Die Hoffnung war groß gewesen. Endlich Daten, endlich Anhaltspunkte aus einer wissenschaftlichen Studie: Als Forscher der Universität Bonn am Donnerstag mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsident Armin Laschet vor die Presse traten und scheinbar wegweisende Resultate aus dem Corona-geplagten Kreis Heinsberg vorstellten, da dauerte es nicht lange, bis der mediale Jubel losbrach. "Lockerungen möglich", "15 Prozent immun", so lauteten die eiligen Schlagzeilen.
Doch der Jubel ist offenbar mehr als verfrüht. Es wurden bereits große Zweifel an der Qualität der Studie und ihrer Zwischenergebnisse laut. Unabhängige Experten äußerten noch am Donnerstag Kritik, insbesondere an der Präsentation der Ergebnisse auf einer Pressekonferenz. "Da wird einfach so wenig erklärt, dass man nicht alles versteht", kommentierte beispielsweise der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité, der international zu den erfahrensten Coronavirusexperten zählt.
Studienleiter Hendrik Streeck hatte auf der Konferenz zuvor gesagt, man habe an einer repräsentativen Stichprobe in Gangelt gezeigt, dass 15 Prozent der Menschen dort bereits eine Infektion durchgemacht hätten. Die Letalität des Virus sei demnach um ein Vielfaches geringer als es von der Johns-Hopkins-University in den USA in den täglichen Berichten für Deutschland angegeben worden sei, auch von den offiziellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts ist die von Streeck errechnete Ziffer weit entfernt. Für viele klang das nach der lang ersehnten Entwarnung, Laschet stellte im Landtag später eine Lockerung der Maßnahmen nach Ostern in Aussicht - als habe Streeck den Beleg erbracht, dass man über den Berg sei mit Corona.
Doch tatsächlich gibt die Studie das nicht her. Sie ist vermutlich sogar methodisch fehlerhaft. So ist vor allem unklar, ob der verwendete Antikörpertest überhaupt zeigen kann, was er angeblich gezeigt haben soll, nämlich Immunität gegen das neue Virus. Der Braunschweiger Infektionsepidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung hatte der Süddeutschen Zeitung bereits vor einigen Tagen erklärt, es gebe derzeit noch keine breit verfügbaren Tests, die zuverlässig eine Immunität gegen Sars-CoV-2 nachweisen könnten.
Corona-Krise:Laschet und die Phase 2
Die ersten Studienergebnisse zum Corona-Hotspot Gangelt in Heinsberg stimmen den NRW-Ministerpräsidenten optimistisch. Er fordert bereits die "Rückkehr in die verantwortungsvolle Normalität".
Am Donnerstag nach der Pressekonferenz verwies auch der Virologe Drosten auf das Problem, dass die bereits erhältlichen Tests zum Teil Antikörper gegen völlig harmlose Erkältungserreger nachweisen, die ebenfalls zu den Coronaviren zählen. "Wir sind jetzt im Moment gerade mal einen Monat nach dem Ende der Erkältungssaison", sagte Drosten. Ein Drittel der Erkältungen werden nach Angaben des Helmholtz-Instituts durch diese vier bekannten, harmlosen Coronaviren ausgelöst. Lediglich aufwändige Neutralisationstests können nach einem positiven Antikörpertest bislang belegen, dass die betreffende Person tatsächlich eine Infektion mit dem neuen pandemischen Erreger durchgemacht hat. Auf der PK in Gangelt war von solchen Neutralisationstests jedoch keine Rede.
Streeck und seine Kollegen von der Universität Bonn kommen dennoch zu dem Ergebnis, dass sie mit hoher Spezifität eine beginnende Herdenimmunität der Gangelter Einwohner nachgewiesen haben. So steht es zumindest in einem kurzen Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt und das die Zwischenergebnisse sehr grob zusammenfasst. Am Donnerstag konnte es zunächst auch auf der Website der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen abgerufen werden. Am Abend war das eineinhalbseitige Dokument jedoch zunächst nicht mehr unter dem angegebenen Link erreichbar, erst am Freitag tauchte es unter einer neuen Webadresse wieder auf. Aus dem Papier, das nicht einmal als vorläufige Veröffentlichung den Anforderungen einer wissenschaftlichen Dokumentation nahe kommt, wird jedoch ein weiteres gravierendes Problem erkennbar.
So hat Streecks Team Haushalte für die Tests ausgewählt und in diesen Haushalten alle Personen getestet. Das ist soweit legitim - allerdings: "Man darf dann keineswegs alle Ergebnisse aus diesen Haushalten nehmen und in Prozent umrechnen, sondern allenfalls eine Person pro Haushalt", erläuterte Epidemiologe Krause am Donnerstag. Der Grund: Innerhalb der Haushalte ist das Infektionsrisiko um ein Vielfaches höher als in der Bevölkerung allgemein, eine vollständige Zählung aller Familienmitglieder ergibt daher einen überhöhten Prozentsatz für die Immunität, der gar nicht auf die Allgemeinheit übertragen werden kann. Doch in Streecks Studie wurde genau das gemacht.
Warum die Bonner Forscher mit diesen noch nicht vollständigen Resultaten nun ausgerechnet kurz vor Ostern an die Öffentlichkeit gegangen sind? Streeck sagte bei Zeit online, nach Ostern solle ja entschieden werden, wie es mit den Maßnahmen weitergehe. Nun wächst jedoch die Kritik an seinem Projekt - und möglicherweise wird sie sich nicht nur auf die wissenschaftlichen Aspekte beschränken.
Womit man bei Kai Diekmann wäre. Die Verbindung des ehemaligen Chefredakteurs der Bild und der von ihm mitgegründeten Social-Media-Agentur Storymachine zur Gangelt-Studie ist bereits Gegenstand einer kleinen Anfrage im Landtag von NRW. Storymachine habe die "Dokumentation" des Facebooksauftritts von Streecks Studie übernommen, so steht es zumindest in den Informationen der Social-Media-Plattform. Die SPD-Landtagsabgeordnete Sarah Philipp will von der Regierung nun wissen, ob an die Agentur öffentliche Gelder für den Auftritt geflossen sind. Diekmann war vor einem Jahr als PR-Berater in den Skandal um den Heidelberger Bluttest auf Brustkrebs verwickelt. Der Test wurde damals in einer aufwändigen Presseaktion als "Weltsensation" präsentiert, stellte sich aber als wertlos heraus.
Ob nun noch aufhaltbar ist, was am Donnerstag auf Grundlage der zweifelhaften Studie von Forscher Streeck an politischen Entscheidungen angeschoben wurde, wird sich erst nach den Feiertagen zeigen. Eines lässt aber schon jetzt sagen: Eine Rückkehr zur Normalität auf Grundlage der Heinsbergstudie scheint nach derzeitigem Stand übereilt.