Genetik:Wenn Cousin und Cousine heiraten

Genetik: Javed Tahir und seine Frau Humaira - hier mit einem ihrer drei Kinder - leiden beide an einer erblich bedingten Muskeldystropie.

Javed Tahir und seine Frau Humaira - hier mit einem ihrer drei Kinder - leiden beide an einer erblich bedingten Muskeldystropie.

(Foto: Benjamin Fuglister)

Die Ehe zwischen engen Verwandten ist in vielen Ländern noch immer Tradition - und erhöht das Risiko für Erbkrankheiten enorm. Wie drastisch die Folgen sind, können Forscher immer genauer belegen.

Von Martina Merten

Das Leben von Javed Tahir geht irgendwie immer weiter. Auch, wenn das Tempo jeder einzelnen Bewegung zunehmend nachlässt. Javed Tahir sitzt seit einiger Zeit im Rollstuhl. Seine Beckenmuskulatur ist schwach. Seine Beine tragen ihn schon länger nicht mehr. Auch Tahirs Arme sind nicht mehr so stark wie einst. Der Pakistaner leidet seit seiner Geburt unter Muskeldystrophie, einer Krankheit, die Mutationen im Erbgut verursacht. Die Muskeln der Betroffenen werden über die Jahre immer schwächer. Irgendwann können sie vollständig gelähmt sein.

In Javed Tahirs Familie leiden alle unter Muskeldystrophien. Seine Eltern, seine Urgroßeltern, alle waren und sind sie betroffen. Auch bei Tahirs Frau Humaira setzte die Erkrankung vor Kurzem ein, eine Erkrankung, die mit einer durchschnittlichen Häufigkeit von zehn Betroffenen auf 100 000 Einwohner eigentlich als selten gilt. Tahir und Humaira sind Cousin und Cousine ersten Grades. Auch Tahirs Eltern entschieden sich der pakistanischen Tradition zufolge für eine Heirat innerhalb der engsten Familie. Ebenso deren Eltern.

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Die gesamte Familie sitzt auf Betten, bedeckt mit bunten Tüchern, innerhalb eines kargen, kleinen Lehmhauses. Es liegt etwas abseits vom Zentrum Islamabads. "Ich war fest entschlossen, als erster außerhalb der Familie zu heiraten", sagt Tahir. Er habe ein anderes Leben als seine Eltern führen wollen, sagt der 43-Jährige. Er habe geahnt, dass mit seiner Familie irgendetwas nicht stimmt. Tahir fand keine Frau außerhalb der eigenen Familie. Zehn Jahre habe er gesucht, zehn Jahre. Letztlich nahm ihn, der bereits von der Krankheit betroffen war, nur seine eigene Cousine. Und so nahm das Schicksal abermals seinen Lauf.

Weltweit leben eine Milliarde Menschen in Ländern, in denen eine Verwandtenehe üblich ist. Von dieser einen Milliarde ist einer von dreien mit einem Cousin zweiten Grades oder mit einem engeren Verwandten verheiratet oder ist Nachkomme einer solchen Ehe. Es sind Länder des Nahen und Mittleren Ostens oder Nordafrikas, in denen diese sogenannte Konsanguinität von Eltern kulturbedingt bevorzugt wird. Auch Emigranten aus diesen Gegenden, die heute in Nordamerika, Europa oder Australien leben, folgen noch häufig dieser Tradition. Während in den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens oder Nordafrikas zwischen 20 und 50 Prozent der Ehen zwischen nahen Blutsverwandten geschlossen werden, heiraten in der Islamischen Republik Pakistan durchschnittlich 56 Prozent ihren Cousin oder ihre Cousine ersten Grades. "In ländlichen Regionen sind es sogar an die 80 Prozent", sagt Dr. Hafeez-ur-Rehman, Anthropologe an der Quaid-i-Azam-Universität in Islamabad.

Die Gründe sind in allen Ländern mit dieser Tradition ähnlich, berichtet der langjährige Forscher: innerhalb der engsten Familie zu heiraten garantiere einen Partner mit ähnlichem sozio-ökonomischen Status. Man sei mit der Familie und den Gepflogenheiten des anderen vertraut. Häufig bestehe bereits ein gutes Verhältnis zu den Schwiegereltern. Auch seien die Scheidungsraten geringer. "In unserer Kultur sind Liebesheiraten noch immer nicht gern gesehen. Auch wenn die jüngeren, gebildeten Menschen sich zunehmend dafür entscheiden", sagt der Anthropologe. Dem Pakistan Demographic and Health Survey zufolge steigt die Wahrscheinlichkeit einer Liebesheirat mit dem Bildungsstand der Frau. Je ungebildeter sie ist, desto häufiger heiratet sie einen nahen Verwandten. Nur 36 Prozent aller Frauen und 46 Prozent aller Männer in Pakistan besuchen eine Sekundarschule. Bildung bleibt eine Ausnahme, insbesondere für Mädchen.

