Süddeutsche Zeitung

Hirnforschung im "Human Brain Project":Dicke Schädel, falsche Versprechen

Es war der Stolz der Europäischen Wissenschaft. Jetzt steht das milliardenschwere Human Brain Project auf der Kippe. Wie konnte das passieren?

Von Philipp Hummel

Das Gehirn gehört zu den kompliziertesten Objekten im Universum, darauf können sich die meisten Hirnforscher einigen. Wie man das Organ und seine Funktion aber entschlüsselt, darüber ist ein Streit entbrannt, der die Gemeinde der europäischen Neurowissenschaftler spaltet. Er droht, ihr Prestigeprojekt in den Abgrund zu stoßen.

Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen: 2013 war das Human Brain Project (HBP) von der EU-Kommission als eines von zwei europäischen Forschungs-Flaggschiffen auserkoren worden. Innerhalb von zehn Jahren sollte es mit einer Fördersumme von bis zu 1,19 Milliarden Euro die Hirnforschung ins 21. Jahrhundert katapultieren. Das Ziel der Initiatoren um den Neurophysiologen Henry Markram von der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL): eine vollständige Computersimulation des menschlichen Gehirns, vom genetischen Code über Netzwerke von Nervenzellen und die Struktur der Hirnareale bis hin zum Bewusstsein.

Die Forscher wollten damit neurologische und psychische Erkrankungen wie Alzheimer oder Schizophrenie im Computer nachbilden, durch digitale Experimenten verstehen und schließlich in der Realität heilen. Die dazu nötige Infrastruktur aus extrem leistungsstarken Supercomputern, spezieller Software, umfassenden Datenbanken und dem Gehirn nachempfundenen Computerchips würde tiefste Einblicke in unseren Kopf erlauben, Tierversuche überflüssig machen und Europa in eine neue Ära der wissenschaftlichen Dominanz führen.

Aussichtsloses Wagnis eines charismatischen Scharlatans?

"Meiner Meinung nach wird das Human Brain Project als Wendepunkt in die Geschichte eingehen", sagte Henry Markram der Times of Israel im vergangenen Februar. "Es wird einen positiven Wandel auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft auslösen." Dass das Projekt in die Geschichte der europäischen Forschung eingehen wird, ist inzwischen sicher. Es fragt sich nur, in welcher Form. Als genialer Streich von Visionären um einen grandiosen Anführer - oder als aussichtsloses Wagnis eines charismatischen Scharlatans und seiner Gefolgschaft?

Angefangen hatten die Probleme schon kurz nach dem Startschuss des Projekts im Mai 2014: Damals beschloss die Leitungsriege um Markram, alle Vorhaben zur "kognitiven Architektur" des Gehirns von 2016 an ersatzlos zu streichen. Damit wäre die unmittelbare Erforschung des Gehirns mit den klassischen biologischen Methoden fast völlig aus dem Projekt verdrängt worden.

Alexandre Pouget, ein kognitiver Neurowissenschaftler an der Universität Genf, war wie viele seiner Kollegen entsetzt: "Man hat uns das Programm als riesigen Schub zum Verständnis des Gehirns verkauft und jetzt gibt es keine Grundlagen- oder Experimental-Forschung mehr", sagte Pouget im vergangenen Juli dem britischen Wissenschaftsmagazin New Scientist.

Verantwortliche reagierten gelassen auf Kritik

Gemeinsam mit anderen Neurowissenschaftlern begehrte Pouget auf. Die Gruppe verfasste einen offenen Brief an die EU-Kommission und veröffentlichte das Schreiben im Juli im Internet. Sie warf der Projektleitung um Markram gravierende Mängel in der wissenschaftlichen Zielsetzung und der Entscheidungsstruktur des HBP vor. Sollte das Projekt nicht massiv umgestaltet werden, schrieben die Forscher, werde man es künftig boykottieren. Bis heute unterstützen 800 Kollegen den Online-Brandbrief, darunter zahlreiche namhafte Neurowissenschaftler aus Deutschland. Auch die Medizin-Nobelpreisträger von 2014, May-Britt und Edvard Moser aus Norwegen haben unterzeichnet.

Und das dreiköpfige Exekutivkomitee? Reagierte zunächst gelassen auf die Kritik. Erst als die Zahl der Unterzeichner anschwoll, initiierten die einsamen Anführer des Großprojekts eine Mediation. 27 Forscher aus allen Bereichen des HBP berieten unter der Leitung des unabhängigen Prozesstechnikspezialisten Wolfgang Marquardt vom Forschungszentrum Jülich, wie man die Konflikte auflösen könnte. Tage vor der Veröffentlichung des Mediationsberichts und dem ersten Gutachten der EU-Kommission verkündete das HBP am 3. März dann auf seiner Website, dass das Exekutivkomitee mit Henry Markram, Karlheinz Meier von der Universität Heidelberg und Richard Frackowiak von der Universitätsklinik Genf abgesetzt sei.

