Hirnforschung:Dirigent für taktlose Köpfe

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Ein Neurochirurg behandelt psychische Störungen, indem er Hirnbereiche lahm legt.

Von Sabine Olff

Was Daniel Jeanmonod mit seinen Patienten macht, mag zunächst an die furchtbare Vergangenheit seines Fachs erinnern. Jeanmonod ist Hirnchirurg am Zürcher Universitätsspital, und er legt Bereiche in den Gehirnen von Kranken lahm.

Modell eines menschlichen Hirns. (Foto: Foto: dpa)

Doch anders als Ärzte in früheren Zeiten weiß der Spezialist für Stereotaxie genau, was er tut: Er knipst ganz gezielt und erfolgreich winzige Regionen in den Gehirnen von Menschen mit Parkinson, Epilepsie, chronischen Schmerzen oder Tinnitus aus, die Hände zittern und Ohren klingeln lassen.

Aus dem Takt geraten

Die Areale sind kaum größer als winzige Ohrstecker. Sie liegen etwa acht Zentimeter unter der Schädeldecke, nahezu in der Mitte des Gehirns. Bei etwa 350 Patienten wurden die störenden Regionen bereits für immer auf "Aus" gestellt.

Neuerdings operiert Jeanmonod mit seinem Team auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, wie Zwangs- und Angststörungen, Depressionen oder Schizophrenie. Zwölf wurden bislang therapiert, alle haben vom Eingriff profitiert.

Das Verblüffende dabei: Der krankmachende Mechanismus ist vom Parkinsonpatienten bis hin zum Zwangsneurotiker nahezu identisch. Das Gehirn ist aus dem Takt geraten.

Einer von Jeanmonods ersten psychisch kranken Patienten war ein 30-jähriger US-Amerikaner. Er war besessen von sinnlosen Ideen, die er unzählige Male durchdenken musste. Wenn er davon abließ, kam die Angst.

In seinem Zimmer checkte der junge Mann mehrmals am Tag, ob die Stereoanlage ausgeschaltet und das Fenster verschlossen war. Wahnhafte Phasen wurden von überglücklichen abgelöst, die wiederum in Depressionen enden konnten. Medikamente und Psychotherapie halfen nicht.

Wundersame Heilung?

Zehn Jahre dauert der Albtraum. Schließlich wurde der Mann vor mehr als drei Jahren in Zürich operiert. "Er ist ein neuer Mensch geworden", schrieb sein Vater vor kurzem an Daniel Jeanmonod. Der junge Mann arbeitet wieder, er hat eine eigene Wohnung und kümmert sich um seine Katze. Wahn, Zwang und Manie sind fast verschwunden, nur mit Ängsten hat der Mittdreißiger noch zu kämpfen.

Die Krankengeschichte erweckt den Eindruck einer wundersamen Heilung. Doch der Genesungsprozess lässt sich wissenschaftlich begründen. Damit unterscheidet sich die Psychochirurgie am Zürcher Universitätsspital grundlegend von den Heilversuchen der Vergangenheit. "Wir kennen den krankmachenden Mechanismus", betont Jeanmonod, "und wir operieren wirksam und schonend." Doch auch er weiß: In die falschen Hände sollte die Technik nicht geraten.

Hinter den Schizophrenien und Phobien steckt offenbar ein veränderter Rhythmus im Kopf, genauer gesagt in der funktionellen Einheit von Hirnrinde und Thalamus. Die Rhythmen in diesem Netzwerk bestimmen, wie wir fühlen, denken und handeln. Die Funktion des Thalamus lässt sich mit der eines Dirigenten vergleichen.

Die Hirnrinde, auch Cortex genannt, übernimmt die Rolle des Orchesters. Doch im Kopf der Kranken schlägt der Thalamus den Takt langsamer als normal; die Hirnrinde schwingt nach seinen Vorgaben. Die verlangsamte Thalamus-Dynamik kann aber auch dazu führen, dass sich mehr schnelle Hirnwellen im Cortex breit machen als normalerweise.

Das führt letztlich zu den Symptomen. So rauben langsame Rhythmen den Patienten die Lebenslust, während schnelle sie in den Wahn treiben.

Narben in der Seele bleiben

Der Störung kam Jeanmonod zusammen mit dem Neurophysiologen Rodolfo Llinas von der New York University auf die Spur. Die beiden nannten sie "thalamocorticale Dysrhythmie". Tatsächlich fanden sie die Dysrhythmie bei verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen.

