Hirnforschung:Ich denke, also steuere ich

Lesezeit: 7 Min.

Durch Denken einen Roboterarm kontrollieren - im Ansatz ist das bereits möglich. Forscher entwickeln immer raffiniertere Methoden, wie man das menschliche Gehirn mit Computern verbinden kann.

Von Boris Hänssler

In dem Science-Fiction-Film " Surrogates" mit Bruce Willis verlässt niemand mehr seine Wohnung. Die Menschen legen sich auf eine Bahre, klemmen sich Sensoren an den Kopf und verdecken die Augen mit Klappen. Das Gehirn wird mit einem Roboter verbunden, der sich äußerlich kaum von Menschen unterscheidet. Über ihre Gedanken steuern die Leute ihre Roboter bei der Arbeit, beim Einkauf oder bei Verabredungen.

Der Vorteil liegt auf der Hand: Wird der Roboter von einem Auto angefahren oder überfallen, bleibt der Steuernde unversehrt. Doch eines Tages finden Terroristen eine Waffe, mit der sie über die Roboter in das Gehirn der Menschen eindringen und diese töten können.

Solche Filme werfen ein schlechtes Licht auf die Bemühungen von Forschern, das menschliche Gehirn mit Computern zu verbinden. Fragen drängen sich auf: Könnten Geheimdienste in Zukunft auch unsere Gedanken ausspähen oder Terroristen die Kontrolle übernehmen? Natürlich sind solche Szenarien noch Science-Fiction, aber völlig absurd sind sie auch nicht: Erst kürzlich etwa ließ sich Andrea Stocco, Neurowissenschaftler der Universität Washington, mit einer verdrahteten Kappe auf dem Kopf vor einem Computer filmen.

Auf dem Bildschirm lief ein Spiel, bei dem Stocco mit einem Piratenschiff auf Raketen schießen sollte. Sein Finger schwebte über der "Feuern"-Taste. Er wurde allerdings ferngesteuert: Stocco war mit einem anderen Mann über das Internet verbunden. Dieser sollte sich lediglich vorstellen, eine Taste zu drücken. Die Gedanken rasten durch die Leitung, und Stoccos Finger bewegte sich nach unten. Surrogates scheint da nicht mehr fern zu sein.

In Wirklichkeit ist die Technologie, die in Washington zum Einsatz kam, unspektakulär: Ein Gerät zeichnete Aktivitätsmuster des Gehirns auf, ein entsprechendes Signal wurde an ein zweites Gerät auf dem Kopf von Stocco weitergeleitet. Dieses erzeugte daraufhin ein starkes Magnetfeld in einem Bereich in seinem linken Motorkortex - dem Gehirnbereich, der Handbewegungen kontrolliert. Die Ladung bestimmter Nervenzellen änderte sich, und der Finger erhielt den Befehl, sich zu bewegen.

Solch primitive Signale sind für Geheimdienste uninteressant, versprechen aber Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen neue Hilfstechnologien. Und Computerspieler können nun davon träumen, sich künftig allein mit Gedankenkraft in einer virtuellen Welt bewegen zu können.

Die Technik, um die es geht, nennen Forscher Brain-Computer-Interface (BCI) - eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Rechner. BCI ermöglicht die Kommunikation aus dem Gehirn heraus ohne Muskelbewegung; Zwischengeräte wie Maus, Tastatur, Joystick oder Touchscreen fallen weg. Sensoren messen Gehirnaktivitäten, diese werden von einer Software in Steuerbefehle für Computer übersetzt. So können zum Beispiel behinderte Menschen allein mit Gedankenkraft Buchstaben auswählen oder eine Armprothese steuern.

Elektroenzephalografie (EEG): Sensoren messen die Gehirnaktivität. Mit geeigneten Geräten lassen sich EEG-Informationen auf Computer übertragen. (Foto: dpa)

Scott Mackler etwa, ein Neurowissenschaftler, der ein Labor in New York leitete, erhielt 1999 eine niederschmetternde Diagnose: Er litt unter der Amyotrophen Lateralsklerose (Abkürzung: ALS), einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems, die jedes Jahr etwa ein bis zwei von 100.000 Menschen trifft. Die unheilbare Krankheit führt zu Lähmungen der Muskulatur, zu Bewegungs-, Sprech-, Atem- und Schluckstörungen.

Mackler nutzte lange Zeit einen Eyetracker für die Kommunikation - ein Gerät, das seine Augenbewegungen verfolgt. Legte man ihm eine Reihe von Buchstaben vor, musste er einen Buchstaben anstarren und die Sensoren erfassten diese Auswahl. Doch mit fortschreitender Krankheit ermüdeten ihn selbst die Augenbewegungen, seit 2008 bis zu seinem Tode im November 2013 nutzte Mackler deshalb ein BCI-System, bei dem er nicht mehr die Pupillen bewegen muss. Die Gehirnaktivitäten werden über Elektroenzephalografie (EEG) ausgelesen.

