Im Licht der Scheinwerfer tauchen in 85 Meter Tiefe die Umrisse eines Wracks auf. Die Aufnahmen der Taucher zeigen fast unversehrte Schiffsplanken, eine intakte Reling, sogar Schnitzereien rund um die Heck- und Kajütenfenster sind noch zu erkennen. Der Großteil der Takelage liegt weit verstreut auf dem Meeresboden. Seit knapp 400 Jahren liegt das fast komplett intakte Wrack eines alten Handelsschiffs in der Dunkelheit der Ostsee nahe dem Finnischen Meerbusen. "Auch alles, was sich beim Untergang des Schiffs im Inneren befand, ist immer noch an Ort und Stelle", sagt der schwedische Archäologe Niklas Eriksson, der sämtliche Fotos und Videos der Expedition ausgewertet hat. "Wir können also quasi an Bord gehen und einen Blick auf die Umgebung gewöhnlicher Seeleute vor fast 400 Jahren werfen."
Ein Tauch-Team der finnischen Organisation "Badewanne" entdeckte das Schiff aus dem 17. Jahrhundert eher zufällig, als es im Golf von Finnland nach Schiffswracks aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg suchte. Die Gruppe freiwilliger Taucher dokumentiert seit Jahren in Zusammenarbeit mit finnischen und estnischen Behörden auf dem Grund der Ostsee liegende Schiffe. In jüngster Zeit erkunden die Mitglieder der Organisation auch mögliche Bedrohungen des Meeres durch zerfallene Fischfangausrüstung, noch an Bord befindliche Kraftstoffe oder andere umweltschädliche Substanzen.
Dank Kälte, niedrigem Salzgehalt und Dunkelheit ist das Schiff bestens erhalten
Mit einem solchen Fund hatten die Taucher nicht gerechnet. "Wir waren sehr überrascht, als wir in 85 Meter Tiefe auf das Wrack stießen", schreiben sie auf der Website der Organisation. "Für uns ist das der Fund des Jahrzehnts."
Derart gut erhaltene Holzwracks sind extrem selten. Oft zerstören holzfressende Organismen wie Schiffsbohrwürmer die Planken, versunkene Schiffe verschwinden meist binnen Jahrzehnten. Doch in den Tiefen der Ostsee können die Schädlinge nicht leben. Das Wasser um das Wrack ist 4 Grad Celsius kalt. Der vergleichsweise niedrige Salzgehalt der Ostsee und die absolute Dunkelheit bieten ideale Erhaltungsbedingungen für die Schiffe. So erlitt das Schiff im Lauf der Jahrhunderte lediglich kleinere Schäden. Offenbar verfing sich das Schleppnetz eines Fischtrawlers am Schiff und zog Masten aus der Verankerung. Auch der Heckvorbau ist leicht verschoben, der obere Teil des Bugs fehlt.
Das Wrack hat einen langen und schlanken Rumpf, das Heck ist birnenförmig gebaut. Das Schiff besaß nur einen geringen Tiefgang, was den Zugang zu vielen Häfen in Nord- und Ostsee erleichterte, vor allem in Holland und England. Fluit oder Fleute nennen Experten diese markante Schiffsform. "Das war ein reines Handelsschiff, streng nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten konstruiert", sagt Niklas Eriksson. Und Handel in Nord- und Ostsee wurde im 17. Jahrhundert immer wichtiger, vor allem im Auftrag der Marine transportierten Schiffe große Mengen an Eisen, Holz, Teer, Salz oder Hanf aus dem Baltikum über die Ostsee nach Holland und England.