Mittels Magnetoenzephalographie (MEG) entdeckten sie aber den entscheidenden Unterschied: Je nach Krankheit zeigen sich die anormalen Hirnwellen in anderen Regionen der Hirnrinde. Im MEG sieht man, dass die Rhythmen bei einem Parkinsonkranken im motorischen Cortex auftauchen, während sie bei einem Zwangsneurotiker in der Region liegen, die für das Denken und die Wahrnehmung zuständig ist.

In Zürich werden die Patienten in einer sechsstündigen Hightech-Operation von den abnormalen Hirnwellen befreit. Sie sind bei vollem Bewusstsein - das Gehirn spürt keine Schmerzen. Durch ein Loch in der Schädeldecke dringt der Neurochirurg mit einer dünnen Sonde bis zum Thalamus vor.

Dort werden drei bis vier Millimeter kleine Zellareale erhitzt und damit unwiderruflich zerstört. Die Quelle für die Dysrhythmie versiegt. Das MEG zeigt: In den Köpfen werden die abnormalen Hirnwellen seltener. Parallel dazu lassen die Symptome nach.

Blockieren, nicht zerstören

"Dass es den Patienten besser geht, hängt stark von der Normalisierung der Rhythmen ab", bestätigt Volker Sturm. Er hat an der Kölner Universitätsklinik den einzigen deutschen Lehrstuhl für Stereotaxie inne. Anders als Jeanmonod erstickt er die Hirnwellen aber nicht im Keim, sondern unterbindet die Fortleitung der falschen Wellen.

Wie fast alle Neurochirurgen mit dem Spezialgebiet Stereotaxie setzt er dabei auf Elektrostimulation. Sturm hat vor kurzem die ersten zehn Zwangs- und Angstpatienten operiert, indem er ihnen Elektroden ins Hirn gepflanzt hat. Der Strom blockiert die Zellen nur, er zerstört sie nicht.

Sturm findet zwar, dass Jeanmonods Vorgehen "hochattraktiv und wirkungsvoll" ist. Allerdings gehe dabei ein Bereich kaputt, über dessen Funktion noch wenig bekannt sei.

"Wenn es bei uns zu unerwünschten Wirkungen kommt, können wir den Strom dagegen einfach abstellen", sagt Sturm. Das hat der Neurochirurg bislang aber nur bei einem einzigen von hunderten Patienten tun müssen: Eine Elektrode war defekt.

Jeanmonod fühlt sich sicher: "Die Regionen, die wir ausschalten, sind ohne Nutzen", sagt er . "Sie stören nur." Er meint, dass seine Methode wirksamer sei als die Elektrostimulation. In einer Studie mit 41 Parkinsonkranken zeigte sich, dass fünf Jahre nach dem Eingriff die Gesamtsumme der Symptome um 60 Prozent abgenommen hat. In vergleichbaren Studien mit Elektroden sei der Effekt geringer und nicht stabil gewesen.

"Enttäuschung das größte Risiko"

Doch auch Jeanmonods Operation birgt Risiken. In vier von hundert Fällen kommt es zu Infektionen oder Hirnblutungen. Operiert werden deswegen nur Schwerkranke, denen keine andere Therapie hilft - und bei denen Aussicht auf Erfolg besteht. "Die Enttäuschung ist das größte Risiko", sagt der Hirnchirurg.

Nach dem Eingriff geht es fast allen Patienten besser als davor. Allerdings ist kaum jemand wenige Monate nach der Operation kerngesund. Es bleiben - mal mehr, mal weniger - die psychischen Narben der Erkrankung.

Oft werden sie durch Angst vor der neuen Situation oder vor einem Rückfall verstärkt. Jeanmonod erzählt von einer Schweizerin, die seit ihrer Jugend an einer Zwangsstörung gelitten habe. Mehrmals täglich putzte die 30-Jährige ihre Schuhe, schrubbte Bad und Küche und leerte unzählige Male den Mülleimer. Nach der Operation war die Putzwut verschwunden.

Doch die Patientin fiel in ein Loch. Nun sei eine Psychotherapie gefragt, sagt Jeanmonod. "Ich kann nur den Fels wegnehmen, den Weg muss die Frau selber gehen." Auch wenn die Neurochirurgie noch so wirksam sei: An diesem Punkt habe sie einfach ausgedient.

© SZ vom 5.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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