Der Vorgang lässt sich als Zeichen vorauseilenden Gehorsams deuten. Denn beide Berichte kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Um doch noch erfolgreich zu werden, muss sich das Human Brain Project neu aufstellen, wissenschaftlich - und in seiner Leitung. Sonst droht das Aus.

Der Mediationsbericht hält vor allem fest: Die Kritiker um Pouget hatten Recht mit ihren Vorwürfen. Zu groß waren die Versprechungen von Markram und Co., mit Hirnsimulationen Krankheiten heilen zu können. Es habe in der Außendarstellung an Selbstreflexion gemangelt, was zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit führte. Die Führung habe sich geweigert, die Außendarstellung anzupassen. Es fehle an Transparenz in Entscheidungsprozessen und an Vertrauen in die wissenschaftliche Zielsetzung unter Markram innerhalb des HBP und auch in der Community der Neuroforscher. "Diese Probleme könnten das ganze Projekt bedrohen und stellen ein ernsthaftes Hindernis für dessen Erfolg dar", warnt der Mediationsbericht.

Vor allem geht es nun darum, die wissenschaftlichen Ziele neu zu fassen. Nicht zuletzt, weil der erste Schaden schon entstanden ist. Während des Mediationsprozesses war die zugesicherte Summe von 500 Millionen Euro für die Kernprojekte des HBP um 15 Prozent beschnitten worden. Die andere Hälfte der Fördersumme muss von den einzelnen Mitgliedsländern finanziert werden. Diese Mittel sind bislang nicht gesichert. Im Extremfall muss das HBP seine Ziele also mit nur einem Drittel der zugesagten 1,19 Milliarden umsetzen.

Der Ansatz leidet an den klassischen Problemen von Big Data

Das Kernziel allerdings steht sowieso auf der Kippe: die Simulation des menschlichen Gehirns. Laut Mediationsbericht stehen dafür weder ausreichend Daten als Grundlage zur Verfügung, noch werden sie sich in der Projektlaufzeit gewinnen lassen. Markram und sein Team hatte die Lücken mit abgeleiteten Daten aus anderen Projekten füllen wollen. Unter anderem hielt es der Israeli südafrikanischer Herkunft für möglich, an Mäusen gewonnene Daten dafür zu nutzen. "Predictive Neuroinformatics" heißt das Konzept. Es war bereits ein Kernelement in Markrams Blue Brain-Project, einem Vorläufer des HBP.

Für "Augenwischerei" hält das Andreas Herz, Professor für theoretische Neurowissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Herz war Mitglied des Mediations-Komitees. Der Ansatz leidet zudem an einem klassischen Big Data-Problem: Zwar lassen sich in großen Datenmengen mit Algorithmen Muster erkennen. Sie beschreiben aber lediglich die Struktur des Datenhaufens. Mit den physiologischen Eigenschaften des echten Organs müssen sie nichts zu tun haben. Herz glaubt deshalb grundsätzlich nicht, dass das Ziel erreichbar ist. "Eine 1:1 Simulation des Gehirns ist definitiv nicht möglich."

Ein Problem ist, dass diese Kritik auch an der neuen Führung des HBP abprallt: Das Direktorium unter Leitung des Lausanner Geophysikers Philippe Gillet hält Unstimmigkeiten zu Beginn eines Großprojekts für normal. Man bedanke sich beim Mediations-Komitee für die Hinweise. Von dem Ziel der Hirnsimulation will Gillet, der wie Markram am EPFL arbeitet, aber nicht abweichen, obwohl beide Berichte explizit dazu aufrufen. Es sei unwissenschaftlich, etwas als unmöglich zu bezeichnen, das man noch nicht versucht habe, meint Gillet. Es gebe auch Klimamodelle aus dem Computer. Die seien zwar nicht perfekt, ließen aber verlässliche Vorhersagen zu, sagt der Forscher. Und solche Vorhersagen wolle man nun auch für das menschliche Bewusstsein erstellen. Markram werde selbstverständlich der wissenschaftliche Leiter des Projekts bleiben.

5,8 Millionen km

lang sind die Nervenbahnen eines Gehirns, damit ließe sich die Erde 145 Mal umwickeln. Sie verbinden etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die wiederum durch 100 Billionen Synapsen miteinander verknüpft sind. Über sie werden alle Signale übertragen. In der Konnektom-Forschung versucht man, all diese Verknüpfungen zu kartieren.

