Süddeutsche Zeitung

Hirnforschung:Lauschangriffe auf das Gehirn

Bei ihren Versuchen, Maschinen direkt mit Hirnströmen zu steuern, machen Forscher große Fortschritte. Sie übermitteln inzwischen Sinneseindrücke von einer Ratte zu anderen und geben gelähmten Menschen die Kontrolle über Roboterarme.

Von Christopher Schrader

Für Jan Scheuermann war der Tag schöner als vorgezogene Weihnachten. Die Amerikanerin hat sich Mitte Dezember vergangenen Jahres selbst ein Stück Schokolade in den Mund geschoben. Ihre Freude wurde nicht so sehr durch die Süßigkeit ausgelöst, sondern vor allem durch das selbst gesteuerte Schieben. Die 53-jährige ist seit zehn Jahren vom Hals abwärts gelähmt.

Der Arm, der ihr die Schokolade zum Mund führte, gehörte nicht ihr, sondern einem Roboter in einem Labor der University of Pittsburgh. Scheuermann kontrollierte ihn über Elektroden, die in ihrem Gehirn implantiert sind. Nach einigen Monaten Training sagte die Frau bei einer Pressekonferenz: "Ich muss gar nicht mehr darüber nachdenken, in welche Richtung es gehen soll. Ich denke nur noch: Das will ich jetzt machen."

Etwa zur gleichen Zeit zeigten auch Paare von Ratten etliche Hundert sowie etliche Tausend Kilometer südlich von Pittsburgh erstaunliche Kunststücke. Ein Nager in Natal, Brasilien tastete sich mit seinen Schnurrbarthaaren durch einen engen Schlitz. 32 Elektroden in seinem Hirn erfassten die Wahrnehmung, Computer bereiteten die Signale auf und schickten sie per Internet nach Durham, North Carolina, wo sie mit einer Handvoll Elektroden ins Gehirn eines weiteren Tiers eingespeist wurden. Dieser Empfänger verhielt sich dann, als müsse er ebenfalls einen engen Schlitz passieren, obwohl das Hindernis vor ihm nur virtuell war, wie die Arbeitsgruppe des brasilianischen Forschers Miguel Nicolelis von der Duke University in Durham am Donnerstag vermeldete (Scientific Reports, online). Die Forscher hatten sozusagen Gedanken von der einen zur anderen Ratte übertragen.

Solche spektakuläre Versuche definieren ein Forschungsfeld, das sich viel vorgenommen hat: Blinde sollen wieder sehen, Gelähmte wieder gehen. "Unser Ziel ist es, dass ein gelähmter junger Mann bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien den ersten Schuss abgibt", sagt Nicolelis. Ein Exoskelett, also ein Roboter, der von außen an die Beine geschnallt wird, soll gesteuert von Hirnströmen seines Trägers die nötige Kraft aufbringen, so der Forscher. Ob es so kommt, muss sich noch zeigen, aber Nicolelis gehört unzweifelhaft zu den führenden Forschern der Welt, die den Einsatz eingepflanzter Elektroden vorantreiben. Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine heißen solche Implantate, als handele es sich um den Druckeranschluss eines Computers.

Per Elektrode steuern Affen künstliche und eigene Hände

Viele der Experimente wirken auf den ersten Blick grausam, weil Forscher wie Nicolelis gesunde Tiere nutzen - Rhesusaffen vor allem, und seit Kurzem Ratten. Affen bewegen in seinem Labor schon seit zehn Jahren Roboter allein mit Hirnströmen. Anfangs mussten die Tiere dazu in ein Gestell geschnallt werden, wo ihre Bewegungen weitgehend unterbunden wurden. Wenn sie die Aufgabe bewältigten, bekamen sie eine kleine Belohnung. Inzwischen, so erzählte Nicolelis vor kurzem auf der Jahrestagung der Wissenschaftsorganisation AAAS in Boston, können sich die Tiere frei bewegen. Auf ihrem Kopf sitzt ein Konus, als trügen sie einen Hut, der den Anschluss zu den implantierten Elektroden verbirgt. "Es ist ein Spiel für sie, mit den Gedanken die äußere Welt zu steuern", sagt Nicolelis. "Die Affen übernehmen die Perspektive der ersten Person und versetzen sich in die Maschine hinein."

