Glaube:Der Gottesinstinkt

War der Ausbruch eines Supervulkans die Ursache dafür, dass heute in Deutschland die Kirchenglocken läuten? Oder wie kam die Religion in die Welt?

Christian Weber

Es begab sich aber zu der Zeit - so vor 73.000 Jahren -, dass der Supervulkan Toba auf der Insel Sumatra explodierte und Feuer und Asche und Gift in den Himmel hoch spuckte und rund um den Planeten verteilte. Dem folgte ein elendiglicher Winter auf Erden. Der brachte Tod und Verderben über die Pflanzen, Tiere und Menschen. Doch vielleicht war diese größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit auch ein Ursprung der Religion - und womöglich haben Kinder dabei eine entscheidende Rolle gespielt. So lautet der Kern einer Geschichte, die ein bisschen wie ein Weihnachtsmärchen klingt, aber von einigen Wissenschaftlern absolut ernst gemeint ist.

Vatikan, AP

Wo nahmen die ausgefeilten religiösen Zeremonien unserer Tage ihren Anfang?

(Foto: Foto: AP)

Die Theorie der Katastrophe von Toba ist einer der neuesten Versuche, die Entstehung der Religionen auf der Welt naturgeschichtlich zu deuten; Matt Rossano von der Southeastern Louisiana University stellte sie vor kurzem in einem Sammelband zum Thema vor (Eckart Voland/Wulf Schiefenhövel: The Biological Evolution of Religious Mind and Behavior. Springer, 2009).

Die Idee kündet von "mutiger Spekulation" kommentiert der Herausgeber Voland, Biophilosoph an der Universität Gießen, sie sei aber auch nicht abwegig. Irgendwie muss es ja zu erklären sein, dass sich zur Zeit des Toba-Ausbruches an verschiedenen Orten der Erde die ersten Spuren von Symbolkulturen finden: In den Tsodilo Hügeln Botswanas etwa entdeckten Archäologen 2006 einen bearbeiteten, sechs Meter langen Felsen in Form einer Schlange, vor dem sich über hundert, womöglich geopferte, mindestens 70.000 Jahre alte Speerspitzen fanden. Bereits 2002 fanden Forscher in der südafrikanischen Blombos-Höhle gravierte Ocker-Stücke, die auf 77.000 Jahre geschätzt werden, weitere 13 gravierte Ockerfunde in Blombos sind wahrscheinlich noch viel älter.

Irgendetwas muss in dieser Zeit geschehen sein.

Rossanos Theorie geht so: Die Aschewolken des Toba-Ausbruches - der größten Vulkanexplosion der letzten zwei Millionen Jahre - führten zu einer plötzlichen Kaltzeit, an die sich die meisten Menschen nicht schnell genug anpassen konnten; in Afrika blieben womöglich nur 2000 Angehörige der Gattung Homo sapiens übrig. Unter den extremen Lebensbedingungen dieser Epoche überlebten die Menschen nur, weil sie zu neuen, besseren Formen der Kooperation fanden.

Diese Kooperation - so Rossano - wurde gefördert durch ein neuartiges religiöses Denken, bei dem sich die Erwachsenen von der übernatürlichen Intuition der Kinder inspirieren ließen: In der großen Kälte der Katastrophe hätten die Menschen zum ersten Mal strafende Götter erdacht, die auf die Einhaltung von Spielregeln achteten. So hätten die Menschen ausreichend soziale Intelligenz erworben, um Afrika zu verlassen und sich die Erde untertan zu machen. War das der Startschuss für eine Entwicklung, die dazu führte, dass Wildbeuter vor fast 12.000 Jahren in Göbekli Tepe in Südanatolien damit begannen, die ältesten heute bekannten Tempelanlagen zu errichten und am Heiligabend 2009 in Deutschland die Kirchenglocken läuten?

Es bleibt der jungen Disziplin der kognitiven Archäologie überlassen, ob sie solche Großtheorien über den Ursprung aller Religion eines Tages allein mit prähistorischem Datenmaterial belegen kann; Skepsis ist angebracht, denn groß ist das Missverhältnis zwischen minimalen Funden und maximaler Deutung: Bezeichnend ist der Streit über die Neandertaler, die ihre Toten bestatteten. "Ein rituelles Begleiten in das Reich der Toten ist symbolisches Handeln und mit Religion verbunden", sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume aus Filderstadt.

Der religiöse Urknall im Hirn

"Wieso Religion?", widerspricht Voland. "Die mussten ihre Leichen schon aus Gründen der Hygiene und der Sicherheit begraben." Entscheiden ließe sich die Frage erst, wenn man genau wüsste, ob etwa die Stockrosen-Pollen in einem Neandertaler-Grab im iranischen Shanidar Grabbeigaben waren oder von Mäusen in die Höhle verschleppt wurden.

