Graphen:Ein Traum in 2D

Die hauchdünnen Lagen aus Kohlenstoffatomen gelten als neues Wundermaterial. Sie leiten Strom, sie sind stabil. Ob sich die Hoffnungen erfüllen werden?

Von Andrea Hoferichter

Wäre dieser Artikel mit Bleistift geschrieben, hätte man den Protagonisten direkt vor Augen. Es geht um Graphen, um hauchdünne Lagen aus Kohlenstoffatomen im Honigwabenformat. Sie stecken in Graphit, also in jeder Bleistiftmine, und lassen Forscherherzen höher schlagen. Denn Graphen ist zwar kein Metall, leitet Strom und Wärme aber besser als ein Kupferkabel. Es ist ausgesprochen biegsam, zugfester als Stahl und ein echtes Leichtgewicht. Eine nur wenige Gramm schwere Schicht könnte ein ganzes Fußballfeld bedecken. Und die Grundsubstanz Kohlenstoff ist in Unmengen verfügbar.

Die Graphenforschung boomt, seit Andre Geim und Konstantin Novoselov von der Manchester University die außergewöhnlichen elektronischen Eigenschaften des Materials entdeckten, was ihnen 2010 den Nobelpreis für Physik einbrachte. Bis 2017 wurden weltweit etwa 55 000 Patente erteilt, mehr als die Hälfte davon in den Jahren nach 2014. Die Liste möglicher Anwendungen ist lang, sie reicht von ultraleichten Verbundwerkstoffen für Autos, Flugzeuge und Raumschiffe über besonders schnelle Elektronik bis zum Seilmaterial für Weltraumfahrstühle. Allein die EU-Initiative "Graphene Flagship" investiert eine Milliarde Euro, um solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Magazin Nature lehnte eine Veröffentlichung erst einmal ab

"Vieles ist aber noch Zukunftsmusik", sagt Daniel Neumaier vom gemeinnützigen Forschungsunternehmen AMO in Aachen. Bisher verstärke Graphen in größeren Mengen vor allem Tennisschläger und Motorradhelme und es sorge in manchen Handy-Akkus für eine bessere Wärmeableitung, was die Ladezeiten erheblich verkürze. Außerdem wird das Material kommerziell in Messinstrumenten eingesetzt, mit denen Geräte für elektrische Widerstandsmessungen kalibriert werden. "Infrarotsensoren und Wärmebildkameras, die dank Graphen selbst für Privatleute erschwinglich werden könnten, sind zurzeit noch im Prototypenstatus", berichtet der Physiker. Das Gleiche gelte für schnellere Lichtdetektoren für die Datenübertragung via Glasfasern. Ansätze, die Graphen-Varianten als Ersatz für Seltene Erden in Elektronikbauteilen oder ihren Einsatz in Quantencomputern sehen, verortet Neumaier in der Grundlagenforschung.

Graphen: Illustration: Christian Tönsmann

Illustration: Christian Tönsmann

Der Nobelpreisträger Novoselov findet die Fortschritte dennoch beachtlich. "Wenn Sie mich vor zehn, 15 Jahren gefragt hätten, wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass Graphen überhaupt einmal zum praktischem Einsatz kommt", sagt er. Damals arbeiteten er und André Geim noch daran, eine einzelne Graphenlage zu isolieren. Sie versuchten, Graphitplättchen auf eine Monoschicht herunter zu polieren, was nicht gelang. Das legendäre Klebeband sei nur durch einen Zufall ins Spiel gekommen, über einen Kollegen, der an einem Rastertunnelmikroskop mit Graphit als Referenzsubstanz arbeitete, schrieb Geim 2011 im Fachblatt Angewandte Chemie. Der Kollege zog die Graphitoberflächen vor Messungen stets mit einem Klebeband ab, um sie aufzufrischen. Reste entsorgte er in den Mülleimer. Als er von den Nöten der Graphenforscher hörte, überließ er ihnen den Müll zur Inspektion. Tatsächlich fanden Geim und Novoselov auf dem Band einzelne Graphenlagen.

