Henricus Martellus:Mit dieser Karte soll Christoph Kolumbus in See gestochen sein

Henricus Martellus: Über und über mit Inschriften bedeckt war die Weltkarte von Henricus Martellus - erst jetzt konnten die Texte entziffert werden.

Über und über mit Inschriften bedeckt war die Weltkarte von Henricus Martellus - erst jetzt konnten die Texte entziffert werden.

(Foto: Lazarus Project/MegaVision/RIT/EMEL, courtesy of the Beinecke Library, Yale University)
  • Mit modernen Verfahren haben Forscher eine Weltkarte aus dem Jahr 1491 analysiert.
  • In dem Werk des deutschen Kartografen Henricus Martellus ist von abenteuerlichen Kreaturen die Rede.
  • Ostasien ist relativ genau eingezeichnet - daher vermuten Historiker, Christoph Kolumbus könnte sich bei seiner Expedition auf eine Karte von Martellus gestützt haben.

Von Peter Richter

Der amerikanische Maler Ad Reinhardt war Anfang der Sechzigerjahre für Gemälde berühmt, die auf den ersten Blick nichts als ein schwarzes Farbfeld zeigten, und erst wer lange hinsah - sehr, sehr lange; Reinhardt sprach von "Meditation" -, der konnte erkennen, dass unter dem viereckigen Dunkel noch andere Formen verborgen lagen, in der Regel Kreuze. Zu dieser Zeit - 1962, um exakt zu sein - kam die Beinecke Rare Book Library an der Universität Yale in Connecticut durch Schenkung aus Privatbesitz an eine historische Weltkarte, bei der es sich ganz ähnlich zu verhalten schien.

Die Karte hatte die Größe eines kapitalen Historiengemäldes, und man wusste, dass sie ungefähr 1491 von Henricus Martellus gefertigt worden sein musste, einem deutschen Kartografen, der zu jener Zeit in Florenz tätig war. Es war eine Weltkarte vom unmittelbaren Vorabend der Entdeckung Amerikas; es gab sogar starke Anhaltspunkte für die Vermutung, dass es diese Karte oder zumindest ein Ableger von ihr war, womit Christoph Kolumbus auf der Suche nach Asien in See gestochen war. Aber der Augenschein verriet auch, was dann eine frühe Infrarotaufnahme bestätigte: Die Karte war über und über mit Inschriften bedeckt. Die allerdings waren im Laufe der Jahrhunderte so verblasst und vollkommen in der graubraunen Farbe der Landmassen versunken. Sie ließen sich nicht entziffern, nicht durch langes Draufschauen, nicht durch sehr langes, nicht einmal durch Meditation.

In diesem Zustand der Rätselhaftigkeit musste die Karte noch ein weiteres halbes Jahrhundert verharren, bis sie jetzt von einem fünfköpfigen Forscherteam um den Kartografie-Historiker Chet Van Duzer mit der bildgebenden Technik von heute konfrontiert wurde. Van Duzer sitzt im Vorstand des Lazarus Projects an der Univer-sity of Mississippi, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Kulturinstitutionen von den Möglichkeiten des "multispectral imaging" profitieren zu lassen. Das Equipment besteht dabei aus einer Art Staffelei, auf der die Karte in jede beliebige Richtung bewegt werden kann, zwei LED-Lichtquellen, die Licht in jeder gewünschten Wellenlänge von ultraviolett bis infrarot auf das Untersuchungsobjekt abstrahlen können, einer sehr hochauflösenden Digitalkamera mit einer speziellen Spektral-Linse, die bei Licht in allen Wellenlängen, also auch den unsichtbaren, fokussieren kann, sowie aus einem Computerprogramm, das die gewonnenen Daten verarbeitet und die Einzelaufnahmen wieder zu einem Bild zusammensetzt.

Die Rekonstruktion glich einem komplexen Puzzlespiel

Das kann dann wiederum mit verschiedenen digitalen Werkzeugen behandelt - also: lesbarer - gemacht werden. Das war schwierig, weil die verblassten Inschriften mit verschiedenen Pigmenten ausgeführt waren und einzelne Bilder immer nur Bruchstücke von Texten zutage förderten. 22 verschiedene Bilder wurden von jedem Flecken der Karte gemacht, sagt Roger Easton vom Center for Imaging Science am Rochester Institute of Technology in New York, und diese Bilder wurden dann im Computer nach Wellenlänge geordnet übereinander gestapelt. "Die Aufgabe lautete dann, irgendwie eine Kombination aus diesen 22 Bildern zu finden, die eine bessere Lesbarkeit ermöglichten." Manchmal sei das recht schnell gegangen, meistens aber sehr, sehr langsam. Am Ende glich das alles einem komplexen Puzzle.

Aber es hat sich offensichtlich gelohnt. Das Verfahren werde seit einiger Zeit schon für schwer lesbar gewordene Manuskripte eingesetzt, sagt Chet Van Duzer, das berühmteste Beispiel sei das Archimedes Palimpsest. Auch Karten seien damit schon untersucht worden, aber bei der Weltkarte des Martellus sei es nun mit besonders großem Erfolg angewandt worden. Die Karte des Martellus, die schon als Gemälde eindrucksvoll ist, entpuppt sich nun auch als ein Buch, das sein Zustandekommen und seinen Gebrauch in fast schon postmoderner Manier gewissermaßen selbst kommentiert.

