Glaube:Der religiöse Urknall im Hirn

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"Wieso Religion?", widerspricht Voland. "Die mussten ihre Leichen schon aus Gründen der Hygiene und der Sicherheit begraben." Entscheiden ließe sich die Frage erst, wenn man genau wüsste, ob etwa die Stockrosen-Pollen in einem Neandertaler-Grab im iranischen Shanidar Grabbeigaben waren oder von Mäusen in die Höhle verschleppt wurden.

Andererseits ist es müßig, über genaue Zeitpunkte zu spekulieren. "Den religiösen Urknall im Gehirn gab es ohnehin nicht", sagt Blume. "Religiosität ist nach und nach entstanden." Das ist die Botschaft der neuen evolutionären Religionswissenschaft: "Religion ist ein Produkt der biokulturellen Evolution, sie hat biologische Grundlagen und kulturelle Ausprägungen", versichert Blume. "Man kann sie auch bei heute lebenden Menschen untersuchen."

Tatsächlich berufen sich Erforscher der Evolutionsgeschichte der Religion wie Rossano nicht nur auf Ausgrabungen in Steinzeithöhlen, sondern auch auf Daten, die Entwicklungspsychologen in Kindergärten des 21. Jahrhunderts erhoben haben. Diese belegen, dass Glauben nicht etwas ist, was man lernen muss, sondern ein natürliche Bestreben des Menschen - ein angeborener Gottesinstinkt sozusagen.

Kinder glauben an die unsterbliche Seele

Vor allem das Team um Jesse Bering von der Queen's University in Belfast zeigte in einer Reihe von Experimenten, dass kleine Kinder spontan die Existenz übernatürlicher Akteure vermuten und an eine unsterbliche Seele glauben. So spielten die Forscher den Kindern etwa ein Theaterstück vor, in dem ein Krokodil eine Stoffmaus verschlingt. In einer nachfolgenden Befragung meinten die kleinen Zuschauer zwar, dass das Tier wohl körperlich tot sein müsse, es weder sehen noch hören könne und sein Herz still stehe. Dennoch vermuteten die meisten von ihnen, dass die Maus Heimweh hat und sich nach ihrer Familie sehnt. Sie schrieben ihr also weiterhin mentale Aktivität zu.

In einem weiteren Experiment wurden Kinder scheinbar allein in einem Raum gelassen - tatsächlich aber von der Videokamera beobachtet -, wobei sie angehalten wurden, eine bereitstehende Schachtel nicht zu öffnen. Sie hielten sich eher an das Gebot, wenn ihnen erklärt wurde, dass eine "unsichtbare Prinzessin Alice" auf einem daneben stehenden Stuhl über die Schachtel wache.

Weitere Studien belegten, dass sogar erwachsene Studenten in Computertests seltener schummeln, wenn über ihre Monitore vermeintlich beobachtende Augen geklebt wurden, oder wenn man ihnen beiläufig erzählte, dass frühere Testteilnehmer von Begegnungen mit "dem Geist" eines verstorbenen Mitarbeiters berichtet hätten. Jüngere Kinder scheinen zudem konsequent teleologisch zu denken, sagt Voland: "Es gibt Wolken, damit es regnen kann, es regnet, damit Blumen gedeihen können; und es gibt Blumen, damit wir uns an ihnen erfreuen." Alles scheine vernünftiges Design zu sein, und die Welt werde finalistisch interpretiert. "Offensichtlich ist Frömmigkeit die Grundoption menschlicher Existenz", folgert Voland.

Vor allem die Zwillingsforschung hat mittlerweile bestätigt, dass die religiöse Disposition vermutlich auch eine komplexe genetische Verankerung hat und vererbt wird wie Musikalität oder Sprachfähigkeit, wobei Veranlagung und Umwelt etwa zu gleichen Teilen wirken. Menschen unterschieden sich deshalb in ihrer Religiosität ähnlich wie in ihren musischen Fähigkeiten; völlig unmusikalisch sei kaum jemand. Das sei auch der Grund, weshalb selbst "der letzte Skeptiker und Zyniker an Weihnachten" etwas empfinde, sagt Blume. Sogar im offenen Atheismus verberge sich manchmal die klammheimliche Sehnsucht nach Transzendenz: "Karl Marx hatte in der Sowjetunion Gottstatus."

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