Ab diesem Zeitpunkt brannte die Luft im Labor. Die Forscher arbeiteten durch. Immer wieder isolierten sie mit Hilfe von Klebeband neue Graphenlagen, brachten sie auf verschiedene Unterlagen auf und untersuchten die optischen und elektronischen Eigenschaften. Dabei stießen sie auf allerlei Überraschungen. Schon dass die hauchdünnen Kohlenstofflagen trotz der großen Oberflächen an der Luft stabil blieben, schien so mancher physikalischen Regel zu widersprechen. Außerdem gelang es auf Anhieb, die Verteilung der elektrischen Ladungen in Graphen durch Anlegen einer Spannung messbar zu verändern. Das war für ein so gut stromleitendes Material außergewöhnlich und für Geim ein Heureka-Moment: "Wenn schon diese hässlichen, aus relativ großen und dicken Plättchen gewonnenen Proben einen gewissen Feldeffekt zeigten, was würde erst geschehen, so dachte ich, wenn wir an den dünnstmöglichen Kristalliten unser ganzes Arsenal an Mikrofabrikationstechnik ausprobierten?" Einen Rückschlag gab es, als das Team die Ergebnisse im Magazin Nature veröffentlichen wollte. Geim zufolge sah einer der Gutachter "keinen ausreichenden Fortschritt" und lehnte die Publikation ab. Der Artikel erschien dann 2004 in Science.

Die Materialien der Zukunft werden intelligent sein

Im Labor arbeiten die Forscher noch immer mit der Klebebandmethode. Für eine Produktion im größeren Maßstab eignen sich andere Verfahren besser. "Für Graphen in Verbundstoffen nimmt man graue Graphenpulver, die sich im Tonnenmaßstab aus Graphit durch sogenannte chemische Interkalation herstellen lassen", berichtet der Aachener Forscher Neumaier. Auch batterieähnliche Anordnungen zur Graphenproduktion wurden schon getestet. Hier schieben sich elektrisch geladene Teilchen zwischen die Schichten und es entsteht Sauerstoffgas, das die Graphenlagen auseinander bläst. "Möchte man Graphen für elektronische Bauteile nutzen, braucht man allerdings möglichst reine, größere Monoschichten, die man etwa auf einem Silizium-Wafer abscheiden kann", erklärt Neumaier. In diesem Fall kommen kohlenstoffhaltige Gase wie Methan zum Einsatz, das sich unter geeigneten Bedingungen als Graphenlage niederschlägt.

Graphen: Konstantin Novoselov forscht in Manchester.

Konstantin Novoselov forscht in Manchester.

(Foto: Ignat Solovey/CC BY-SA 3.0)

Noch nicht abschließend geklärt ist, ob das Nanomaterial Graphen der Gesundheit schaden kann. Was die Schichten für Elektronikbauteile betrifft, hat Neumaier keine Bedenken. Er fürchtet auch nicht, dass die Hoffnungen ähnlich enttäuscht werden könnten, wie es bei den Kohlenstoffnanoröhren oder den "Bucky Balls" der Fall war. Die Kohlenstoffsechsecke im Fußballformat sorgten in den 1990er Jahren für Schlagzeilen, führen heute aber nur ein Nischendasein. "Graphen ist allein schon deshalb attraktiver, weil es zweidimensional ist und sich deshalb viel besser zum Beispiel für die Chipherstellung geeignet."

Nicht zuletzt hat das Wissen über Graphen ein neues Forschungsfeld eröffnet. Denn offenbar haben auch andere 2D-Materialien interessante Eigenschaften. "Diese Erkenntnis ist wahrscheinlich der wichtigste Durchbruch der letzten Jahre", betont Novoselov. Sein Team arbeite gerade intensiv mit zweidimensionalen Stoffen und kombiniere sie zu Stapeln mit maßgeschneiderten Funktionen. "Die Materialien der Zukunft werden intelligent sein und ihre Eigenschaften an äußere Bedingungen anpassen können." Eine Prognose, welches Produkt als nächstes in den Handel kommen könnte, wagt er nicht. "Wenn ich das nur wüsste", sagt der Nobelpreisträger.

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