Süddeutsche Zeitung

Hirn in Aktion:Der Rhythmus der Gedanken

Nur wenn die Nervenzellen des Gehirns im Gleichtakt arbeiten, entsteht aus den Signalen Wahrnehmung, Erinnerung und Denken.

Birgit Herden

"Und jetzt wird die Ratte nach links laufen", sagt György Buzsáki, als ein leise knatterndes Geräusch ertönt. Wissenschaftler aus aller Welt verfolgen den verschwommenen Fleck, der sich in abrupten Bewegungen über die Leinwand bewegt und tatsächlich nach einigen Sekunden links abbiegt.

Er repräsentiert eine Ratte, die durch ein Labyrinth rennt. Das Geknatter ertönt immer dann, wenn winzige Elektroden, die im Schädel des Nagers stecken, elektrische Aktivität in einer Gruppe von Nervenzellen registrieren.

Geknatter bedeutet: Die Ratte springt gleich aus ihrem Laufrad, läuft einen Gang entlang und biegt links ab.

Stille herrscht hingegen, wenn die Ratte durch den selben Gang laufen, aber im rechten Ausgang nach der Belohnung suchen wird. Mit Hilfe der Elektroden kann Buzsáki vorhersagen, wie sich die Ratte entscheiden wird.

Der Neurowissenschaftler von der Rutgers University in New Jersey präsentierte den Versuch kürzlich auf einer Konferenz in Titisee im Schwarzwald.

Den Vorsitz dort führte Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, und die Vorträge unter dem Titel "The dynamical brain" (Das dynamische Gehirn) waren eine eindrucksvolle Bestätigung einer seiner zentralen Thesen:

Wahrnehmung, Erinnerung und Denken entstehen nur dadurch, dass Nervenzellen im rhythmischen Gleichtakt oder der präzisen Abfolge komplizierter Sequenzen feuern. Die Arbeit einzelner Nervenzellen allein kann dem Gehirn keine Bedeutung vermitteln.

Bereits in den 1980er Jahren hatte Singer nachgewiesen, dass im Gehirn von Katzen weit auseinanderliegende Neuronen gleichzeitig aktiv werden, wenn die Tiere etwa ein Streifenmuster mit einer bestimmten Ausrichtung sehen. Selbst Nervenzellen, die auf unterschiedliche Aspekte des Bildes reagieren, feuern ihr schnelles Stakkato plötzlich im Takt.

Wahrnehmung und vielleicht auch Bewusstsein, so schien es, entsteht im Gehirn durch Gleichzeitigkeit.

Singers These war zwar bestechend, doch machte sie die Dekodierung des Geschehens im Denkorgan sogar noch komplizierter.

Nun genügte es nicht mehr, die Rolle von 100 Milliarden Nervenzellen herauszufinden, vielmehr mussten die Forscher auch ihr zeitliches Zusammenwirken analysieren.

Dass die Theorie inzwischen dennoch die Basis der Experimente Buzsákis und vieler anderer bildet, ist nicht zuletzt dem technischen Fortschritt zu verdanken: Mit modernen Mikroelektroden können Neuroforscher inzwischen die Aktivität vieler Nervenzellen gleichzeitig aufzeichnen.

Nervenzellen übertragen Signale durch elektrische Impulse, die sich entlang ihrer langen Ausläufer fortpflanzen und schließlich an Kontaktstellen auf benachbarte Neuronen überspringen.

Eine feine Elektrode im Abstand von einem fünfzigstel Millimeter von einer Zelle kann ihre Signale auffangen. Stellt man sich das Gehirn allerdings als ein Orchester vor, wie ließe sich dann das gespielte Stück ergründen, wenn man immer nur einen Musiker abhört?

Zudem gleichen die Vorgänge im Großhirn keineswegs einer fixen Komposition, die sich beliebig oft abspielen und von verschiedenen Stellen aus analysieren lässt.

Viel eher lässt sich das Neuronenfeuer mit einer Jazzband vergleichen, die im spontanen Zusammenspiel Bedeutung durch immer neue Variationen erzeugt.

100 Neuronen zugleich abhören

Um dieses Wechselspiel einfangen zu können, benutzen Forscher wie Buzsáki Felder von Elektroden im Abstand von jeweils einem fünfzigstel Millimeter; jede von ihnen nimmt die Spannungsänderungen in ihrer Umgebung wahr.

Die Nervenzellen werden so aus vielen unterschiedlichen Positionen heraus gleichzeitig angepeilt, ihre jeweiligen Aktivitäten lassen sich einzeln errechnen. Mittlerweile kann Buzsáki die Aktivität von bis zu hundert Neuronen gleichzeitig messen; eine höhere Auflösung hält er angesichts der technischen Entwicklung nur für eine Frage der Zeit.

Mit den Mikroelektroden erforscht Buzsáki vor allem den Hippocampus. Diese Hirnregion ist beim Menschen entscheidend daran beteiligt, dass Erlebnisse oder Fakten im Gedächtnis abgespeichert werden.

Bei Ratten ist der Hippocampus dagegen wichtig für die räumliche Orientierung. Dafür nutzen sie laut Buzsáki zwei Rhythmen. Zum einen pulsieren die Nervenzellen in einem Grundtakt, wenn die Ratte läuft.

Je nach Position werden darüber hinaus "Ortszellen" aktiv, die in einem geringfügig schnelleren Rhythmus feuern. Während die Ratte einen bestimmten Ort passiert, verschieben sich die Rhythmen gegeneinander - und diese Phasenverschiebung hilft bei der Orientierung.