Wie ein Helikopterflug übers Fußballstadion

"Wenn Nervenzellen miteinander kommunizieren, entstehen elektrische Ladungsverschiebungen, die Sensoren auf der Kopfhaut erfassen können", sagt Andrea Kübler, Psychologin und BCI-Forscherin an der Universität Würzburg. "Allerdings sind in unserem Gehirn Milliarden von Nervenzellen aktiv, daher misst die EEG keine Aktivität einzelner Nervenzellen, sondern synchrone Aktivitäten von größeren Nervenzellenbereichen."

Reinhold Scherer, BCI-Forscher an der Technischen Universität Graz, vergleicht das Verfahren mit dem Helikopterflug übers Fußballstadion: "Vom Hubschrauber aus höre ich nicht die Unterhaltung der einzelnen Fans, aber wenn ein Tor fällt und alle aufschreien, dann weiß ich, was passiert ist."

Die Elektroenzephalografie liefert verrauschte Signale. Um etwas zuverlässig damit steuern zu können, müssen die Forscher sozusagen die Bäume im Wald finden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Im Falle von Scott Mackler stimulierte eine Software das Gehirn und regt es zur Erzeugung bestimmter Gedanken an. "Stellen Sie sich vor, Sie sitzen vor einem Bildschirm, und ich zeige Ihnen kurz nacheinander Fotos von Katzen", sagt Andrea Kübler. "Plötzlich kommt ein Hundefoto dazwischen. Diese Abweichung ist die Stimulanz - der Inhalt des Kurzzeitgedächtnissen muss erneuert werden." Die Forscher nennen diese Reaktion des Gehirns P300: 300 Millisekunden nach der Stimulation lässt sich das von der Norm abweichende, elektrisch positive Signal per EEG messen.

Dasselbe Prinzip lässt sich für die Kommunikation nutzen. Scott Mackler trug eine blaue Kappe mit regenbogenfarbigen Drähten, angeschlossene Elektroden messen die Gehirnspannungen. Auf dem Monitor erschien eine schnelle Abfolge von Buchstaben. Sobald der gewünschte Buchstabe auftauchte, maß das System in Macklers Gehirn eine Spannungsabweichung. So konnte er Buchstabe für Buchstabe auswählen und ein Wort zusammensetzen. Mit der Technik ließen sich bis zu 15 Auswahlen pro Minute treffen. Intelligente Wortvorschläge halfen, die Wörter zu vervollständigen.

Andrea Kübler arbeitet in Würzburg mit der Malerin Heide Pfützner zusammen, die dieselbe Technik nutzt, um digitale Werkzeuge in einer Bildbearbeitungssoftware auszuwählen - Symbole, Farben, Zeichen. Diese kann sie kombinieren und so Bilder gestalten. Pfützner ist ebenfalls an ALS erkrankt. "Das Programm ist ziemlich leicht zu erlernen", erklärt sie per E-Mail. "Schwierigkeiten ergeben sich, wenn ich zwischendurch anfange, etwas zu überlegen. Die Konzentration lässt für einen Moment nach, und so verpasse ich den Anschluss." Sie malt zwei- bis viermal pro Woche jeweils zweieinhalb bis vier Stunden. Für ein Bild braucht sie sechs bis 80 Stunden, je nach Thema oder Komplexität.

Die Technik habe ihr Leben verändert, sagt sie. "Ich kann wieder malen und farblich kreativ sein. Das kostet Zeit, in der ich nur am Bildschirm sitze. Man muss sich entscheiden, ob dies ein Opfer ist. Für mich ist es ein Gewinn." Marktreif ist das System allerdings noch nicht. "Ein Experte muss es etwa eine halbe Stunde bis eine Stunde mit Testmessungen an das Gehirn anpassen", sagt Kübler.

EEG hat den großen Vorteil, dass kein operativer Eingriff nötig ist. Der Preis ist das schwache, störungsanfällige Signal. "EEG-Versuche finden meist im Labor statt - im Alltag gibt es viele negative Einflüsse, sei es ein elektrisches Gerät, das die Spannungsmessungen verfälscht, oder einfach ein Hund, der auf ein Kabel tritt", sagt Reinhold Scherer. Außerdem benötigen die Patienten Gel auf der Kopfhaut wie beim Ultraschall. Einige Firmen verkaufen Trocken-EEG-Kappen, die ohne Gel funktionieren, doch Andrea Kübler sagt, solche Trockensysteme führen bei längerer Nutzung zu Kopfschmerzen, da sie auf die Haut drücken.

Mit dem schwachen EEG-Signal ist es außerdem schwierig, Neuroprothesen - etwa einen Roboterarm - zu steuern. Dafür brauchen die Forscher präzisere Signale fürs Heben, Senken oder Greifen. Sie müssen näher an das Gehirn. Bei der sogenannten Elektrokortikografie etwa werden die Elektroden direkt auf das Gehirn gelegt. Doch inzwischen neigen Wissenschaftler dazu, noch tiefer in das Gehirn einzudringen.

