Süddeutsche Zeitung

Hirnforschung:Die Macht der Zelle

Die Annahme, Empfindungen würden aus dem Zusammenspiel etlicher Neuronen entstehen, ist offenbar falsch. Bereits einzelne Nervenzellen haben einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Gefühlen.

Joachim Marschall

Der Einfluss einzelner Nervenzellen im Gehirn auf die Wahrnehmung von Gefühlen wurde bislang unterschätzt. In einer Untersuchung konnte der Berliner Neurowissenschaftler Michael Brecht von der Humboldt Universität erstmals nachweisen, dass die Reizung einer einzigen Nervenzelle bei Ratten eine Sinnes-Wahrnehmung und Verhaltensänderung hervorrufen kann.

Bisher ging man davon aus, dass Empfindungen erst aus dem Zusammenspiel vieler hunderter oder tausender Neuronen entstehen.

Brecht hatte die Tiere darauf trainiert, sich mit der Zunge über das Gesicht zu lecken, sobald sie einen Reiz an einem Schnurrhaar spüren. In früheren Studien konnten Forscher das Zungenlecken hervorrufen, indem sie nicht die Härchen selbst berührten, sondern jene Region der Großhirnrinde elektrisch reizten, in der die Tastreize der Schnurrhaare verarbeitet werden.

Aber selbst bei dem bislang feinsten Verfahren, der so genannten Mikrostimulation, werden immer mehrere Neurone gleichzeitig angeregt. "Wie viele Zellen dabei genau angeregt werden, weiß man nicht", sagt Brecht. "Es könnten Dutzende sein, vielleicht aber auch Tausende."

In seiner jüngsten Untersuchung bediente er sich einer hauchdünnen Glaspipette, die fein genug war, sodass er damit die Oberfläche einer einzelnen Hirnzelle berühren konnten. Über diese ultrafeine Elektrode schickte er winzige Strömstöße.

Das Resultat war für den Forscher selbst überraschend. Ein einziges Neuron mit 15 kurzen Stromstößen zu stimulieren, reichte offenbar aus, um den Ratten die Wahrnehmung einer Berührung zu bescheren. Einige Zellen sprachen dabei besser auf die Mini-Elektroschocks an als andere; im Durchschnitt führte die künstliche Erregung nur in fünf Prozent der Versuche zu einer Verhaltensreaktion, berichtet der Forscher zusammen mit seinem Kollegen Arthur Houweling am heutigen Donnerstag in Nature (online).

Zwei weitere Studien in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals bescheinigen einzelnen Neuronen ebenfalls erheblichen Einfluss auf das Verhalten. Mit einer neuartigen Methode brachte der amerikanische Biophysiker Karel Svoboda vom Howard Hughes Medical Institute Nervenzellen von Mäusen dazu, sich durch einen Lichtstrahl ein- und ausschalten zu lassen. Dazu schleuste er fremde DNS-Abschnitte in Mäuse-Neurone, damit diese ein lichtempfindliches Protein herstellen und in ihre Zellwände einbauen. Fällt nun durch eine offene, mit einem Schutzglas abgedeckte Stelle im Schädel Licht auf das Gehirn, werden gezielt die wenigen Neuronen angeregt, die das fremde Eiweiß bilden.

Mit dieser Methode manipulierte Svoboda ebenfalls die Gehirnzellen, die für Tasthaar-Empfindungen zuständig sind. Mitunter genügte es, nur wenige Zellen gleichzeitig zu mit Licht reizen, um eine Reaktion beim Versuchstier hervorzurufen. Nach Svobodas Berechnungen genügte es, weniger als ein Prozent der Nervenzellen in einer spezialisierten Hirnregion zu stimulieren, um eine Verhaltensänderung zu erreichen.

"Das zeigt, dass man die Einzelzellaktivität ernst nehmen muss", sagt Brecht. Und dass eine Wahrnehmung nicht nur entsteht, wenn sehr viele Zellen aktiv sind. Der Neurobiologe vermutet, dass sich die Resultate auch auf Menschen übertragen lassen, schließlich seien die Nervenzellen bei Säugetieren vergleichbar. Bei der gröberen Mikrostimulations-Methode sorgen auch bei Menschen schon geringe Stromreize im Gehirn dafür, dass die Probanden über ein taubes Gefühl oder Kribbeln auf der Haut berichten.

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SZ vom 20.12.2007/mcs
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