Giftiger Weltkriegsschrott:Bomben am Meeresgrund

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Die Druckwellen von Unterwasser-Sprengungen sind schädlich, vor allem für Meeressäuger wie Schweinswale. (Foto: picture alliance / dpa)

In den Ozeanen liegen Millionen Tonnen Kriegsmunition - und werden bald durchrosten. Wie die Sprengstoffe auf die Umwelt wirken, ist ungewiss.

Von Andrea Hoferichter

Countdown auf einem Schlauchboot: "Three, two, one . . .", ein Knall zerreißt die Luft, ein paar hundert Meter entfernt schießt eine Wasserfontäne aus dem Meer. Die Bootsbesatzung jubelt und klatscht. Szenen dieser Art spielten sich vor Estlands Küste in den vergangenen Tagen mehrfach ab, im Rahmen der Munitionsräumung "Open Spirit 2018". Beteiligt waren 850 Soldaten aus elf Nationen, 19 Schiffe und eine Gruppe Minentaucher. Gesprengt wurden Minen, die in der Nähe von Schifffahrtswegen und in Naturschutzgebieten lagen. Sie waren von Rost zerfressen und drohten auseinander zu brechen.

Keine Frage, in den Weltmeeren muss dringend aufgeräumt werden. Seit mehr als 70 Jahren rosten hier Millionen Tonnen Kriegsmunition vor sich hin, vor allem aus den beiden Weltkriegen. Allein in Deutschlands Nord- und Ostsee liegen geschätzt 1,6 Millionen Tonnen. Dabei geht es nicht nur um Blindgänger und Gefechtsreste. Auf Anordnung der Alliierten wurden nach dem Krieg ganze Schiffsladungen voll Munition im Meer verklappt. Doch noch immer ist unklar, wo genau mit explosiven Altlasten zu rechnen ist - und was diese anrichten können, wenn die Korrosion fortschreitet. Das berichteten Forscher um Aaron Beck vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel kürzlich im Magazin Frontiers in Marine Science.

"Die Ungewissheit ist vor allem angesichts der Massen alarmierend", sagt Beck. Lange habe die Sorge vor allem chemischen Kampfstoffen wie Arsenverbindungen oder Senfgas gegolten. "Aber auch konventionelle Sprengstoffe enthalten gesundheitsschädliche Substanzen und es liegt etwa zehn bis 20 Mal so viel davon im Meer." Der explosive Kriegsschrott gefährdet den Schiffsverkehr, Fischer und Touristen, behindert den Bau von Windparks, Kabeltrassen und Gaspipelines. Und er ist eine Gefahr für die Umwelt. In den Zündern stecken Blei oder Quecksilber und der gängige Sprengstoff TNT (Trinitrotoluol) ist giftig sowie krebserregend.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die schützenden Stahlhüllen komplett weggerostet sind. "Schon in zehn, 20 Jahren könnte der Großteil der Sprengstoffe frei liegen und sich im Meerwasser lösen", warnt Beck. Erst kürzlich wies sein Team in einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt erstmals TNT-Spuren in Wasser und Sediment nach. Dazu hatten Taucher an den Munitionshalden der Kolberger Heide vor Kiel in verschiedenen Abständen und Höhen Wasserproben genommen. "Wir fanden praktisch überall TNT, wenn auch nur in sehr kleinen Konzentrationen von wenigen Nano- oder Mikrogramm pro Liter", berichtet der Chemiker.

Die Fische erkranken erstaunlich häufig an Leberkrebs. Eine Folge des TNT-Gehalts im Wasser?

Tatsächlich lösen sich Sprengstoffe wie TNT nur schlecht in Wasser. Ob das aber eine gute Nachricht ist, steht noch nicht fest. "Eine schlechte Löslichkeit bedeutet auch, dass das Gift lange vor Ort bleibt", sagt Thomas Lang vom Thünen-Institut für Fischereiökologie in Bremerhaven. Eine Dauerbelastung könnte sogar gravierendere Folgen haben als eine kurzzeitige hohe Dosis - und erklärt womöglich folgenden Befund: Die Thünen-Forscher fanden bei Plattfischen, sogenannten Klieschen, in der Kolberger Heide eine auffallend hohe Leberkrebsrate. "Rund 18 Prozent der Tiere waren betroffen. Üblicherweise sind es weniger als fünf Prozent", sagt Lang. Einen Beweis, dass tatsächlich die Sprengstoffe der Grund sind, gibt es bisher aber nicht.