Deshalb konnte die 53-jährige Jan Scheuermann Ende vergangenen Jahres über ein BCI-Implantat einen Roboterarm steuern. Das Projekt wurde an der Universität Pittsburgh durchgeführt. Scheuermann leidet unter Tetraplegie, einer Querschnittlähmung, bei der man weder Beinen noch Arme bewegen kann. Bei Frau Scheuermann wurden zwei 4x4 Millimeter große Elektrodenarrays direkt im linken motorischen Kortex angebracht. Chirurgen mussten dafür die Schädeldecke öffnen. Die Datenübertragung der Gehirnaktivitäten erfolgte über ein Kabel.

"Drahtlos wäre besser, doch bislang gibt es keine befriedigende Lösungen", sagt der Grazer Forscher Scherer. "Durch den offenen Zugang zum Gehirn gibt es bei solchen Implantaten zudem ein hohes Infektionsrisiko." Studien sind daher in der Regel nur mit Menschen erlaubt, die bereits aus klinischen Gründen Implantate eingesetzt bekommen haben - etwa Epilepsie-Patienten. Scheuermann und die Forscher erwirkten eine Ausnahmegenehmigung.

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Die Methode ist vielversprechend. Die Frau trainierte mit einem virtuellen Roboterarm 13 Wochen lang täglich vier Stunden. Zuvor musste stets ein Techniker das System 30 Minuten lang justieren. Am Ende war die Frau dazu in der Lage, den echten Roboterarm zu bewegen, sich ein Stück Schokolade zu greifen und es sich in den Mund zu stecken. Sie scherzte: "Eine kleine Knabberei für mich, ein großer Biss für die BCI-Forschung." Die gesamte Prozedur ist allerdings aufwendig und teuer. "Im Moment könnten sich das nur reiche Menschen leisten", sagt Scherer.

Invasive oder nicht invasive Methoden?

In der BCI-Forschung ist umstritten, ob sich die Forschung auf invasive oder nicht invasive Methoden konzentrieren sollte. In Europa gibt es eine Tendenz zu nicht invasiven Anwendungen, während in den USA invasive bevorzugt werden. Fortschritte wird es bei beiden Methoden geben. "Man muss bedenken, dass wir noch in den Kinderschuhen stecken", sagt Scherer. "EEG etwa wird sicher noch genauer und störungsfreier funktionieren." Bei Implantaten sollen bessere Sensoren die Trainingszeit zu verkürzen.

Grundsätzlich würde sich sogar die Entertainment-Industrie für die Technik interessieren. Ein Computerspieler könnte damit in einer virtuellen Spielumgebung ein Schwert aufheben, nur indem er daran denkt. "Der Industrie ist die Technik allerdings noch viel zu langsam und zu teuer", sagt Scherer.

EEG und Implantate sind nicht die einzige Möglichkeit, Gehirnsignale abzulesen. Die Magnetresonanztomografie (MRT) und die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) werden ebenfalls erforscht. Beide Verfahren messen statt Spannungen die Sauerstoffaktivitäten - das MRT mittels Magnetfeld, das NIRS mittels Infrarotlicht. Der verbrauchte Sauerstoff ist ein Indikator für Gehirnaktivität. Das MRT liefert die besseren räumlichen Informationen, benötigt aber eine riesige Röhre, in die sich Patienten legen müssen. Es scheidet daher als Assistenzsystem im Alltag aus. NIRS wäre eine mobile Technik, aber sie benötigt derzeit fünf bis sechs Sekunden, bis sie eine Gehirnaktivität zuordnen kann, im Gegensatz zu den 300 Millisekunden beim EEG.

In Zukunft hoffen die Forscher, gleichzeitig Signale auslesen und Informationen an das Gehirn senden zu können. So wäre es möglich, dass der Nutzer einer Armprothese eine haptische Rückmeldung erhält. Würde er mit dem künstlichen Arm gegen eine Tür stoßen, könnte er im Gehirn einen Widerstand spüren. Forscher um Jörn Rickert vom Exzellenzcluster BrainLinks der Universität Freiburg entwickeln derzeit ein Implantat, das 32 Elektroden im Gehirn bereitstellt. Damit können die Forscher 32 Informationskanäle wahlweise für die Messung der Gehirnaktivitäten nutzen oder für die Stimulanz des Gehirns.

Rickerts Start-up-Firma CorTec arbeitet zudem an einer Lösung für das Kabelproblem: Die Daten sollen in dem Projekt per Infrarot durch die Kopfhaut geschickt werden, die Stromversorgung der Implantate erfolgt über elektromagnetische Koppelung - dabei wird das Implantat durch die Haut mit einer Betriebsspannung versorgt. Mit der Abschaffung der Kabel wäre die Infektionsgefahr beim BCI deutlich reduziert.

Mit Gedankenlesen haben all diese Technologien wenig zu tun. "Komplexe Gedankengänge zeigen sich zwar auch durch unterschiedliche Entladungen im Gehirn", sagt Andrea Kübler. "Aber um den Gedanken ,ich freue mich' von ,ich sitze auf dem Balkon' unterscheiden zu können, müssten wir womöglich jede einzelne Nervenzelle und ihre Interaktionen messen." Könnten Forscher eines Tages ein Gehirn vollständig simulieren, wäre dies vielleicht möglich - doch auf absehbare Zeit müssen Menschen sich um den Datenschutz im eigenen Gehirn keine Sorgen machen.

© SZ vom 09.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: