Süddeutsche Zeitung

Naturkatastrophe im Himalaya:Ein Berg stürzt ab

Eine gewaltige Schlammlawine begrub vor wenigen Tagen ganze Dörfer im indischen Himalaya. Anhand von Satellitenbildern haben Forscher nun den wahrscheinlichen Hergang rekonstruiert.

Von Angelika Jung-Hüttl

Eine gewaltige Flutwelle donnerte vor einigen Tagen durch das enge Rishiganga-Tal im indischen Himalaya im Bundesstaat Uttarakhand und schleuderte hausgroße Felsen und gigantische Eisbrocken wie Spielzeug vor sich her. Straßen, Brücken und sogar zwei Wasserkraftwerke riss der Schlammstrom weg. Bisher konnten 50 Todesopfer geborgen werden. 138 Menschen werden nach jüngsten Medienberichten noch vermisst, außerdem 35 Arbeiter, die in einem in die Talflanke gesprengten, jetzt von Schlamm und Schutt verstopften Kraftwerkstunnel gefangen sind.

Während die Dorfbewohner weiter nach Überlebenden suchen, haben Wissenschaftler eine erste Hypothese zum Ablauf der Katastrophe. "Wir sind ziemlich sicher", sagt Frank Paul vom Geografischen Institut der Universität Zürich, "dass die Ursache der Katastrophe der Abbruch eines Hängegletschers war, der reichlich Fels mitgerissen hat." Paul arbeitet auch für den Weltgletscher-Beobachtungsdienst und ist spezialisiert auf die Auswertung von Satellitenbildern. Für den Ausbruch eines Gletschersees oder einer großen Wassertasche im Eis, wie anfangs vermutet, gibt es auf Satellitenaufnahmen demnach bislang keinen Hinweis.

Die Erforschung derartiger Katastrophen ist nicht einfach in einer so entlegenen Hochgebirgsregion mit tiefen steilen Schluchten zwischen Sechs- und Siebtausendern, darunter auch der 7816 Meter hohe Nanda Devi, der zweithöchste Berg Indiens. Erste grobe Analysen stützen sich daher auf digitale Geländemodelle und Aufnahmen der Gegend vor und nach der Katastrophe sowie auf Videos, die Einheimische ins Netz stellten.

Die Abrisskante der Sturzmasse entdeckten die Wissenschaftler in einer sehr steilen, vergletscherten Bergflanke in 5600 Metern Höhe. Ältere Satellitenbilder zeigen, dass sich dort ein Hunderte Meter langer, tiefer Riss quer durch das Gletschereis zog. Dieser wurde seit 2017 immer breiter - er klaffte auf wie eine Wunde.

Das wahrscheinlichste Szenario sieht also so aus: Am 7. Februar ist vermutlich genau dort der Gletscher auf etwa 550 Meter Breite abgebrochen und hat das etwa 800 Meter hohe Stück Felswand, an dem er festgefroren war, mitgerissen. Eis und Fels stürzten mehr als 1500 Meter in die Tiefe. Zurück blieb ein bis zu 150 Meter tiefes, keilförmiges Loch in der fast senkrechten Bergflanke. Ein Teil der Gletschertrümmer in dem talwärts rasenden Eis-Fels-Gemisch verflüssigte sich durch die enorme Reibung, während sie miteinander und mit dem Gestein der Talwände kollidierten. Felsblöcke zerbarsten, Staubwolken quollen empor. Während die Sturzmasse das Flusstal hinunterrauschte, riss sie Felsblöcke und lockeres Geröll aus dem Flussbett mit, was ihr Volumen und ihre Wucht noch vergrößerte. Der Schlammstrom erreichte nach 15 Kilometern die ersten Dörfer. Seine Spuren lassen sich auf Satellitenbildern auf einer Länge von insgesamt 30 Kilometer verfolgen.

Noch sei die Gefahr im Rishiganga-Tal nicht gebannt, sagt Frank Paul. Denn "viel Sturzmaterial ist auf den steilen Talflanken liegen geblieben und kann jederzeit etwa bei starken Regenfällen mobilisiert werden und erneut Murgänge auslösen." Was genau den Gletscherabbruch ausgelöst hat, ist noch unklar. Viele Massenbewegungen haben auch gar keinen Auslöser, erläuterte der Geomorphologe Dan Shugar von der University of Calgary, der auch an den Auswertungen beteiligt war, dem australischen Radiosender ABC, "sie passieren einfach." Auch sei es in einem so frühen Untersuchungsstadium noch nicht möglich, zu sagen, ob und inwieweit der Klimawandel bei dieser Katastrophe eine Rolle gespielt haben könnte. Das zu beurteilen wird auch in der Zukunft schwierig, weil lange Messreihen aus der Region und aus so großer Höhe fehlen.

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