Das Fatale dieser Tradition sind die genetischen Risiken, die mit einer Ehe zwischen Cousin und Cousine ersten oder zweiten Grades verbunden sind: Liegt die Gendefektrate bei einem nicht-verwandten Paar zwischen zwei und drei Prozent, ist sie bei einer Heirat zwischen Cousin und Cousine ersten Grades doppelt so hoch, sagt Salman Kirmani, Professor für Pädiatrie an der Aga-Khan-Universität in Karatschi. Kirmani zählt zu den wenigen Ärzten seines Landes, die sich auf Genetik spezialisiert haben. Vertiefen konnte der Mediziner sein Wissen an der Mayo-Klinik in Minnesota. "Sind allerdings beide Eltern nachgewiesene Träger eines Gendefekts, besteht eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass auch ihr Kind betroffen sein wird", sagt er. Blickt also eine Familie wie die von Javed Tahir auf mehrere Generationen von Verwandtenehen mit Behinderungen innerhalb der Familie zurück, erhöht sich das Gendefektrisiko für die Nachkommen drastisch.

"Wir müssen Kampagnen starten"

Die Arten der Behinderungen von Kindern, die aus Verwandtenehen stammen, variieren enorm, sagt Nabia Tariq, Leiterin der Abteilung für Gynäkologie am privaten Shifa College of Medicine in Islamabad. Sehr häufig sind der Gynäkologin zufolge Thalassämien - Erkrankungen der roten Blutkörperchen. Darüber hinaus litten viele Kinder an Mukoviszidose, Down-Syndrom, anderen geistigen Erkrankungen, infantiler Zerebralparese oder seien hör- und sehbehindert.

Einige wenige Wissenschaftler des Landes haben innerhalb des vergangenen Jahrzehnts mit Erhebungen zu Gendefekten durch Verwandtenehen in Pakistan begonnen. So organisiert die Quaid-i-Azam-Universität in Kooperation mit Universitäten aus Kanada und den USA eine große Studie zu "cousin marriage". Mehr als 2000 betroffene Familien über das 210 Millionen Einwohner starke Land hinweg werden befragt. Auch am staatlichen Militärkrankenhaus in Rawalpindi läuft eine Studie. Es tut sich also etwas.

Wesentlich langsamer verläuft hingegen der Bewusstseinsprozess innerhalb des Landes für mögliche Risiken durch Verwandtenehen. Viele Familien, auf Behinderungen ihrer Kinder angesprochen, wissen nichts über mögliche Gründe. Häufig, viel zu häufig, ist von "Gottes Entscheidung" die Rede. "Die Leute sind nicht aufgeklärt und wissen es einfach nicht", sagt Muhammad Ashfaq vom Nationalen Zentrum für Rehabilitation von seinen täglichen Erfahrungen im Umgang mit Eltern behinderter Kinder. Sie fühlten sich einfach sicherer innerhalb der eigenen Familie, das sei bequem.

In einigen Ländern mit Konsanguinität existieren Studien zufolge Früherkennungs- und Beratungsprogramme für verwandte Eltern. So ist in Tunesien ein voreheliches Beratungsgespräch für Blutsverwandte verpflichtend. Auch in Teilen Irans und in Saudi-Arabien wird dies praktiziert. "Wichtig ist, die Leute aufzuklären und alles möglich zu machen, damit sie gesunde Kinder auf die Welt bringen", sagt Kirmani von der Aga-Khan-Universität. Es solle nicht darum gehen, zu urteilen. An seine Universität kämen regelmäßig Eltern, die Rat suchten. Steht fest, dass das genetische Risiko erhöht ist, bietet Kirmani sogar einen speziellen Test an. Dieser deckt 300 Störungen ab, darunter auch Muskeldystrophien. Die Proben werden in die USA geschickt. Nach etwa zwei Wochen bekommt das Paar das Ergebnis.

Für viele Menschen aus Ländern mit Konsanguinität sind solche Tests weder finanzierbar noch erhältlich. In Pakistan ist Kirmani der Einzige, der einen solchen Test anbietet. "Das Einzige, was wir hier in Pakistan derzeit machen können, ist, die Menschen aufzuklären", sagt Muhammad Ansar, der als Biochemiker an der Quaid-i-Azam-Universität arbeitet und an der groß angelegten Studie beteiligt ist. "Wir müssen Kampagnen starten."

Javed Tahir wird kein Test mehr nützen. Wenn er allerdings den Mut findet, seinen Kindern die Wahrheit zu sagen, könnten wenigstens seine Kinder Shahr Bano, Muhammad Haider Ali und Mahin mit der Familientradition brechen. Denn selbst wenn sie in nicht ferner Zukunft auch erkranken, wäre das Risiko für ihre Kinder bei einer Ehe außerhalb der Familie weitaus geringer - und das ihrer Enkel noch geringer.

Die Recherche ermöglichte ein Global Health Reporting Grant des European Center for Journalism und der Bill and Melinda Gates Foundation.

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