So hat einer von Nicolelis' Affen den Gang eines Roboters in Japan über das Internet gesteuert. Anderen Tieren hat das Forschungsteam einen Rückkanal ins Hirn gelegt, der ihnen Informationen über die vom Kunstarm berührten Gegenstände übermittelte. Die Affen konnten so das richtige unter mehreren gleich aussehenden Zielen gleichsam ertasten. Eine weitere Forschungsgruppe, das Team von Lee Miller an der Northwestern University in Chicago, hat derweil die im Hirn von Affen abgegriffenen Signale genutzt, um den Tieren die Kontrolle über ihre eigenen, zeitweise gelähmten Arme wieder zu geben. Mittels einer Injektion wurden Nerven im Oberarm blockiert, eine von den Hirnströmen kontrollierte elektrische Stimulation der Muskeln erlaubte es den Tieren jedoch, Bälle zu greifen und in Löcher zu legen. Und chinesische Forscher von der Zhejiang-Universität lassen einen Affen über implantierte Elektroden eine künstliche Hand mit all ihren Bewegungsmöglichkeiten steuern. Das Tier ist aber ähnlich eingezwängt wie bei Nicolelis' frühen Versuchen.

Der brasilianische Forscher hat sich mittlerweile auch Ratten zugewandt. Er überträgt nicht nur Geistesleistungen zwischen ihnen. Vor zwei Wochen ist eine Studie erschienen, in der Nicolelis' Team den Nagern einen zusätzlichen Sinn gegeben hat: Die Tiere konnten Infrarotlicht wahrnehmen. Ein entsprechender Sensor saß auf dem Kopf der Nager, seine Signale führten zu dem Bereich im Rattenhirn, der die Impulse von den Schnurrbarthaaren verarbeitet (Nature Communications, online).

Die Ratten lernten innerhalb von vier Wochen, sich beim Aufleuchten einer Infrarotdiode nicht mehr im Gesicht zu kratzen, sondern sich unter dem "Licht" einen Schluck Wasser zu holen. "Sie haben übrigens die Fähigkeit, sich mit den Schnurrbarthaaren zu orientieren, nicht verloren", sagt Nicolelis. Die Zellen verarbeiteten jetzt Wahrnehmungen von beiden Sinnen. "Das würde nicht funktionieren, wenn das Gehirn nicht die erstaunlichste Gabe zum Lernen hätte." Die Kunst besteht den Forschern zufolge daher gar nicht mehr darin, die Elektroden an die korrekten Neuronen im Gehirn anzuschließen. Es erledigt viele der Details von allein, wenn die Verbindungen nach außen einigermaßen passen.

Inzwischen haben Implantate bereits eintausend Kanäle und Kontakte, sagt Nicolelis. Sechs bis sieben dieser Ensembles könne man Rhesusaffen einsetzen, Menschen vielleicht 20. Der gelähmten Patientin Jan Scheuermann hatte die Gruppe um Andrew Schwartz aus Pittsburgh zwei Elektroden-Ensembles in den linken Motorcortex gesetzt. Die Signale führen per Kabel aus ihrem Hinterkopf zur Steuerungselektronik des Roboters.