Andererseits ist es müßig, über genaue Zeitpunkte zu spekulieren. "Den religiösen Urknall im Gehirn gab es ohnehin nicht", sagt Blume. "Religiosität ist nach und nach entstanden." Das ist die Botschaft der neuen evolutionären Religionswissenschaft: "Religion ist ein Produkt der biokulturellen Evolution, sie hat biologische Grundlagen und kulturelle Ausprägungen", versichert Blume. "Man kann sie auch bei heute lebenden Menschen untersuchen."

Tatsächlich berufen sich Erforscher der Evolutionsgeschichte der Religion wie Rossano nicht nur auf Ausgrabungen in Steinzeithöhlen, sondern auch auf Daten, die Entwicklungspsychologen in Kindergärten des 21. Jahrhunderts erhoben haben. Diese belegen, dass Glauben nicht etwas ist, was man lernen muss, sondern ein natürliche Bestreben des Menschen - ein angeborener Gottesinstinkt sozusagen.

Kinder glauben an die unsterbliche Seele

Vor allem das Team um Jesse Bering von der Queen's University in Belfast zeigte in einer Reihe von Experimenten, dass kleine Kinder spontan die Existenz übernatürlicher Akteure vermuten und an eine unsterbliche Seele glauben. So spielten die Forscher den Kindern etwa ein Theaterstück vor, in dem ein Krokodil eine Stoffmaus verschlingt. In einer nachfolgenden Befragung meinten die kleinen Zuschauer zwar, dass das Tier wohl körperlich tot sein müsse, es weder sehen noch hören könne und sein Herz still stehe. Dennoch vermuteten die meisten von ihnen, dass die Maus Heimweh hat und sich nach ihrer Familie sehnt. Sie schrieben ihr also weiterhin mentale Aktivität zu.

In einem weiteren Experiment wurden Kinder scheinbar allein in einem Raum gelassen - tatsächlich aber von der Videokamera beobachtet -, wobei sie angehalten wurden, eine bereitstehende Schachtel nicht zu öffnen. Sie hielten sich eher an das Gebot, wenn ihnen erklärt wurde, dass eine "unsichtbare Prinzessin Alice" auf einem daneben stehenden Stuhl über die Schachtel wache.

Weitere Studien belegten, dass sogar erwachsene Studenten in Computertests seltener schummeln, wenn über ihre Monitore vermeintlich beobachtende Augen geklebt wurden, oder wenn man ihnen beiläufig erzählte, dass frühere Testteilnehmer von Begegnungen mit "dem Geist" eines verstorbenen Mitarbeiters berichtet hätten. Jüngere Kinder scheinen zudem konsequent teleologisch zu denken, sagt Voland: "Es gibt Wolken, damit es regnen kann, es regnet, damit Blumen gedeihen können; und es gibt Blumen, damit wir uns an ihnen erfreuen." Alles scheine vernünftiges Design zu sein, und die Welt werde finalistisch interpretiert. "Offensichtlich ist Frömmigkeit die Grundoption menschlicher Existenz", folgert Voland.

Vor allem die Zwillingsforschung hat mittlerweile bestätigt, dass die religiöse Disposition vermutlich auch eine komplexe genetische Verankerung hat und vererbt wird wie Musikalität oder Sprachfähigkeit, wobei Veranlagung und Umwelt etwa zu gleichen Teilen wirken. Menschen unterschieden sich deshalb in ihrer Religiosität ähnlich wie in ihren musischen Fähigkeiten; völlig unmusikalisch sei kaum jemand. Das sei auch der Grund, weshalb selbst "der letzte Skeptiker und Zyniker an Weihnachten" etwas empfinde, sagt Blume. Sogar im offenen Atheismus verberge sich manchmal die klammheimliche Sehnsucht nach Transzendenz: "Karl Marx hatte in der Sowjetunion Gottstatus."

Je religiöser, desto fruchtbarer

Forscher streiten sich eher darüber, inwieweit Religiosität im Überlebenskampf der Evolution tatsächlich einen Fitnessvorteil verschaffte, oder ob sie ein Nebenprodukt der Evolution ist. Doch die Uneinigkeiten kommen vor allem daher, dass die Religionswissenschaftler es bis heute nicht geschafft haben, ihren Forschungsgegenstand klar zu umreißen: Geht es bei der Religion um metaphysische Deutung der Welt und Verhalten gegenüber übernatürlichen Agenten, um mystische Erfahrung, gemeinsame Rituale oder um eine göttlich abgenickte Moral? Je nach Definition bieten sich unterschiedliche Antworten an.