Auch der Toxikologe Edmund Maser vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel sieht Anlass zur Sorge. Sein Team hatte kürzlich Körbe mit Miesmuscheln an zwei Stellen in der Ostsee versenkt und verankert, an einem verklappten Munitionshaufen und neben TNT-Brocken aus einer Minensprengung. Nach drei Monaten untersuchten die Wissenschaftler die Muscheln auf Sprengstoffspuren. Sie fanden TNT und Abbauprodukte in allen Muscheln, besonders viel allerdings an jenen neben dem freiliegenden Sprengstoff. "Die Muscheln enthielten bis zu 50 Mal so viel TNT und damit so viel, dass sie für den Verzehr wohl nicht geeignet wären", sagt Maser. Eine ähnliche Situation könnte auch an Munitionsaltlasten entstehen, wenn die Stahlhüllen irgendwann komplett zu Rost zerbröselt sind.

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Doch was soll mit den maroden Kriegsaltlasten gemacht werden? Bergen, sprengen oder liegen lassen? Im Rahmen eines EU-Projekts ist Langs Team an der Entwicklung eines Computerprogramms beteiligt, das bei der Entscheidung helfen soll. "Auf den ersten Blick ist die beste Lösung natürlich, die alte Munition aus dem Meer zu entfernen", sagt Lang. Droht eine rostzerfressene Mine aber bei der Bergung zu brechen oder zu explodieren, ist der Umweltschaden hinterher unter Umständen größer als vorher.

Sprengungen sieht der Meeresbiologe kritisch, auch wenn sie aus Sicherheitsgründen oft das Mittel der Wahl sind. Zwar entstehen dabei vor allem harmloser Kohlenstoff und Stickstoff. "Sprengstoffreste können aber durch die Explosion großflächig über den Meeresboden verteilt werden und die Umwelt belasten", so der Forscher. Außerdem seien die Druckwellen schädlich, vor allem für Meeressäuger wie Schweinswale. Die Wissenschaftler hoffen nun auf Roboter, wie sie zurzeit im vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt ROBEMM entwickelt werden und die Bergungen künftig erleichtern und sicherer machen könnten.

Beim Aufräumen helfen auch militärhistorische Kenntnisse. Uwe Wichert etwa, ehemaliger Kapitänleutnant und Berater des Expertenkreis "Munition im Meer" im Bund-Länder Ausschusses Nord- und Ostsee (BLANO), durchforstet Archive nach Informationen zu Ort und Art von Munition. Er entschlüsselt zum Teil mehr als hundert Jahre alte Dokumente, rekonstruiert Militärmanöver und ermittelt, was seither geschehen ist, ob es zum Beispiel weitere militärische Operationen gab oder bauliche Veränderungen, etwa an Häfen. Auch Meeresströmungen und Änderungen der Wasserqualität fließen in seine Bewertung ein.

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Gerade berät Wichert die estnische Marine in Tallin bei der aktuellen Minenräumung. Im Gepäck hat er Dokumente zu relevanten Gefechten und Luftangriffen, als Diskussionsgrundlage. "Wir sind im ständigen Austausch mit den Einsatzkräften auf See", sagt er. Dort scannen Schiffe mit Echomessungen, Kameras und Sensoren den Meeresboden. Jeder Stein wird dokumentiert. Verdächtige Funde werden von Unterwasserdrohnen und Minentauchern genauer untersucht. Dann fällt die Entscheidung, was damit geschehen soll.

Es gibt viel zu entscheiden: Schon in den ersten acht Tagen haben die Marinesoldaten mehr als 50 Minen gefunden, zudem Munitionsteile, einen Torpedo, eine Wasserbombe, eine Artilleriegranate und eine Reihe U-Boot-Jagdraketen. Einige Minen wurden verlagert, andere gesprengt. Ob eine Bergung und Entschärfung an Land geplant ist, war nicht zu erfahren.

© SZ vom 25.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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