfen Ihnen vor, dass Sie ein Menschbild propagieren, demzufolge sich niemand mehr für seine Taten zu verantworten hätte.

Singer: Das ist ja völlig unsinnig. Auch wenn man unterstellt, dass es keinen freien Willen gibt, bleibt die Person als Verursacher für ihre Taten verantwortlich. Und so wird man weiterhin Straftäter zur Rechenschaft ziehen und versuchen, sie durch Erziehungsmaßnahmen und Strafandrohung dazu zu bringen, sich nicht mehr so zu verhalten. Und wenn sie zu gefährlich sind, werden wir sie weiterhin ihrer Freiheit berauben, um uns vor ihnen zu schützen. Aber ich denke, wir werden etwas nachsichtiger werden und in vielen Verbrechern das Opfer einer ungünstigen Konstellation von Genen, Entwicklungsfehlern, frühen Prägungen und so weiter sehen.

sueddeutsche.de: Zurück zu Herrn Habermas. Der macht den Hirnforschern den Vorwurf, ein Reduktionismus, der "alle elementaren Vorgänge deterministisch und auf wechselseitige kausale Einwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt zurückführt", sei dogmatisch. Sind Sie Dogmatiker?

Singer: Ich hoffe nicht. Ich erkläre vor jedem Vortrag: Lasst uns vorsichtig sein. Vielleicht gibt es draußen in der Welt noch Dinge, die, wenn wir sie entdeckten, die Welt so umkrempeln würden, wie es die Quantenphysik mit der klassischen Physik getan hat. Gerade Hirnforscher sind besonders vorsichtig, weil sie wissen, wie beschränkt unsere kognitiven Fähigkeiten sind. Unser Gehirn ist doch gar nicht daraufhin ausgelegt, das Absolute zu erfassen, sondern sich ganz pragmatisch mit Signalen auseinander zu setzen, die zum Überleben wichtig sind. So ein System ist sicher nicht dazu angetan, die Welt so zu erfassen, wie sie möglicherweise wirklich ist.

sueddeutsche.de: Aber Sie schließen die Existenz eines immateriellen Geistes doch konsequent aus?

Singer: Zur Zeit gibt es keinen Beleg, der uns zwingt anzunehmen, dass es neben den Prozessen, die in unserem Gehirn ablaufen, und die wir beschreiben können - Aktionspotentiale, Austausch von Informationen, komplexe Dynamik - noch zusätzlich etwas geben müsste, um zu erklären, warum wir so sind, wie wir sind. Wenn wir annehmen, dass da draußen noch etwas ist - und das will ich ja gar nicht ausschließen - dann führt das im Moment zu mehr Erklärungsschwierigkeiten als zu Lösungen von Problemen.

Wir müssen dann von irgend etwas Mysteriösem ausgehen, das im Lauf der Evolution entstand und nur in unserem Gehirn sich manifestiert. Denn die Neuronen im Menschenhirn sind die gleichen wie in der Schnecke, die Kommunikationsmechanismen sind im Prinzip die gleichen und die evolutionäre Entwicklung hin zum Menschengehirn ist kontinuierlich. Es gibt keine ontologischen Sprünge. Wenn es also diesen unabhängigen Geist gibt, dann stellt sich die peinliche Frage: Wann ist er ins Gehirn hineingekommen? Kommt er beim Menschen während der Embryogenese dazu oder nach der Geburt, allmählich oder plötzlich, im Affen aber nicht?

sueddeutsche.de: Habermas stellt die Objektivitätsfähigkeiten von Menschen überhaupt in Frage. Und auch ein menschlicher Naturwissenschaftler kann ja nicht aus seiner Haut.

Singer: Das sage ich ja auch immer. Wir können gar nicht wissen, was wir alles noch nicht wissen. Man muss halt zusehen, dass man sich in seinen Beschreibungssystemen möglichst widerspruchsfrei bewegt. Wenn wir aber unterstellen, dass es etwas Immaterielles, Geistiges gibt, das auf Materie einwirkt, dann ist Tür und Tor geöffnet für den Glauben an sämtliche parapsychologischen Phänomene.