Die Fluit war ein innovativer Schiffstyp mit neuartiger Technik, insbesondere bei der Takelage. Die Ingenieure achteten auf günstige Herstellungskosten, sie verzichteten etwa auf ein Kanonendeck. Sie bauten stattdessen einen großen Frachtraum, vor allem der birnenförmige Rumpf war sehr geräumig. Und das Deck des Schiffs war - um Zollgebühren zu sparen -recht schmal konstruiert, die Fläche galt damals als Berechnungsgrundlage. Die Spanten, die die Schiffsplanken trugen, waren dabei oben stark nach innen gekrümmt. "Diese Schiffe wurden gebaut, um so viel Last wie möglich zu tragen und mit so wenig Besatzung wie möglich gesegelt zu werden - und so den Gewinn der Eigner zu maximieren", sagt Eriksson, der als internationaler Experte auf diesem Gebiet gilt.
Schwarzes Meer:Forscher entdecken ältestes erhaltenes Schiffswrack der Welt
Das griechische Handelsschiff ist etwa 2400 Jahre alt. Warum das Fundstück so gut erhalten ist - dafür haben die Wissenschaftler eine einfache Erklärung.
Das in den Tiefen der Ostsee entdeckte Wrack hatte bereits die fortschrittliche Takelage inklusive der intelligent gestalteten Flaschenzug- und Takelungssysteme, mit deren Hilfe sich die Rahen und Segel vergleichsweise einfach heben und steuern ließen. So brauchte das etwa 30 Meter lange Schiff je nach Einsatzgebiet nur zwischen zehn und zwanzig Mann Besatzung. Matrosen, Kapitän, Koch und die restliche Crew lebten in einem Raum und aßen am selben Tisch - ungewöhnlich für die damalige Zeit und auch eine Maßnahme, um Platz zu sparen.
Ein Rätsel bleibt: Warum ging das Schiff unter?
Tausende der dreimastigen Fleuten segelten im 17. Jahrhundert über die Ostsee, das Mittelmeer und in die Neue Welt. Entwickelt wurde der Schiffstyp in den Niederlanden, aber die Produktion der Schiffe war bereits damals international organisiert, erzählt Eriksson. Werften in Amsterdam etwa nutzten Holz, Eisen und Teer, das aus dem baltischen Raum importiert wurde. Zudem lockten Konkurrenten in Schweden, Finnland und Russland die erfahrenen holländischen Schiffsbaumeister. Die Geschichte der Fleute sei also auch eine der frühneuzeitlichen Globalisierung und Industrialisierung. "Dieser Schiffstyp war das Werkzeug, das zur Schaffung der modernen Welt beigetragen hat, er bildete das Fundament für die Globalisierung der frühen Neuzeit", sagt Eriksson.
Trotz seiner Verbreitung ist die exakte Konstruktion bis heute nicht bekannt. "Da diese Schiffe ohne Zeichnungen gebaut wurden, weiß niemand, wie die damals gängigsten Handelsschiffe genau aussahen", sagt Eriksson. "Das Wrack bietet eine einzigartige Gelegenheit, die Entwicklung eines Schiffstyps zu untersuchen, der um die ganze Welt segelte." Das nun entdeckte Wrack hat einige einzigartige Merkmale, etwa den Aufbau des Hecks. "Es könnte ein Beispiel für einen frühen Konstruktionstyp sein", sagt Eriksson. Damit könnte es aus dem frühen 17. Jahrhundert stammen. Skulpturen am Bug scheinen beim gesunkenen Wrack zu fehlen, ebenfalls eine Art Sparmaßnahme. Auch die Verzierungen an den Kajütenfenstern sind eher wenig aufwendig.
Die Forscher planen nun weitere Tauchgänge, etwa um zu klären, ob sich noch menschliche Überreste an Bord befinden. Auch über den Inhalt des offenbar komplett gefüllten Laderaums wissen die Forscher noch nichts. Für eine Bergung liegt das Schiff zu tief. Die Taucher planen aber eine Art "digitaler Bergung", wie Eriksson sagt, mittels Fotogrammmetrie und 3-D-Fotografie. Sobald das Boot exakt vermessen ist, lässt sich auch genauer sagen, unter welchen räumlichen Bedingungen die Mannschaft an Bord lebte. Nur ein Rätsel bleibt vorerst: Warum das Schiff einst überhaupt unterging.