So interpretiert der französische Anthropologe Pascal Boyer die im Gehirn verankerte Vermutung, dass hinter allem Geschehen Akteure stehen als Nebenprodukt der Evolution: Die kognitive Maschinerie sei ähnlich wie ein Rauchmelder hochsensibel eingestellt, so dass sie hinter jedem Rascheln einen möglichen Angreifer vermutet. Das führe zwar zu gelegentlichem Fehlalarm und zur Annahme übernatürlicher Agenten. Doch das war in prähistorischen Zeiten nicht so schlimm: Ein eingebildeter Geist konnte einen frühen Homo sapiens allenfalls erschrecken, ein übersehenes Raubtier ihn real auffressen.

Dennoch muss es auch einen unmittelbaren Überlebensvorteil der Religion geben, andernfalls wäre evolutionsbiologisch nicht zu erklären, wieso Menschen die enormen Kosten religiösen Verhaltens auf sich nehmen: Essen auf dem Altar opfern, sich unökonomischen Produktionsvorschriften, lustfeindlichen Sexualnormen und abstrusen Bekleidungsregeln unterwerfen.

So dachte auch der Anthropologe Richard Sosis von der University of Connecticut, als er mit 15 Jahren zum ersten Mal die Altstadt von Jerusalem besuchte, die Frauen in langärmeligen Blusen und schweren Röcken sah sowie Männer mit dichten Bärten und gefütterten Hüten: "Warum zieht sich ein vernünftiger Mensch an wie für einen klaren Wintertag, wenn er den halben Tag in der Wüstensonne beten will?", fragte er sich verwundert.

Parallele zum Pfauenrad

Erst nachdem sich Sosis im Tierreich umgesehen hatte, fand er eine rationale Erklärung. Die Zumutungen der Religion seien so zu verstehen wie die vermeintlich unnützen Attribute mancher Tiere: Die Pracht des Pfauenrades kostet seinem Besitzer zwar viel Energie und behindert ihn, aber zugleich demonstriert der glänzende Federschmuck einem potentiellen Sexualpartner Gesundheit und Fitness. In ähnlicher Weise sende auch der fromme Mensch teure Signale aus, mit denen er auf innere Werte verweist: Wer viel Energie in kostspielige Rituale investiert, um einer Glaubensgemeinschaft anzugehören, der wird wahrscheinlich kein Trittbrettfahrer sein, der nur nehmen, aber nichts geben will.

Diese Theorie der teuren Signale erklärt - neben der göttlichen Strafandrohung bei Fehlverhalten - wieso Kooperation in religiösen Gemeinschaften besonders gut funktioniert. Hier liegt der zentrale adaptive Vorteil der Religion.

Studien stützen die Theorie der teuren Signale: Eine Analyse von 83 religiösen Gemeinschaften in den USA des 19. Jahrhunderts zeigte, dass jene am längsten überdauerten, die von ihren Mitgliedern am meisten forderten. Sosis selbst belegte an Kibbuz-Gemeinschaften in Israel, dass allein die religiösen unter ihnen in einer Wirtschaftskrise Ende der achtziger Jahre erfolgreich blieben, und das trotz kontraproduktiver Regeln wie dem Verbot, Obst von jungen Bäumen oder am Sabbat gemolkene Milch zu verwenden. Und auf dem aktuellen Markt der Religionen wachsen derzeit jene Gemeinschaften besonders schnell, die ihren Anhängern viel abverlangen: Adventisten, Mormonen, Zeugen Jehovas.

Dabei sei das nicht nur der Mission zu verdanken. Religionswissenschaftler Michael Blume hat in mehreren statistischen Analysen belegt, dass Religiosität und Fruchtbarkeit überall auf der Welt deutlich korrelieren: Wer in Deutschland täglich betet, hat im Durchschnitt 2,06 Kinder, wer es nie tut nur 1,39. "Ein klarer Reproduktionsvorteil", sagt Blume, der nicht zuletzt deshalb annimmt, dass die Religion trotz aller naturalistischer Erklärung weiter bestehen und sich entwickeln wird. "Über die Jahrhunderte hält sich nur, was die Familien fördert."

Und natürlich könnten sich auch die möglicherweise kommenden Krisen der Gesellschaft und des Klimas auswirken. Nicht dass wir Verhältnisse zu erwarten hätten wie in der afrikanischen Prähistorie. Aber dennoch prognostiziert Blume: "Wenn alles in Frage gestellt ist, dann strömen die Menschen nicht in den philosophischen Salon, sondern gehen wieder in die Kirche."

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