Gletscherspalten:"Gleicht tut es weh"

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Mit dem Klimawandel ändern sich auch die Gletscherspalten. Damit wächst die Gefahr für Bergsteiger, früher sichere Schneefelder sind kaum noch passierbar.

Von Marlene Weiss

Thomas Mansberger stand wenige Hundert Meter vom Gipfelkreuz des Großen Wiesbachhorns entfernt, als der Boden unter ihm nachgab. Es war ein schöner Tag im April 2015; der 33-jährige Österreicher hatte sein Touren-Snowboard für die Abfahrt zusammengebaut, sein 60 Jahre alter Bergkamerad Edi Mörtl stand neben ihm. Das Gewicht der beiden war zu viel für die Schneedecke, und sie stürzten in die Tiefe. Mansberger merkte, wie er an seinem Freund vorbeifiel, der an einer Schneebrücke hängengeblieben war, und dachte noch: "Gleich tut es weh." Dann prallte auch er auf eine Brücke, meterweit unter der Oberfläche im Eis.

Gletscherspalten sind gefährlich, doch sie faszinieren auch die Forschung: Wie genau sie entstehen und was der Klimawandel mit ihnen macht, ist noch längst nicht ganz verstanden. Hochtourengänger in den Alpen haben mit gutem Grund Respekt vor ihnen; manche auch Angst. Schützen kann man sich nur, indem man in einer größeren Gruppe am Seil geht. Zu zweit ist das Risiko jedoch zu groß, dass einer den anderen mitreißt, darum hatten Mansberger und sein Freund sich gegen ein Seil entschieden. Die tiefen Spalten entstehen beim Fließen des Gletschers: Dort, wo er auf ein Hindernis trifft, etwa einen Hügel im Untergrund, eine steile Stelle oder eine Kurve, steigt die Spannung, und das Eis reißt auf. Oben am Grat, wo Mansberger und Mörtl stürzten, rechnet man eher nicht mit solchen Spalten, schon gar nicht im April, wenn der Gletscher in dieser Höhe normalerweise dick verschneit ist. Vielleicht war es ein sogenannter Bergschrund, wo sich der Gletscherrand vom Fels löst.

Die Verunglückten sahen schon den Hubschrauber. Doch dann drehte er ab, und es begann zu schneien

Was immer es war: Die beiden saßen fest. "Zuerst dachten wir: Wow, was für ein Glück wir hatten", erzählt Mansberger. Beide hatten Halt auf den einzigen Schneebrücken weit und breit gefunden. Ein paar Meter nebenan wären sie in den Abgrund gestürzt. Und sie hatten Handy-Empfang. Die Rettung war schnell alarmiert, bald flog ein Hubschrauber über die Spalte. Der Retter an Bord entschied jedoch, dass er den beiden in dieser Lage nicht allein helfen könnte, er brauchte Verstärkung. Zudem war schlechtes Wetter angekündigt. Womöglich hätte er nicht wieder abgeholt werden können und sein eigenes Leben riskiert. In ihrer Spalte wussten die Bergsteiger davon nichts, sie sahen nur den ersehnten Hubschrauber verschwinden. Dann begann es zu schneien.

Auch Ruth Mottram war schon mal in eine Gletscherspalte gefallen, wurde allerdings schnell wieder befreit. Heute forscht sie am Dänischen Meteorologischen Institut in Kopenhagen über das Thema. "Die Bedingungen verändern sich mit dem Klimawandel sehr schnell; was bislang als einigermaßen sicheres Schneefeld galt, mag plötzlich nicht mehr sicher sein", sagt sie. Auch die Schneedecke verändere sich, das sei schwer vorherzusagen; in schneearmen Wintern wie dem von 2014/2015 oder in tieferen Lagen können Spalten fast freiliegen, die sonst meterdick von Schnee und Eis bedeckt sind. Für Bergsteiger macht das viele Dinge schwer berechenbar.

Sicher ist, dass der Klimawandel die Spalten beeinflusst, nur wie, das hängt vom Standort ab: Manche Gletscher fließen wegen des zusätzlichen Schmelzwassers schneller, das kann mehr Zug und mehr Spalten bringen. Dünneres Eis kann Unebenheiten im Untergrund schlechter abpuffern, auch das kann Spalten begünstigen. Andererseits reduziert sich der Druck, wenn der Gletscher sehr klein wird, dann gibt es weniger Spalten. In Grönland, wo Ruth Mottram am meisten forscht, sei der Trend zu mehr Spalten ziemlich klar, sagt sie. In den Alpen ist es weniger eindeutig. Die Spalten beeinflussen aber auch ihrerseits die Gletscherschmelze: Wo eine Spalte ist, gelangen warme Luft und Schmelzwasser ins Innere, die Oberfläche wird größer, das Eis schmilzt schneller; an der Küste können Eisberge abbrechen. Auch strahlt ein zerfurchter Gletscher weniger Wärme ab.

Warme Luft und Wasser gelangen ins Innere, die Oberfläche wird größer, das Eis schmilzt schneller

Am Großen Wiesbachhorn wurde es Nachmittag, Abend und Nacht, und eine Rettung war wegen des schlechten Wetters unmöglich. Mansberger und Mörtl ließen abwechselnd ihre Stirnlampen brennen, um Batterie zu sparen; in der Dunkelheit hätten sie das Gleichgewicht verloren und wären in die Tiefe gestürzt. Österreichische Medien hatten vom Unfall erfahren, die Geschichte lief durchs Internet. Familie und Freunde gerieten in Panik. Mansbergers Telefon klingelte, seine Oma rief an. Er nahm nicht ab, er hätte sie nicht anlügen können. Auch Edi Mörtls Freundin rief an, sie hatte noch nichts gehört. Die Angst und die Hilflosigkeit wollte er ihr ersparen; er behauptete locker, die Tour sei super gewesen. Später telefonierten beide dann doch mit Familie und Freunden. Auch, um wenigstens vor ihnen ein paar Dinge klarzustellen, falls sie es nicht lebend aus der Spalte schaffen sollten: Beide sind erfahrene Bergsteiger, die versuchen, das Risiko in Grenzen zu halten. Sie ahnten, dass man sie als verantwortungslose Hallodris hinstellen würde; so kam es dann auch. Das ärgert Mansberger bis heute. "Das mit den Medien war eine Sauerei", sagt er.

Am nächsten Morgen klarte der Himmel endlich auf: Flugwetter. Drei Retter wurden zur Spalte geflogen und holten beide Bergsteiger aus der Spalte, bis auf Unterkühlung und ein gebrochenes Handgelenk unversehrt. Noch eine Nacht in der Spalte hätten die beiden nicht überlebt.

Für Thomas Mansberger hat der Spaltensturz einiges verändert. "Wir sind den Rettern sehr dankbar", sagt er, und bittet darum, das auch aufzuschreiben. Er achtet noch stärker darauf, mit sich und der Welt nach Möglichkeit im Reinen zu sein. "Man weiß nie, was kommt", sagt er. "Und ich genieße das Leben und die Berge noch mehr als früher." Gletscher meidet er.

© SZ vom 22.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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