Im höher entwickelten menschlichen Hippocampus, so postuliert Buzsáki, könnten Gedächtnisinhalte in ganz ähnlicher Weise abgerufen werden: Von Tests mit Menschen weiß man zum Beispiel, dass sie sich eine Reihe von Wörtern als feste Abfolge merken. Beim Erinnern durchlaufen sie quasi im Geiste diese Reihe, ein Gedanke führt zum nächsten.

Um das komplizierte Gefüge der Rhythmen aufschlüsseln zu können, brauchen die Neuroforscher neben der hochauflösenden Messtechnik auch mathematische Verfahren, um die Datenflut zu analysieren.

Damit hat sich Dietmar Plenz beschäftigt, der am National Institut of Mental Health in Bethesda bei Washington arbeitet. Er hat die spontanen elektrischen Signale untersucht, die Nervengewebe in einer Kulturschale erzeugt.

Diese scheinbar zufälligen Entladungen ähneln der Dynamik einer Lawinenbildung: Immer wieder kommen auf einem Abhang kleine Mengen Schnee gemeinsam in Bewegung, oft versiegt die Bewegung wieder, gelegentlich verstärkt sie sich.

Ähnliches sah der deutsche Forscher, als er einen Gehirnschnitt einer neugeborenen Ratte auf einer Platte mit 60 Mikroelektroden wachsen ließ. Immer wieder fanden sich Gruppen von Neuronen zu synchronem Feuern zusammen; die Abfolge der Gruppenaktivität folgte vorhersagbaren Sequenzen: "Das ist wie auf einer Party, wenn eine Gruppe von Menschen mit lautem Rufen eine andere Gruppe zum Nachahmen animiert, und sich das Rufen von einem Raum zum nächsten fortsetzt", sagt Plenz.

Das Hirn genügt sich selbst

Das Rattengewebe erzeugte über 4700-mal in der Stunde eine Aktivitätslawine, die einem von etwa 30 ähnlichen Mustern folgte.

Das Timing war dabei so präzise, dass im Schnitt nur Abweichungen von etwa vier Millisekunden vorkamen. Ein vergleichbares Phänomen findet Plenz in neuesten Versuchen auch in Hirnschnitten von Affen.

Aktivität ohne äußere Reize ist für die Neurobiologen keine Überraschung: "Nervengewebe ist ständig aktiv", sagt Plenz. "Es ist ja auch nahezu unmöglich, an überhaupt nichts zu denken." Das meiste im Gehirn geschehe ganz ohne äußere Reize - das Gehirn interpretiert sich fortlaufend selbst.

Die feinen Mikroelektroden von Buzsáki und Plenz können in der Regel nur einen Einblick in die Gehirne von Tieren gewähren. Menschen die Nadeln zu implantieren, verbietet sich aus ethischen Gründen.

Doch haben Wissenschaftler inzwischen auch gelernt, die hergebrachte Hirnstrommessung (Elektroenzephalogramm, EEG) zu nutzen, um die Rhythmen des Denkens zu vermessen.

Die Elektroden auf der Kopfhaut erfassen die mittlere Aktivität weiter Bereiche der Großhirnrinde, aus denen sich einiges lernen lässt.

Der Psychologe Matthias Müller untersucht an der Universität Leipzig Gammawellen: Wenn sich Menschen konzentrieren, zeigt das EEG eine wellenförmige Spannungskurve, die dreißig- bis siebzigmal pro Sekunde oszilliert.

Zeigt Müller seinen Testpersonen beispielsweise das Bild einer Gitarre, misst er deutliche Gammawellen. Wirre Linien erzeugen einen schwächer ausgeprägten Rhythmus.

Besonders deutlich wird die Reaktion des Gehirns, wenn die Testperson speziell nach einer Gitarre Ausschau hält. In seinen Versuchen hat Müller entdeckt, dass das menschliche Gehirn mit zwei unterschiedlichen Gruppen aus Gammawellen auf ein gezeigtes Bild reagiert.

Nach etwa 100 Millisekunden schwingen einige Hirnareale in der hinteren Großhirnrinde im Gleichtakt - jetzt werden Aspekte des Bildes verarbeitet, seine Farbe, Ausrichtung oder eine Bewegung.

Nach 350 Millisekunden kommt eine zweite Wellenfront, die in großen Bereichen verteilt über weite Bereiche der Hirnrinde auftritt. Diese Gammawellen variieren je nach gestellter Aufgabe; mit ihnen nehmen die Versuchspersonen das Bild bewusst war.

Die Vorstellung vom dynamischen Gehirn teilen inzwischen weltweit immer mehr Arbeitsgruppen. "Es hat lange gedauert, die Botschaft über den Atlantik zu bringen", sagt Singer. "Das Konzept der zeitlich-räumlichen Muster widerspricht der Intuition."

Besonders Versuche wie die mit Buzsákis Ratten rühren zudem am Selbstverständnis vieler Menschen.

"Was wäre, wenn wir vorhersagen könnten, welche Entscheidung ein Mensch in den nächsten Sekunden oder Minuten treffen wird?", fragt der Neurophysiker Haim Sompolinsky von der Universität Jerusalem.

Schon die Sprache wäre von diesem Sachverhalt überfordert, glaubt Sompolinsky. Spätestens dann würde für jeden sichtbar, was viele Neurowissenschaftler annehmen - dass die Vorstellung vom freien Willen eine Illusion ist.

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Quelle:
SZ vom 9.1.2007
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