Markram selbst scheint ebenfalls wenig Lust auf die eingeforderte verbale Zurückhaltung zu haben. Noch immer verspricht er ein funktionierendes Mäusehirn aus dem Computer innerhalb des nächsten Jahres. Auf das digitale Menschenhirn müsse man "mindestens noch 5 Jahre" warten, sagte er vor zwei Monaten der Times of Israel, fast zeitgleich mit der Bekanntgabe des Mediationsberichts. Dann könne man sich der Heilung von Erkrankungen wie Alzheimer widmen. "Genau diese Art der Kommunikation war es, die wir im Mediations-Komitee kritisiert haben", ärgert sich Peter Dayan. Er ist Professor für Computational Neuroscience am University College London und hatte auch den Protestbrief unterzeichnet.

Der Mediationsbericht macht deutlich, dass sich Markrams Rolle grundsätzlich ändern muss. Der "koordinierende Wissenschaftler", wie er im Bericht heißt, ist nicht nur weiterhin Mitglied aller entscheidungsfindenden, exekutiven und Management-Gremien. Er sitzt ihnen auch vor und beaufsichtigt die Verwaltungsorgane. Außerdem bleibt er Mitglied und Berichterstatter aller Beiräte. Er bestimmt die Mitglieder des Managements und leitet das operative Projektmanagement.

Wie sich eine so zentralistische Führungsstruktur innerhalb eines EU-Projekts herausbilden konnte, bleibt rätselhaft. Und es gibt noch mehr sonderbare Dinge: So bleibt im Dunkeln, wer eigentlich im Entscheidungsgremium der EU sitzt, das das HBP damals als Flaggschiff auswählte und nun die Berichte für die Kommission in Brüssel verfasst. Die HBP-Führung wiederum kann verhindern, dass diese Berichte veröffentlicht werden, indem sie ihre Zustimmung verweigert. Zugleich kennt sie aber die Jury, die den Flaggschiff-Wettbewerb geleitet hat.

Viele halten die vollständige Simulation des Gehirns für völlig unrealistisch

"Die Geheimhaltung der Mitglieder dient also nicht dem Schutz der Unabhängigkeit der Jury", sagt Pouget. Und Herz stellt fest, "der Fisch stinkt vom Kopf her. In den EU-Entscheidungsprozessen steckt das eigentliche Problem." Weder die Pressestelle des HBP, noch Markram oder der ehemaliger Co-Direktor Karlheinz Meier antworten derzeit auf E-Mails. Die beiden seien verhindert. Alexander Pouget glaubt, man habe Markram verboten, mit der Presse zu sprechen: "Sie verstecken ihn irgendwo."

Als einziges Mitglied der ehemaligen Leitung hat sich nach deren Absetzung immerhin Richard Frackowiak geäußert. Er bezeichnet das Ziel einer vollständigen Simulation des menschlichen Gehirns innerhalb der verbleibenden knapp neun Projektjahre als "höchst unwahrscheinlich". Ganz von den alten Plänen abweichen will aber auch er nicht: Eine "Blaupause" am Ende der neun Jahre sei möglich. Die Informatik in die Neurowissenschaften und die Medizin einzuführen, werde ein Wendepunkt für die Disziplinen sein. Das Projekt sei vergleichbar mit der Mondlandung oder der Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Viele Neurowissenschaftler wollen mit Markram nichts mehr zu tun haben

Andreas Herz und Peter Dayan glauben, dass es anstelle von Simulationen eher Bedarf für eine vernünftige Infrastruktur in der Neurowissenschaft gibt, beispielsweise um Daten zu vereinheitlichen und zu teilen. Mit dem Human Brain Project könnte Markram dann nach wie vor ein großer Wurf gelingen. "Er könnte der Community Werkzeuge zur Verfügung stellen, die einzelne Labore niemals entwickeln könnten", sagt Herz. Aber ist Markram bereit, sich neu zu erfinden, sich selbst zum Werkzeugmacher, zum Dienstleister zu degradieren? Als Degradierung würde dieser "Messias" der Neuroforschung, dem Herz ein "enormes Charisma" und Sendungsbewusstsein zuschreibt, einen Rollentausch wohl empfinden.

Viele Neurowissenschaftler indes wollen mit dem alten Markram am liebsten gar nichts mehr zu tun haben. "Es möchte sich keiner in zehn Jahren mit Mitte 40 oder 50 fragen lassen müssen: 'Was zum Teufel hat dich damals geritten da mitzumachen?'", sagt Herz. Sich um eine Einbindung der Neuro-Community zu kümmern, müsse aber eines der obersten Ziele der neuen HBP-Führung sein. So steht es im Mediationsbericht. Diese Plattformen sollen schließlich das Werkzeug sein, um das menschliche Gehirn, dieses vielleicht komplexeste Objekt im Universum, zu entschlüsseln.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2015/mahu
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