In einer der Kartuschen, die gemeinsam mit den pausbackig pustenden Repräsentanten der verschiedenen Winde die eigentliche Karte umgeben, liest man nun: "Die Lage der Erdteile, die auf allen Seiten vom Meer umgeben sind, haben wir hier aus verschiedenen alten und modernen Karten gewissenhaft zu einer Gesamtansicht zusammengefügt, sodass diejenigen, die sich mit der Lage der Länder auskennen, keine geringe Seelenfreude empfinden werden, alles nach bestem Wissen und Gewissen angeordnet zu sehen, während diejenigen, die keine Erfahrung auf diesem Gebiet haben, den Wunsch haben werden, in kürzester Zeit so viel wie möglich zu lernen. Wir bitten um eine Sache: Dass diejenigen, die von Geografie nichts wissen, sich kundig machen, bevor sie Dinge kritisieren, die von größerem Wert für sie wären, wenn sie sie richtig verstünden."

In der Karte finden sich Seemonster und Wesen mit Ohren groß wie Schlafsäcke

Mit diesem Marschbefehl macht man sich dann auf in Gefilde, wo den Inschriften zufolge Tiere leben, die "ganz anders sind als unsere". Von einer Schlange ist da die Rede, die den Boden dampfen lasse (". . . hic nasictur est serpens qui terram fumare facit.") Und vom Orca, einem Seemonster, das wie die scheinende Sonne schwer mit den Augen zu erfassen und daher schwer zu beschreiben sei, abgesehen von der Tatsache, dass es einen riesigen Körper habe und weiche Haut. ("Hic cernitur orca monstrum marinum ad modum solis cum reuerbant cuius figura vix descerbi potest nisi quod es pelle mollis et carne in mensa.") Je weiter nach Osten man kommt, desto absonderlicher wird die Welt: An den Rändern Asiens hausen gar Wesen mit Ohren, die so lang sind, dass sie ihnen als Schlafsäcke dienen. ("Hic pariusa monstra sunt simila hominibus tam dasa aurium magnitudine ut totum corpus legant.")

Henricus Martellus: Afrika in der Darstellung von Martellus

Afrika in der Darstellung von Martellus

(Foto: Lazarus Project/MegaVision/RIT/EMEL, courtesy of the Beinecke Library, Yale University)

Solche Monstergeschichten seien einerseits typisch für Karten jener Zeit, erklärt Van Duzer, ganz einfach aus dem ja bis heute noch nicht ganz ausgestorbenen Glauben, dass man selbst normal sei, alles Fremde hingegen abartig, erschreckend und monströs. Die Inschriften von Martellus fänden sich zum Teil fast wörtlich übernommen auch auf der berühmten Karte von Martin Waldseemüller von 1507 in der Library of Congress, der ersten Karte, in der ein damals noch recht schmaler Kontinent mit dem Namen "America" am linken Rand hinzugekommen war. Sie baut auf der Vorleistung der Martellus-Karte auf, die ihrerseits von dem Ort, an dem sie sich heute befindet, noch nichts wusste.

Ostasien ist sehr genau gezeichnet

Martellus seinerseits hatte sich auf die Kartografie des antiken Gelehrten Claudius Ptolemäus und seiner vielen Nachfolger gestützt und da, wo diese in Asien auch nicht mehr weitergewusst hatten, großzügig die Reiseerzählungen des Marco Polo zurate gezogen. Einige der See-Ungeheuer stammten auch aus dem "Hortus sanitatis", einer illustrierten Enzyklopädie von 1491. In dieser recht bunten Quellenmischung müssen aber auch Schilderungen von Afrikanern eine Rolle gespielt haben, sagt Chet Van Duzer. Anders sei die Detailgenauigkeit des südlichen Afrika nicht recht zu erklären. Das aber hieße, dass hier die Welt nicht nur mit europäischen Augen vermessen wurde, sondern eine autochthone geografische Selbstbeschreibung Afrikas auf uns gekommen ist, transportiert in einer europäischen Quelle.

Die Schilderung Ostasiens wiederum ist der Grund, warum die Experten davon ausgehen, dass Kolumbus diese Karte - oder eine Kopie - benutzt haben muss: Auf keiner bekannten Karte davor war die Lage Japans exakt in dieser Nord-Süd-Ausrichtung und auf diesen Längengeraden so eingezeichnet, wie Kolumbus den Berichten seines Sohnes zufolge das Land auf seiner Reise zu finden hoffte.

Wäre die Karte korrekt, wäre sie heute nicht da, wo sie ist. Aktuell und bis zur Wiederöffnung der renovierungsbedingt geschlossenen Beinecke Rare Book Library Ende 2016 ist ihr Aufbewahrungsort übrigens das Kunstmuseum von Yale. Dort hängt sie mit großer Berechtigung: Diese Karte ist nicht nur ein Dokument und eine Quelle, sie ist schon auch ein großes Kunstwerk. Und für Kunstwerke scheint sich an den amerikanischen Universitätsmuseen gefärbtes Licht gewissermaßen als sanfteste Form der Restaurierung durchzusetzen. Dieses Frühjahr erst konnte man in Harvard die Universitäts-Wandbilder von Marc Rothko nach Jahrzehnten der Verblassung wieder in ihrer ursprünglichen Farbigkeit betrachten, einfach indem sie mit entsprechend ausgleichendem Licht angestrahlt wurden.

Die wunderbare Weltkarte des Martellus ist nun nach Abschluss der Untersuchungen wieder in ihren Ad-Reinhardt-Status der beredten Schweigsamkeit zurückgesunken. Während im Internet dereinst zu lesen sein soll, was ihr an Texten eingeschrieben ist, ist die Karte jetzt wieder etwas zum langen, rätselnden Draufschauen. Vielleicht sogar zum Meditieren. Man wird keine geringe Seelenfreude dabei empfinden.

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