Hirnforschung:Im Zentrum der Angst

Wer extrem schüchtern ist, kann eigentlich nichts dafür. Das beweisen Hirnströme und der Hormonfluss.

Von Wiebke Rögener

"Hey, ich heiße Laura und bin vier. Und wer bist du?" So unbefangen gehen nicht alle Kindergartenkinder auf fremde Menschen zu. Viele klammern sich ängstlich an Mamas Hand oder verstecken sich hinter Papas Rücken.

"Schüchternheit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das schon bei sehr kleinen Kindern zu beobachten ist", sagt die Psychologin Christiane Hermann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Doch auch viele Erwachsene fühlen sich im Umgang mit fremden Menschen gehemmt und hassen es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

Den tollen Typen in der Disco einfach anzuquatschen oder vor Kollegen mal eben einen Vortrag aus dem Stegreif zu halten - das liegt nicht jedem.

Soziale Phobie

"Schüchternheit ist eine Eigenschaft wie andere auch und keine Krankheit", betont Hermann. "Wer allerdings ständig unter starken Ängsten leidet, wenn er mit unbekannten Menschen und neuen Situationen zu tun hat, wer fortwährend fürchtet, er könne sich peinlich benehmen, leidet an einer ernsthaften Störung." Fachleute sprechen dann von einer sozialen Phobie.

Offenbar läuft bei Menschen, die besonders schüchtern sind, im Gehirn etwas anders. Zu diesem Schluss sind italienische Forscher gekommen. Sie ließen 50 Dritt- und Viertklässler Gesichter betrachten und zeichneten derweil die Hirnströme der Kinder auf.

Dabei stellten die Wissenschaftler etwas Erstaunliches fest: Eine bestimmte Welle im EEG (Elektroenzephalogramm) war bei den Schüchternen weniger ausgeprägt als bei weniger ängstlichen Altersgenossen, wenn sie neutrale oder ärgerliche Gesichter vor sich hatten.

Und noch etwas war bei den Schüchternen besonders: Eine Variante eines Moleküls, das den Botenstoff Serotonin im Gehirn transportiert, trat bei diesen Kindern vermehrt auf (Archives of General Psychiatry, Bd.62, S.85, 2005).

Auch frühere Studien hatten bereits eine Andersartigkeit im Gehirn zutage gefördert: So löst das Betrachten unbekannter Gesichter bei zurückhaltenden Menschen eine stärkere Reaktion des Mandelkerns im Großhirn aus. Dieses Hirnareal wird auch als Angstzentrum bezeichnet.

Schüchterne Partymuffel?

Was Schüchternheit aber genau ist, ist nicht so einfach zu fassen. Ist jeder Partymuffel schüchtern? Ist das Kind schüchtern, das am liebsten in ein Buch versunken ist - oder mag es einfach lieber schmökern als Fußball spielen?

Der Psychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universität unterscheidet zwischen Ungeselligkeit und Schüchternheit: Wer Kontakte meidet, weil er lieber allein ist, ist ja zufrieden.

Wer aber gerne Anschluss fände und sich nur nicht traut - etwa aus Angst vor Zurückweisung - leidet unter Schüchternheit. "Der Unterschied liegt in einer stärkeren Hemmungstendenz bei den Schüchternen", sagt Asendorpf. "Ihre Annäherungstendenz ist dagegen normal."

Die stärkere Hemmung scheint eine physiologische Ursache zu haben: Jenes System im Gehirn, das auf Neues, Strafe und Frust mit hemmendem Verhalten reagiert, ist offenbar stärker ausgeprägt.

Im Zentrum der Angst

Wenn ein Mensch hin und wieder nicht wagt, was er eigentlich gerne tun möchte, ist das aber ganz normal: In Umfragen bezeichneten sich vor einigen Jahren gut 40 Prozent der amerikanischen Studenten als schüchtern; 90 Prozent gaben sogar an, sie seinen irgendwann einmal schüchtern gewesen.

Pubertäts-Schüchternheit

Vor allem in der Pubertät nämlich tritt Schüchternheit verstärkt auf. "Wer bin ich? Wie sehen mich die anderen? Wie komme ich an? Das sind Fragen die unter Jugendlichen eine große Rolle spielen und oft eine erhöhte Tendenz zu sozialen Ängsten mit sich bringen", erklärt die Mannheimer Psychologin Hermann.

Doch meist wachse sich das aus. "Während der Pubertät ist Schüchternheit bei beiden Geschlechtern am stärksten, dann lässt sie kontinuierlich nach", ergänzt Jens Asendorpf.

Strittig ist unter Fachleuten indes, ob sich die Schüchternheit zur Krankheit auswachsen kann. "Wer als Kind sehr gehemmt ist, hat ein erhöhtes Risiko, später eine Angststörung wie die soziale Phobie zu entwickeln", sagt Christiane Hermann.

Asendorpf ist anderer Meinung: "Das ist ein häufig kolportierter Irrtum", erklärt er. Zwar gäben viele Angstpatienten an, sie seien schon als Kinder schüchtern gewesen. Doch sei das keine zuverlässige Quelle. "Wer später ängstlich ist, bildet sich ein, das sei früher schon so gewesen." Noch hätte keine Studie den Zusammenhang nachgewiesen.

Eher Vermutungen als Erkenntnisse

Auch zu den Ursachen der Schüchternheit gibt es eher begründete Vermutungen als klare Erkenntnisse. Vielfach wird angenommen, dass ein Gutteil davon angeboren ist. Doch Christiane Hermann betont: "Die Beteiligung von Erbanlagen bedeutet nicht, dass Schüchternheit eine unabänderlich Eigenschaft ist." Vielmehr würden soziale Hemmungen stark durch Erfahrungen beeinflusst.

Eltern sollten deshalb dafür sorgen, dass schüchterne Kinder viele positive Erlebnisse haben. "Auf keinen Fall dürfen Schüchterne immer wieder vor schwierigen Situationen flüchten, sonst verstärken sich die Ängste noch", so Hermann.

Eltern sollten den heulenden Nachwuchs also nicht gleich wieder vom Kindergarten abmelden, sondern ihn anfangs nach einer halben Stunde abholen und ihn dann immer länger dort lassen. "Nur so lernt das Kind, dass es mit der gefürchteten Situation fertig werden kann."

Anerkennung durch Gleichaltrige kann schließlich auch dabei helfen, die Schüchternheit ganz zu überwinden. So kann aus dem stillen und ängstlichen Schulanfänger später durchaus der Klassensprecher werden.

Aber selbst wenn Menschen ihr Leben lang zu den Stillen gehören, kommen sie damit oft gut zurecht. "Probleme haben Schüchterne allerdings in beruflichen Situationen, in denen Teamarbeit und Durchsetzungsvermögen gefragt ist", sagt Christiane Hermann.

Und schüchterne Männer - die es übrigens fast genau so häufig gibt wie schüchterne Frauen - haben es bei der Partnersuche schwer. Zumindest in der älteren Generation leiden sie wohl unter den Rollenklischees, wie eine Befragung von US-Amerikanern der Jahrgänge 1928 und 1929 ergab: Schüchterne Jungen heirateten demnach später als der Durchschnitt, auch ihre berufliche Karriere verzögerte sich. "Heutzutage", nimmt Jens Asendorpf an, "dürften es schüchterne Mädchen aber ähnlich schwer haben wie die Jungen."

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