Und bevor ich mich mit diesem Gedanken anfreunde oder gar aufwendige Experimente konzipiere, möchte ich es mit einem robusterem Phänomen zu tun haben oder in Erklärungsnotstand für etwas Beobachtbares kommen. Ich kenne kein einziges Experiment zum Nachweis parapsychologischer Phänomene, das überzeugend gewesen wäre.

sueddeutsche.de: Habermas sagt, dass man unsere innere Wahrnehmung, die Alltagspsychologie, und die objektivierenden Beschreibungen nicht in Deckung bringen kann, weil die naturwissenschaftlichen Theorien voller Erklärungslücken sind. Wissen Sie so wenig, dass Sie lieber schweigen sollten?

Singer: Ich denke, man sollte das, was man schon weiß, sagen, und auch das, was man aus dem, was man weiß, extrapolieren und induktiv erschließen kann. Und dann sollte man schauen, was das für Konsequenzen hat. Solange sich das, was man zu Tage fördert, widerspruchsfrei eingliedern lässt in anderes Wissen, sollte man daran festhalten. Und dass im Augenblick unsere subjektiven Erfahrungen und die objektiven Beschreibungen nicht zusammenzupassen scheinen, ist ja nichts Neues.

sueddeutsche.de: Das kennen wir auch aus der Alltags- und der Quantenphysik. Dort sind wir offenbar eher bereit zu akzeptieren, was uns subjektiv völlig anders erscheint. Und Habermas stimmt sogar zu, wenn er sagt, dass die Naturwissenschaften sich häufig gegen Erkenntnisse der Alltagspsychologie durchgesetzt haben. Aber nun macht er sich zum Anwalt des Alltagsbewusstseins.

Singer: Die Sonne geht im Osten auf und verschwindet im Westen am Rand einer flachen Scheibe. Das ist die Primärwahrnehmung. Aber so ist es halt nicht. Wir haben die Tendenz, lineare Modelle zu entwickeln und grob zu vereinfachen, um uns in einer komplexen und unsicheren Welt zu behaupten. Dies verdanken wir der evolutionären Anpassung unseres Gehirns, unserer kognitiven Systeme. So ist auch die Funktionsweise unserer Sinnessysteme an spezielle Anforderungen angepasst, und das führt zu einer unglaublich großen Zahl von Illusionen, die aber in den meisten Fällen für das Überleben sehr hilfreich sind. Wir sehen das Rot der Rose früh, mittags und abends gleich rot, weil wir Relationen zwischen spektralen Anteilen des reflektierten Lichtes berechnen. Dadurch gelingt es, die richtigen Beeren zu finden, unabhängig von der Beleuchtung. Ein physikalisches Messsystem würde uns allerdings zeigen, dass wir nicht die tatsächlichen Wellenlängen des reflektierten Lichtes, sondern die Relationen wahrnehmen. Wir sind ein angepasstes pragmatisches Geschöpf, das alle Tricks anwendet, um in dieser komplizierten und gefährlichen Welt zurecht zu kommen.

sueddeutsche.de: Auch wenn man erkannt hat, dass Liebe eigentlich nur dem trivialen Zweck dient, die eigenen Gene erfolgreich weiterzugeben, liebt man weiter. Ist das beim freien Willen auch so? Werde ich weiter an dieser Intuition festhalten wollen, wenn ich erkannt habe, dass es sich dabei nur um eine Illusion handelt?

Singer: Ja.

sueddeutsche.de: Habermas geht davon aus, dass es keine gemeinsame Ausdrucksform der Wissenschaftssprache und der Alltagssprache gibt. Wollen Sie trotzdem weiter mit ihm und anderen über das Thema diskutieren?

Singer: Unbedingt. Das müssen wir sogar. Allerdings wäre es schön, wenn wir die Polemik raushalten könnten und mehr Sachlichkeit hineinbekämen.

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