Das könnte sich bald ändern: Am Donnerstag haben Forscher von der Brown University in Rhode Island implantierbare Elektroden vorgestellt, die ihre Signale drahtlos durch die Schädeldecke schicken. Die eigentliche Elektrode ist mit einem Prozessor und Sender von der Größe eines Herzschrittmachers verbunden, dessen Batterie sich drahtlos laden lässt. Jeweils drei Rhesusaffen und Schweine hatten die Geräte bis zu 16 Monate lang ohne Komplikationen getragen (Journal of Neural Engineering, online)

Patienten Elektroden zu implantieren, sehen die Forscher trotz aller Fortschritte als letztes Mittel an. Auch mit Elektroden auf der Haut, die dort Hirnströme wie beim EEG abgreifen, haben Wissenschaftler es bereits Gelähmten ermöglicht, Buchstaben für Briefe auszuwählen oder Lampen ein- und auszuschalten. Andere haben mit Kappen experimentiert, in denen einige Dutzend der Elektroden stecken. In vielen Labors, zum Beispiel bei Todd Colemann an der University of California in San Diego, haben gesunde Versuchspersonen damit gelernt, komplexe Geräte zu bedienen - in Colemans Fall steuerten sie ein Modellflugzeug über Getreidefelder in Illinois.

Um deutlich unauffälligere Sensoren zu entwickeln, hat der Neuroforscher sie nun in Plastikstreifen von der Größe eines Pflasters integriert. Tattoo-Elektronik nennt er sie, nach den in Wasser eingeweichten Klebebildchen, die sich Kinder auf die Wange pappen. In Colemans Version haben sie neben Sensoren für Hirnströme auch temperatur- und lichtempfindliche Bereiche sowie Antennen, um ihre Daten zu funken. Sie kleben auf der Stirn oder anderen freien Stellen der Kopfhaut. "Ich habe mehr Platz", sagte Coleman in Boston und verwies auf seine Glatze, "aber bei den meisten Menschen ist die Fläche begrenzt." Auf der Haut fallen die instrumentierten Folien kaum auf. Noch reichen die übermittelten Daten aber nicht für die Steuerung des Flugzeugs, so Coleman.

Effekte auf die menschlichen Beziehungen

Wohin es führen könnte, wenn Implantate wie bei Schwartz oder die Pflaster von Colemann einst das Gehirn direkt mit Maschinen verbinden, darüber machen sich Ethiker bereits Gedanken. Der Widerwille gegen Eingriffe ins Hirn werde nicht ewig anhalten, sagt die Neuropsychologin Martha Farah von der University of Pennsylvania, die auch bei der Tagung in Boston war. Längst hat sich die Menschheit daran gewöhnt, Hilfsmittel zu verwenden.

Selbst das Zurechtlasern der Augenlinsen ist zum Routineverfahren geworden. Schon vor mehr als zehn Jahren hatte sich der britische Forscher Kevin Warwick für die Möglichkeit begeistert, den Körper mit technischen Hilfsmitteln aufzurüsten - und zugleich vor den entstehenden Cyborgs gewarnt. Als neue Elite würden sie nicht-modifizierte Menschen so schlecht behandeln wie die heutige Menschheit Schimpansen.

"Solche Science-Fiction lenkt von den näherliegenden Problemen ab", mahnt Farah. "Wer bekommt die teuren Geräte und wer bezahlt dafür - das ist viel wichtiger." Die Gesellschaft müsse sich darüber klar werden, ob sie zulassen will, dass die Technik zunächst von Gesunden für die eigene Verbesserung genutzt wird. Denkbar ist ja, dass sich zahlungskräftige Pioniere aus welchen Gründen auch immer einen Infrarotsinn oder ein von Gedanken gesteuertes Handy in den Kopf bauen lassen wollen.

Der Theologe Brent Waters vom Garrett Seminary sorgte sich in Boston vor allem um den Effekt, den der direkte Kontakt von Gehirnen und Maschinen auf die menschlichen Beziehung haben werde. Schon heute erlaubten die verbreiteten Geräte Kommunikation über nahezu beliebige Distanzen. Und körperliche Einschränkungen würden immer weniger toleriert. "Die Schnittstellen von Gehirn und Maschine werden Distanz und Körper vollends zum Ärgernis machen. Und die Ironie ist, dass die Entwicklung mit Geräten anfängt, die Menschen mit körperlichen Problemen helfen sollen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1613625
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.03.2013
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.